Verzicht und Durchhalteparolen: Wenn Spitzenpolitiker "Wir" sagen
Bundespräsident Steinmeier und die Ampel-Parteien wollen zwar keine klassenlose Gesellschaft, tun aber manchmal gern so, als gäbe es sie
Wenn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) "wir" sagt und von Verzicht redet, scheint er von einer klassenlosen, basisdemokratischen Gesellschaft zu reden, in der alle gleich große Spielräume und gleich viel Gestaltungsmacht haben. Zumindest in Deutschland. So etwa am Mittwoch in einer Rede zur Eröffnung des Deutschen Katholikentages in Stuttgart:
Viele von Ihnen werden sich jetzt fragen, ob unsere Kräfte ausreichen, um überall dort zu helfen, wo es nötig ist, und so viel zu helfen, wie es nötig ist. Aber wenn wir solidarisch sein wollen mit den Schwächsten der Welt, wenn wir wirklich etwas tun wollen gegen die Hungerkatastrophe und das Leid, dann müssen wir auch über uns nachdenken: über unseren Anteil an der weltweiten Klimakrise, über unseren Lebensstil und unsere Verantwortung für die Welt. Dann werden wir anders leben, anders wirtschaften und ja, auch auf manches verzichten müssen.
Frank-Walter Steinmeier
Beim Stichwort "Wirtschaften" könnte es interessant werden: Denkt er dabei auch an Großkonzerne, denen die Politik mehr Regeln auferlegen könnte, oder doch nur an Privathaushalte, die irgendwie mit der Inflation klarkommen und vielleicht trotzdem noch im Bioladen einkaufen sollen? – Das bleibt Steinmeiers Geheimnis. Eine besondere Verantwortung von Entscheidungsträgern, von Menschen mit politischer und ökonomischer Macht, kommt hier nicht vor.
Beim individuellen Konsum zeigen Studien des Umweltbundesamts, dass Besserverdienende in der Regel den schlimmeren "ökologischen Fußabdruck" haben. Was für sie "Verzicht" wäre, ist für andere schon das normale Leben.
"Wir sind die Guten"
Darauf näher einzugehen, verbietet dem Bundespräsidenten wohl der Zusammenhalt, den er mit Reden wie dieser beschwören will. Reale Macht- und Eigentumsverhältnisse werden damit verschleiert, was im Zweiten Weltkrieg Sinn des Redens von der deutschen "Volksgemeinschaft" war – nur dass dies aus der Mode gekommen ist, denn "wir" sind ja jetzt die Guten und so gründlich geläutert, dass viele von uns es kaum erwarten konnten, die Wiedergänger der Nazis in Russland zu verorten.
Steinmeier erhält nach Angaben des Bundespräsidialamts in diesem Jahr Amtsbezüge in Höhe von rund 258.000 Euro. Wenn da bei Normal- und Geringverdienenden ein "Wir"-Gefühl aufkommen soll, braucht es in Zeiten hoher Teuerungsraten auch wirklich dringend ein "Wir sind die Guten"-Gefühl. Wer trotzdem meint, materiell am Limit zu sein, soll sich moralisch schlecht fühlen.
Darauf setzte auch Steinmeiers Amtsvorgänger Joachim Gauck (parteilos), als er im März Zusammenhang mit steigenden Energiepreisen durch Sanktionen gegen Russland verlauten ließ:
Wir können auch einmal frieren für die Freiheit und wir können auch einmal ein paar Jahre ertragen, dass wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben.
Joachim Gauck
Im Fall von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) war es nicht ganz so eindeutig. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos sprach er sich zunächst dafür aus, die durch Klimawandel und Ukraine-Krieg befeuerte Nahrungsmittelkrise durch mehr internationale Zusammenarbeit fair und solidarisch zu lösen. Dazu sei eine neue globale Handelsordnung nötig.
Eine sinnvolle, wenn auch nicht sehr konkrete Forderung, mit der Habeck bei Linken und der Klimagerechtigkeitsbewegung offene Türen einrennen dürfte. Allerdings sagte er auch einen Satz mit dem Wörtchen "wir", in dem es um Verzicht ging:
Und wir sind natürlich auch gehalten, um unseren eigenen, manchmal etwas überschwänglichen Verbrauch von Lebensmitteln zu reduzieren.
Robert Habeck
Sollen "wir" nun weniger essen – oder nur darauf achten, weniger Lebensmittel wegzuwerfen? – Dagegen wäre nichts zu sagen. Allerdings lassen wirksame politische Stellschrauben gegen Lebensmittelverschwendung auf sich warten.
Mit Aktionen des zivilen Ungehorsams fordert die Gruppe "Aufstand der letzten Generation" seit Monaten ein deutsches "Essen-retten-Gesetz" nach französischem Vorbild, das großen Supermärkten verbietet, noch genießbare Lebensmittel wegzuwerfen. Stattdessen sollen sie an Bedürftige verteilt werden – als soziale Klimaschutzmaßnahme ohne Finanzierungsproblem.
Wenn andere für "unseren" gerechten Frieden sterben
Das Ampel-Kabinett hat es mit solchen Maßnahmen aber offensichtlich nicht eilig, auch wenn sich Agrarminister Cem Özdemir (Grüne) grundsätzlich dafür offen gezeigt und lediglich Straßenblockaden als Mittel zur Durchsetzung kritisiert hat.
Mehr Aufmerksamkeit bekommen zurzeit seine Parteifreunde Robert Habeck und Annalena Baerbock – die Bundesaußenministerin nutzt auch gerne mal das Wörtchen "wir". Neulich etwa, um vor einer gewissen Kriegsmüdigkeit in westlichen Staaten zu warnen. "Wir haben einen Moment der Fatigue erreicht", sagte Baerbock nach Abschluss des Ostseerats in Kristiansand mit Blick auf den Krieg in der Ukraine, in deren Namen sie einen russischen "Diktatfrieden" ablehnt. Für einen aus ihrer Sicht gerechten Frieden sterben aktuell aber andere.