Vier Mädchen tot: Türkei bombardierte UN-Bildungszentrum in Nordsyrien
Nach dem Drohnenangriff fordert die Selbstverwaltung eine Flugverbotszone. Erdogans Kriegskurs könnte mit schlechten Umfrageergebnissen zu tun haben.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat weder von Russland oder dem Iran noch von den USA grünes Licht für einen weiteren völkerrechtswidrigen Einmarsch in Nordsyrien bekommen. Nun scheint sich das türkische Militär darauf zu konzentrieren, durch massive Drohnen- und Artillerieangriffe auf bewohnte Gebiete in Nordsyrien die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und zu zermürben.
Selbst UN-Einrichtungen sind nicht mehr sicher, wie der tödliche Drohnenangriff am auf ein Bildungszentrum für Mädchen am Donnerstag zeigt. Die Selbstverwaltung fordert Russland und die USA auf, eine "No fly zone" für die Türkei einzurichten, um die Bevölkerung zu schützen. Vor dem UN-Hauptquartier in Qamishlo und der russischen Militärbase in Amude forderten Demonstranten ebenfalls eine Flugverbotszone.
Bislang trifft die Forderung auf taube Ohren. Dies wirft die Frage auf, wie ernst es Russland und die USA eigentlich mit einem "No" für eine erneute türkische Invasion meinen. Ferhad Şami, Pressesprecher der SDF berichtete, dass die Türkei seit zwei Wochen ihre Patrouillen mit den Russen eingestellt habe. Russlands Schweigen zu den Angriffen ermutige die türkische Regierung. In der Region leben mehrere Millionen Menschen unterschiedlicher ethnischer und religiöser Herkunft friedlich zusammen.
Sie einen die Freiheiten, die sie genießen: Gleichberechtigung der Frauen, Verbot von Kinderheirat und Zwangsverheiratung, die prozentuale Besetzung der Verwaltung analog zur Bevölkerungsstruktur, das Recht auf Muttersprache und Bildungsangebote für alle. Das war nicht immer so. Zu Assads Zeiten durfte die kurdische Sprache nicht gesprochen und gelehrt werden, nicht mal Bäume durften gepflanzt werden, weil das Assad-Regime die ‚Kornkammer Syriens‘ mit Monokulturen maximal ausbeuten wollte.
Die Journalistin Linda Peikert, die sich in den letzten Wochen in der Region aufhielt, berichtet im Deutschlandfunk über die Stimmung in der Region. Die Bevölkerung der Großstadt Kobane ist aufgebracht wegen der ständigen türkischen Angriffe. Zuletzt trafen die Bombardements auch das Stadtzentrum, das nach der Zerstörung durch den IS mühsam wieder aufgebaut wurde.
Ein Geschäftsmann sagt im Interview, die Bevölkerung sei bereit, ihr Land und ihre Kultur zu verteidigen. Vor allem die Frauen, die im Gebiet der Selbstverwaltung auf allen Ebenen gleiche Rechte haben und in allen Führungspositionen in einer Doppelspitze vertreten sind, sind nicht mehr bereit, ihre Errungenschaften aufzugeben.
Derzeit gibt es täglich türkische Angriffe auf die Region der Selbstverwaltung, ungeachtet der Warnungen von Russland, Iran, USA und Deutschland, dass dies die Reorganisation des Islamischen Staates (IS) fördern würde. Auch Bedran Çiya Kurd, stellvertretender Ko-Vorsitzender der Selbstverwaltung von Nordostsyrien, befürchtet ein Erstarken der Islamisten: "Die türkischen Angriffe untergraben die Bemühungen der internationalen Anti-IS-Koalition und geben dem IS die Möglichkeit, wieder zu erstarken".
Wenn das Militär der Selbstverwaltung, die Syrian Democratic Forces (SDF), sich auf die Abwehr der türkischen Angriffe konzentrieren muss, entsteht ein Sicherheitsvakuum, das der IS zur Reorganisation nutzen wird.
Eine unvollständige Chronik der türkischen Angriffe 2022
Seit Januar 2022 gab es bis zum 13. August mindestens 3763 türkische Angriffe auf das Gebiet der Selbstverwaltung. Dabei wurden 33 Menschen getötet und 124 Menschen verletzt. Mit 1.420 Angriffen, 23 Toten und 57 Verletzten seit Juni zeigt sich, dass die Türkei ihre Angriffe intensiviert hat, um die Bevölkerung zu demoralisieren. Die kurdische Nachrichtenagentur ANF veröffentlichte eine Statistik der Angriffe seit Beginn des Jahres:
Januar: 387 Angriffe, 25 Verletzte, 80 Überflüge von Aufklärungsdrohnen und fünf Überflüge von Kampfflugzeugen.
Februar: 432 Angriffe, zwei Tote, 16 Verwundete, 119 Überflüge von Aufklärungsdrohnen, sieben Überflüge von Kampfflugzeugen.
März: 288 Angriffe, zehn Verletzte, 123 Überflüge von Aufklärungsdrohnen und 20 Überflüge von Kampfflugzeugen.
April: 529 Angriffe, vier Tote, neun Verwundete, 177 Überflüge von Aufklärungsdrohnen und 20 Überflüge von Kampfflugzeugen.
Mai: 711 Angriffe, zwei Tote, sieben Verwundete, 222 Überflüge von Aufklärungsdrohnen und 22 Überflüge von Kampfflugzeugen.
Juni: 451 Angriffe, drei Tote, zwölf Verwundete, 315 Überflüge von Aufklärungsdrohnen und 43 Überflüge von Kampfflugzeugen.
Juli: 363 Angriffe, sieben Tote, 25 Verwundete, zusätzlich 401 Überflüge von Aufklärungsdrohnen und 13 Überflüge von Kampfflugzeugen.
Im August zählte die Selbstverwaltung bis zum 13. des Monats mehr als 600 Angriffe, 15 Tote und 20 Verwundete.
Die Angaben basieren auf den veröffentlichten Zahlen der Selbstverwaltung, die nicht verifizierbar sind, da nur wenig internationale Presse in der Region vertreten ist. Berichte lokaler Medien der Region über die Angriffe deuten jedoch darauf hin, dass sie realistisch sind.
So wurde im Zentrum von Kobane ein vierzehnjähriger Jugendlicher bei einem Drohnenangriff getötet, zwei Erwachsene und ein zweijähriges Kind wurden verletzt. Ein Arzt aus einem Krankenhaus in Kobane berichtete, er habe den verletzten Vierzehnjährigen nicht mehr retten können, bei einem Mann musste er beide Hände amputieren und bei einer Frau musste er eine offene Fraktur behandeln.
Drohnenangriff auf UN-Bildungszentrum für Mädchen
Am 18. August griff die Türkei zwischen Hasakah und Til Temir im Nordosten ein Ausbildungszentrum für Mädchen an. Das Zentrum war mit UN-Mitteln aufgebaut und gefördert worden. Es handelt sich um ein Ausbildungszentrum für Mädchen, die sich den Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) anschließen wollten, aber noch nicht 18 Jahre alt und damit zu jung waren. Das Ausbildungszentrum war Teil des "United Nations Action Plan to end and prevent the recruitment of children".
Die ersten 55 Schülerinnen hatten am 19. Januar 2022 erfolgreich ihre zivilen Ausbildungen abgeschlossen. Die Mädchen waren am Donnerstag im Hof und spielten Volleyball, als eine türkische Drohne das Zentrum angriff. Dabei wurden vier Mädchen getötet und elf verletzt. Die Namen der Toten veröffentlichte am Samstag die kurdische Nachrichtenagentur ANF: Ranya Eta, Diyana Elo, Dîlan Izedîn und Zozan Zêdan.
John Brennan, Commander der CJTF-OIR (Combined Joint Task Force – Operation Inherend Resove) bestätigte und verurteilte den Angriff, ohne jedoch die Türkei beim Namen zu nennen: "Such acts are contrary to the laws of armed conflict, which require the protection of civilians. (…) The increase of military hostilities in northern Syrie is creating chaos in a fragile region where the threat of ISIS remains present."
Das Zentrum befindet sich 2 km von einem Stützpunkt der von den USA angeführten internationalen Anti-IS-Allianz entfernt. Die Selbstverwaltung forderte die US-geführte globale Anti-IS-Koalition, alle verantwortlichen Organisationen und die UN auf, eine eindeutige Haltung zu zeigen und der Türkei Einhalt zu gebieten.
Angriffe der Türkei werden entlang des 900 Kilometer langen Grenzgebietes vom Nordwesten bis in den Nordosten bei Amude, Hasakah und im christlichen Siedlungsgebiet des Khaburtals gemeldet. Auch aus dem Kanton Şehba im Nordwesten meldeten lokale Quellen Artillerieangriffe. Der Kanton beherbergt tausende Geflüchtete aus dem 2018 besetzten Kanton Afrin.
Zuletzt konzentrierten sich die Angriffe auf das Dorf Bênê, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft sich das Şehba-Camp befindet, in dem mehrere tausend Vertriebene aus Afrin leben. Immer wieder werden auch christliche Einheiten des Militärs der Selbstverwaltung, christliche Dörfer und Kirchen angegriffen, berichtet das Rojava Information Center (RIC).
Zusätzlich zu den militärischen Angriffen übt die Türkei Psychoterror aus: In den zu Syrien angrenzenden Regionen der Türkei entlang der Grenzmauer dokumentierten Videoaufnahmen Lautsprecheransagen von türkischem Territorium aus (auch aus Moscheen), dass die Türkei ihre Militäroperation begonnen habe.
Zu den Drohnenangriffen und dem Psychoterror kommt noch der Umweltkrieg, den die Türkei am Euphrat gegen Nordsyrien führt: "Seit einem Abkommen von 1987 müsste die Türkei mindestens 500 Kubikmeter Wasser pro Sekunde nach Syrien und in den Irak durchlassen. Doch seit die Selbstverwaltung in Nordsyrien besteht, wurde die Durchflussmenge verringert", sagt Walat Darwish, Verwalter des Staudamms.
Von 400 Kubikmetern pro Sekunde sei die Wassermenge auf durchschnittlich 250 oder sogar weniger gesunken. "Wir sind gezwungen, den Strom für die Städte zu rationieren, und können sie nur noch zwei bis sechs Stunden pro Tag mit Strom versorgen", so Darwish. "Die Türkei will die Region schwächen und unbewohnbar machen, um sie zu erobern."
Proteste auch in den türkisch besetzten Gebieten
Wie berichtet kam es in den bereits türkisch besetzten Gebieten zu Protesten der Bevölkerung, nachdem der türkische Außenminister bekannt gab, dass die Türkei sich mit dem Assad-Regime versöhnen will und es diesbezüglich auch schon Gespräche gab.
Auf Transparenten fragten die Demonstranten: "Çavuşoğlu: Was hältst Du davon, endlich Frieden mit PKK und Gülen zu schließen, um die Region zu stabilisieren?" Entgegen der türkischen Propaganda zeigen diese Äußerungen, dass die Bevölkerung in den türkisch besetzten Gebieten sich einerseits gegen die Besatzung positioniert und anderseits kein Interesse an einer Rückkehr des Assad-Regimes hat.
Sie sieht vielmehr eine Lösung des seit Jahren andauernden Krieges in einem Friedensprozess der Türkei mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die auch erwähnte Gülen-Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen spielt im Syrien-Konflikt keine Rolle.
Auch wenn die Parolen auf die PKK fokussiert sind, zeigt dies, dass sich die mittlerweile mehrheitlich arabische Bevölkerung in den besetzten Gebieten durchaus bewusst ist, dass die sogenannte "kurdische Frage" in der Türkei geklärt werden muss. Und zwar auf friedliche Weise und nicht mit einem schleichenden Genozid. Das ist bemerkenswert und war in dieser Deutlichkeit bisher nicht bekannt.
Schlechte Wahlprognose könnte der Grund für die massiven Angriffe sein
Türkische Wahlprognosen sind zwar mit Vorsicht zu genießen, aber ein Blick darauf lohnt trotzdem. Nach einer aktuellen Umfrage des PIAR-Instituts würde die kemalistische CHP auf 28,5 Prozent, Erdogans AKP auf 28,1 Prozent, die nationalistische IYI-Parti auf 12,9 Prozent, die linke HDP auf 11,2 Prozent und die faschistische MHP auf 7,8 Prozent kommen. Da die CHP und die IYI-Parti mit vier weiteren Parteien ein Wahlbündnis vorbereiten, würde die mit der MHP koalierende AKP die Parlamentsmehrheit verlieren.
Eine Hauptursache dafür ist die desaströse Wirtschaftspolitik. Nach Angaben des staatlichen Statistikinstituts "TÜIK" liegt die Inflationsrate bei 78 Prozent. Erdogan versucht davon abzulenken, indem er mit antikurdischer Propaganda und einer angeblichen Bedrohung aus Nordsyrien den Nationalismus unter der Bevölkerung anheizt, in der Hoffnung, dadurch verlorene Stimmen zurückzugewinnen.
Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts "MetroPoll Araştırma" würde Erdogan, sollte er bei der ersten Wahlrunde die absolute Mehrheit verfehlen, dies auch in der zweiten Runde nicht schaffen. Egal, ob er gegen den Spitzenkandidaten der CHP, IYI Parti oder der Deva Partisi antritt, in keiner Konstellation bekäme er eine Mehrheit.
Das Beratungsunternehmen "Mak Danismanlik" sieht die AKP derzeit nur noch auf 25 bis 27 Prozent. Auch für Erdogan persönlich steht viel auf dem Spiel. Ihm drohen langjährige Haftstrafen wegen zahlreicher Korruptionsfälle, Menschenrechtsverstößen sowie Kriegsverbrechen in den Nachbarländern Syrien und dem Irak.