Verwirrung in der Politik: Was heißt es, links zu sein?
Die politischen Begriffe in Deutschland sind durcheinander. Wo die Orientierung fehlt, hilft ein Dialog mit Sahra Wagenknecht und Juli Zeh. Es ist alles sehr einfach.
Was heißt es links zu sein? Diese Frage treibt die Linken traditionell weitaus mehr um, als die Rechte von der Frage "Was heißt rechts?" umgetrieben wird, oder besser: "Was heißt konservativ?" Weil "rechts" auch nur zu sagen, den Rechten offenbar schon selber eine einzige Peinlichkeit ist.
Oder: "Was heißt liberal" für die Anhänger der liberalen Parteien. Die Frage "Was ist grün?" haben sich die "Grünen" auch in 40 Jahren Parteiexistenz noch nicht gestellt, wie man manchen Aspekten der aktuellen Politik sehr wohl anmerkt.
Denn die "Grünen" wollen gleichzeitig links und konservativ sein, ein politischer Zwitter, der in Berlin-Mitte zum Lebensgefühl passen mag, aber in der realen Politik immer wieder zu massiven Verwerfungen führt – auch dafür gibt es diverse aktuelle Beispiele.
Aber zurück zum Thema: Was heißt es, links zu sein?
Wage es, es dir nicht leicht zu machen!
Eigentlich müsste die Antwort ganz einfach sein: Die Basis der modernen Linken sind seit ihrer Entstehung die Werte der Aufklärung; also: Wage zu wissen! Wage dich, deines eigenen Verstandes zu bedienen. Wage zu kritisieren. Wage, der Macht nichts zu glauben, der Kirche, den Königen, Thron und Altar. Wage aber auch, die Masse und die Mehrheit nicht mit der Wahrheit zu verwechseln.
Insbesondere aber bedeutet Links-sein in diesem Zusammenhang Selbstkritik: Wage, dich selbst infrage zu stellen! Wage, deine alten Gewissheiten über Bord zu werfen. Wage es dir nicht leicht zu machen! Wage, deine eigenen Filterblasen zum Platzen zu bringen. Wage, deine Freunde vor den Kopf zu stoßen, wage deine Feinde zu umarmen.
Links-sein ist also schwieriger, als rechts, liberal oder unpolitisch zu sein.
Links-sein bedeutet, absolute Wahrheitsansprüche abzulehnen
Links-sein bedeutet absolute Wahrheitsansprüche abzulehnen, skeptisch und kritisch zu bleiben gegenüber allem, insbesondere aber gegenüber der Macht.
Links-sein bedeutet, die Macht zu benennen und zu markieren, also zum Beispiel auch klarzumachen, wo gesellschaftliche Gruppen, die keine Posten innehaben und Institutionen besetzen, trotzdem Macht haben, die vielleicht sogar größer ist, als die der Postenhinhaber und Institutionen. Also zum Beispiel Lobbygruppen.
Lobbys sind extrem mächtig, und sie sind zudem klandestin, nicht öffentlich rechenschaftspflichtig und kontrolliert. Links-sein bedeutet also, hier Rechenschaft einzufordern und zu kontrollieren.
Auch die Letzte Generation und Fridays for Future, auch Greenpeace und der Bund sind Lobbys
Links-sein bedeutet dabei auch besonders diejenigen, die scheinbar wohlwollend sind, und diejenigen, die sich ganz schwach und ohnmächtig geben und die vorspiegeln, die Anwälte der Entrechteten, der Erniedrigten und Beleidigten zu sein, es bedeutet, die Heuchler, Pfaffen und Sansculotten zu entlarven, Selbstgerechtigkeit anzuklagen.
Links-sein bedeutet also, bei den Volkstribunen und Menschenfreunden, den selbsternannten Gutmenschen ganz genau hinzuschauen. Auch die Letzte Generation und Fridays for Future, auch Greenpeace und der Bund Naturschutz sind Lobbys, nicht nur der BDI und der ADAC. Auch die Kirchen und Enercon sind Konzerne, nicht nur Volkswagen und Nestlé.
Links-sein bedeutet gerade beim Nichtoffensichtlichen genau und nicht nachsichtig zu sein.
Links-sein heißt, Täter zu benennen und den Rechtsstaat zu verteidigen, ihn gerade auch da zu verteidigen, wo es unbequem wird.
Links-sein heißt, sich auf die Seite der Dissidenten zu schlagen
Links-sein bedeutet, die Werte Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit nicht gegeneinander auszuspielen, sondern sie gleichermaßen zu vertreten und in einer Balance zu halten.
Links-sein heißt, sich auf die Seite der Dissidenten zu schlagen, verlorene Positionen zu vertreten und zumindest ihre Möglichkeit zu verteidigen. Links-sein heißt zuzuhören und alle sprechen zu lassen.
Links-sein ist, dabei wohlwollend und nicht scholastisch zu argumentieren, das heißt in den heutigen Sprachdebatten nicht einen falsch formulierten Satz zum Problem zu machen, sondern über Intentionen zu sprechen und Intentionen auch frei zuzulassen.
Links-sein heißt Solidarität mit den Schwachen. Es heißt Kampf gegen den Neoliberalismus, gerade da, wo er das Alltagsleben mit seinem Optimierungs- und Rationalisierungs- und Deregulierungswahn zerstört. Links-sein heißt für bezahlbare Wohnungen, bezahlbare Gesundheitsversorgung und Arbeit für alle einzutreten.
Links-sein heißt den Mut zu haben. Linke sind Freibeuter und Contrarians, Artisten ohne Netz und Rentenversicherung.
Links-sein heißt, die freie klassische Öffentlichkeit zu verteidigen, die offene Gesellschaft zu bewahren und auf Werte und Verantwortung statt auf Moral und Polemik zu setzen.
Gegen Identitätspolitik, Moralismus und Tendenzen zur Meinungsdiktatur im linken Lager
Eigentlich müsste es also, wie gesagt, ganz einfach sein. Ist es aber nicht. Das zeigt ein Gespräch zwischen der Schriftstellerin Juli Zeh und der "Linke"-Politikerin Sahra Wagenknecht, das jetzt für die neueste Ausgabe des Philosophie Magazin geführt wurde.
Beide gelten als Störenfriede im woken linken Lager. Dessen harmonieseslige und moralisierende Mehrheit wirft ihnen gerne vor, sogenannte "rechte Positionen" zu stärken. Beide kritisierten die Corona-Maßnahmen der Regierung, beide sind gegen bedingungs- und grenzenlose Waffenlieferungen an die Ukraine und für Waffenstillstandsverhandlungen.
Beiden halten die Identitätspolitik breiter Kreise der Linken für verkappten Neokonservativismus. Ihnen geht der Moralismus, die Cancel-Lust und Tendenzen zur Meinungsdiktatur im linken Lager auf die Nerven.
Das sind schon mal Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Frauen.
Die klassischen Themen
Wagenknecht kommt als Erste dran:
Für mich geht es um die klassischen Themen soziale Gerechtigkeit und Frieden. Links-sein heißt für mich, zu verhindern, dass einige absahnen und andere ausgebeutet werden, und außenpolitische Konflikte nicht mit Waffen, sondern mit Diplomatie zu lösen.
Auch die Schriftstellerin Juli Zeh stimmt hier zu:
Ich sehe das Hauptanliegen bei sozialer Gerechtigkeit. Mein Eindruck ist, dass wir bestimmte Anliegen aus dem Blick verloren haben. Zum Beispiel gut ausgestattete öffentliche Schulen, ein funktionierendes Schienennetz, öffentlicher Nahverkehr, Infrastruktur auch auf dem Land, ein gutes Gesundheitssystem.
All das ist Voraussetzung für eine gerechte Gesellschaft ... nun müssen wir der Tatsache ins Gesicht sehen, dass wir im Begriff stehen, soziale Errungenschaften verkommen zu lassen. ... Es gibt eine wachsende Gruppe im Land, die das Gefühl hat, dass sie von der Politik nicht mehr adressiert wird.
Die Linken also als neue Heimatschutzpartei?
Im weiteren Verlauf des Gesprächs adressiert Wagenknecht "das allgemeine kulturelle Unbehagen", das bis in die Mittelschicht hineingehe, ein "Gefühl von kulturellem Heimatverlust."
Mag sein, aber stellt sich Wagenknecht die Linken also als neue Heimatschutzpartei vor?
Juli Zeh spricht angesprochen auf die Diskursverengung in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit: "Es ist kein tauglicher Reflex, dem anderen die Sprachberechtigung zu entziehen, indem man sagt, bei der Aussage klatschen die Falschen."
Sie verteidigt die Kritik an den Pandemiemaßnahmen. "Man musste sich diskursiv zwischen Extremen gegenseitigen Vorwürfen entscheiden: 'ihr wollt eine Gesundheitsdiktatur' versus 'ihr wollt Menschen einfach sterben lassen." Wie soll man sich da argumentativ wiederfinden?
Abspaltung führt zu einer immer größeren Zersplitterung des Spektrums
Über Freiheit wird in diesem Gespräch nicht gesprochen. Sahra Wagenknecht erklärt, die Linke habe sich von ihrem Gründungskonsens entfernt und behauptet, wenn die Partei noch so aufgestellt wäre wie 2007 läge die AFD nicht bei 15 Prozent. Um Freiheit geht es da nicht.
Schon eher bei Juli Zeh. An die SPD hat ihr Parteimitglied Zeh einen deutlichen Rat:
Ich wünsche mir, dass die Partei ... sich wieder stärker auf ihre eigentlichen Grundlagen und Ziele besinnt. Politik funktioniert vor allem in großen Interessensgemeinschaften.
Das heißt, man muss versuchen, Gemeinsamkeiten zu finden, um ein Anliegen zu erreichen. Abspaltung führt zu einer immer größeren Zersplitterung des Spektrums, und es wird schwerer, überhaupt noch Mehrheiten zu bilden und Koalitionen zu schmieden.
Wir sollten lieber wieder zusammenfinden hinter dem großen Ziel, was wir als Linke eigentlich teilen: einen konstruktiv-visionären Blick auf die Zukunft zu richten, in der ein gleiches Maß an Wohlfahrt und politischer Freiheit für alle Menschen möglichst weitgehend verwirklicht werden soll.
Juli Zeh
Wie gesagt: Eigentlich ist alles ganz einfach.