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Viele Tote bei Fluchtboot-Tragödie: Wären sie Ukrainer, würden sie noch leben

Griechische Medien berichten fast nur noch über das Schiffsunglück. Bild: Screenshot griechische Medien

Ein Boot kentert mit Hunderten Fliehenden an Bord. Wie viele überlebt haben, ist noch unklar. Währenddessen wird der Zugang zur EU weiter erschwert – jedoch nicht für alle. Warum Griechenland so entscheidend ist.

Bei einem Bootsunglück 47 Seemeilen südwestlich vor der griechischen Hafenstadt Pylos auf dem Peloponnes ertranken in internationalen Gewässern mindestens 79 Fliehende. 104 Personen, die auf dem schiffbrüchigen Fischtrawler unterwegs waren, konnten gerettet werden [1].

Die offenbar menschenverachtenden Schleuser hatten im komplett überladenen Boot rund 750 Menschen auf engstem Raum eingepfercht [2]. Es gab keine Rettungswesten. Frauen, Kinder und Ältere wurden im Schiffsrumpf und auch im Maschinenraum untergebracht. Es sollen sich nach Angaben von Überlebenden mehr als 100 Kinder an Bord befunden haben. Gerettet wurden nur Männer und Jugendliche im Alter von 15 bis 49 Jahren.

Der Trawler war bereits zwei Tage auf dem Weg von Libyen nach Italien. Hilfsangebote von griechischer Seite wurden vor der Havarie von den Schleusern abgelehnt. Sie hätten bedeutet, dass die Geflüchteten in Griechenland festgesetzt worden wären.

Das Schiff hatte von Tobruk in Libyen, aus dem vom Warlord Chalifa Haftar kontrollierten Gebiet abgelegt. Er wurde bereits frühzeitig von der Frontex erfasst und fotografiert. Es werden erheblich mehr Tote befürchtet.

Eine Bergung des Trawlers, der rund um den tiefsten Punkt des Mittelmeers (5000 m) sank, ist nicht möglich. Das Boot kenterte nach einem Ausfall der Maschinen und einer Panik an Bord. Es sank binnen 15 Minuten.

Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou reiste noch am Mittwoch an den Unglücksort. Politiker aller Parteien sagten ihre Wahlkampfauftritte ab und begaben sich an den Unglücksort. Die Interimsregierung ordnete eine dreitägige Staatstrauer an. Konzerte, das Endspiel um die Meisterschaft im Basketball und wahrscheinlich auch die Fernsehdebatte der Parteivorsitzenden wurden abgesagt.

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind in der Region von Januar bis Dezember 2022 knapp 3800 Migranten umgekommen [3]. Die tatsächliche Zahl der Todesfälle liege wahrscheinlich weit darüber. Seit 2014 seien, so der UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk, über 26.000 Menschen [4] bei der Überquerung des Mittelmeers ums Leben gekommen oder verschollen.

Mit Sicherheit ebenfalls eine deutliche Unterschätzung des wahren Dramas. Das gut recherchierende Projekt "Migrant Files" geht davon aus, dass von 2004 bis 2019 bis zu 80.000 Flüchtende allein im Meer gestorben [5] sind – dazu käme noch einmal mindestens die gleiche Opferzahl in Folge von Verdursten, Verhungern und Ermordungen.

Die Flucht nach Europa ist für Geflüchtete aus anderen Staaten lebensgefährlich – außer für diejenigen, die aus der Ukraine fliehen. Für Ukrainer hat Griechenland wie andere EU-Mitgliedsstaaten ein vereinfachtes Verfahren eingeführt.

Die Kriegsflüchtlinge können problemlos per Flugzeug oder mit dem Schiff über die Landesgrenzen einreisen [6]. Sie erhalten umgehend sämtliche Sozialhilfen, die auf der Seite des Einwanderungsministeriums in mehrsprachiger Form präsentiert werden.

Die erneute Schiffstragödie von Flüchtenden im Mittelmeer vor der Küste Griechenlands findet statt vor dem Hintergrund des jüngst vereinbarten Asylkompromisses [7] der EU. Der Kompromiss, eine Verschärfung der Verfahren, hat bei den bisher Regierenden in Griechenland ein Gefühl der Genugtuung und des Triumphs ausgelöst.

Die gegenüber Geflüchteten äußerst restriktive Regierung von Kyriakos Mitsotakis sieht sich bestätigt. Zustimmung kommt auch von der Interimsregierung, die nach der gescheiterten Regierungsbildung nach den Wahlen vom 21. Mai das Land bis zu den Wahlen am 25. Juni verwaltet. Die griechische Zeitung Parapolitika spricht [8] von einem "Sieg für Griechenland".

Jubel für die Hardliner

Die Reaktion auf den Kompromiss aus Griechenland dürfte das Glaubwürdigkeitsproblem der Grünen und der SPD in Deutschland bezüglich des von ihnen propagierten Schutzes der Menschenrechte weiter verstärken. Der Immigrationsminister von Mitsotakis, Notis Mitarakis, feiert [9]: "Die Einigung über den neuen Migrationspakt ist wichtig für die Inselbewohner und eine Rechtfertigung für Griechenland!".

Der Kompromiss nützt seiner Partei, die eine massive Erweiterung des Grenzzauns an der Landesgrenze in Angriff nahm und dafür von der Opposition im Wahlkampf kritisiert wurde.

Von Anfang an setzte sich die Nea Demokratia zwei grundlegende und messbare Ziele für die Steuerung der Einwanderung: Die erhebliche Reduzierung der Zuwanderungsströme und die drastische Begrenzung der Auswirkungen der Einwanderungskrise auf die lokalen Gemeinschaften. Beides ist ihr gelungen,

… jubelt Mitarakis, der noch im Mai wegen mutmaßlich illegaler Pushbacks an der griechischen Seegrenze am Pranger stand [10]. Mitarakis wirft den Kritikern der "Festung Europa" Populismus vor.

Die Position der Nea Demokratia zum Schutz nationaler und europäischer Grenzen bleibt stabil. Es ist unsere Verpflichtung, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, die Einwanderung unter Kontrolle zu bringen, die Taten der Syriza-Regierung hinter uns zu lassen und mit Projekten auf den Populismus der Pasok zu reagieren.

Die Regierung Mitsotakis setze bereits im Wahlkampf 2019 das Narrativ von sicheren Außengrenzen und einer Law-and-Order-Politik ein. Sie löste im Mai durch ihre Weigerung zu einer Koalitionsregierung die erneuten Wahlen aus und strebt am 25. Juni mit dem dann geltenden Bonuswahlsystem, das der stimmenstärksten Partei Extrasitze im Parlament beschert, nach einer satten Regierungsmehrheit.

Abgeschottete, gefängnisähnliche Lager statt Moria

Mitsotakis griff den Kompromiss am vergangenen Wochenende bei seiner Wahlkampftour auf der Inselgruppe in der Ägäis, den Dodekanes, auf. "Die Politik, die Grenzen unseres Landes zu schützen, wird ohne Abstriche fortgesetzt", versprach er den Insulanern [11]. Die Abschottung der EU setzt er als eine seiner Erfolgsgeschichten offensiv ein.

Während Mitsotakis Regierungszeit wurden auf den griechischen Grenzinseln gefängnisähnliche Lager eingerichtet. Elendslager wie das 2020 abgebrannte Moria auf Lesbos, über die Omid Nouripour, Co-Vorsitzender Bündnis 90/Die Grünen, in der ARD philosophierte [12], gehören der Vergangenheit an.

Statt Moria gibt es auf Lesbos das mit EU-Mitteln geförderte Containerlager [13] auf dem ehemaligen Militärübungsgelände Kara Tepe. In solchen Lagern leben die Geflüchteten von den übrigen Inselbewohnern abgeschirmt.

Auch die Hilfsorganisationen, die versuchen Push-Backs zu dokumentieren und die Wahrung der Menschenrechte zu überwachen, sehen sich einem verstärkten Druck seitens der Regierung ausgesetzt. Viele von ihnen kommen mit dem restriktiven, von der Regierung Mitsotakis auferlegtem Regelwerk nicht klar und verstoßen gegen einzelne Bestimmungen.

Der oberste Finanzstaatsanwalt in Athen, Charalambos Vourliotis, ermittelt aktuell [14] gegen vierzig der hundert in Griechenland zugelassenen NGOs. Einer der prominentesten griechischen Menschenrechtler, Panayiote Dimitras, sieht sich dem Vorwurf der "Geldwäsche" ausgesetzt, weil er nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Spendengelder nicht im gesetzlichen Rahmen ausgegeben haben soll.

Dimitras‘ Vermögen wurde beschlagnahmt [15]. Zudem soll Dimitras "Immigranten das Eindringen ins Land erleichtert haben", ein Vorwurf, der gemäß den geltenden Gesetzen all jene trifft, die Geflüchteten in irgendeiner Art und Weise Hilfe leisten.

Ebenso wie Dimitras, dem zahlreiche Menschenrechtler aus dem In- und Ausland solidarisch zur Seite stehen, sieht sich auch Tommy Olsen von Aegean Boat Report gleichen Anklagen ausgesetzt [16]. Beide hatten Pushbacks dokumentiert und vermuten, dass die Anklagen einschüchternd wirken sollen.

Das Schicksal unbegleiteter behinderter Minderjähriger

Bundesinnenministerin Nancy Faeser verteidigt ihre Zustimmung zum Kompromiss mit dem Argument, sie habe Schlimmeres verhindert [17]. Tatsächlich gibt es auch nach dem Kompromiss Schicksale, die mit dem bisher gültigen Konsens zu Menschenrechten kaum vereinbar sind.

Minderjährige Geflüchtete mit Behinderung oder psychischer Krankheit verlieren in Griechenland wegen einer Gesetzeslücke am Tag ihres 18. Geburtstags jeglichen Schutz. Sie sind dann auf sich allein gestellt [18].


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.efsyn.gr/ellada/dikaiomata/393686_se-tragodia-exelissetai-nayagio-sta-anoihta-tis-pyloy-toylahiston-59
[2] https://www.protothema.gr/greece/article/1381737/tragodia-anoihta-tis-pulou-17-nekroi-metanastes-sto-nauagio-alieutikou-stous-104-oi-diasothedes/
[3] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/mittelmeer-migranten-gerettet-100.html
[4] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/weber-eu-migration-101.html
[5] https://www.jstor.org/stable/26419105
[6] https://migration.gov.gr/en/ukraine/
[7] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-06/eu-asylreform-annalena-baerbock-asylentscheidung
[8] https://www.parapolitika.gr/politiki/article/1281153/elliniki-niki-to-metanasteutiko-ta-nea-dedomena-meta-tin-sunedriasi-sto-louxemvourgo/
[9] https://www.parapolitika.gr/politiki/article/1280937/mitarakis-simadiki-gia-tous-nisiotes-kai-dikaiosi-tis-elladas-i-sumfonia-gia-to-neo-sumfono-metanasteusis/
[10] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/pushbacks-griechenland-fluechtlinge-100.html
[11] https://www.parapolitika.gr/politiki/article/1281288/ekloges-2023-mitsotakis-dodekanisa-minumata-fulaxi-sunoron-anamorfosi-esu-i-ekklisia-enonei-leei-nd/
[12] https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/morgenmagazin/berichte-und-interviews/Omid-Nouripour-Asylpolitik-100.html
[13] https://migration.gov.gr/ris/perifereiakes-monades/kyt-domes/k-y-t-lesvoy/
[14] https://www.protothema.gr/greece/article/1380759/ekthesi-vourlioti-dekades-mko-xeplenoun-mauro-hrima-meso-offshore/
[15] https://www.lifo.gr/now/greece/panagiotis-dimitras-desmeyontai-oi-logariasmoi-toy-kai-ton-mko-poy-einai-epikefalis
[16] https://aegeanboatreport.com/author/aegeanboatreport1/
[17] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/asylrecht-eu-einigung-faeser-100.html
[18] https://www.efsyn.gr/ellada/dikaiomata/393277_kamia-frontida-gia-anapiroys-asynodeytoys-prosfyges