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Vom Wert, Mehrwert, Gebrauchswert – und einem Eimer voller Kohlen

Was hat dieser Eimer Kohlen mit Karl Marx zu tun? Bild: Pixabay

Ein Versuch zur Veranschaulichung des Unanschaulichen

Unsere Alltagssprache wimmelt von abstrakten Begriffen, die uns erstmal völlig vertraut scheinen, doch beim genaueren Hinsehen rätselhaft werden. Zu meiner Studienzeit gab es den folgenden Witz:

Professor fragt den Prüfling: "Erklären sie mal: Was ist Elektrizität?"

Der Prüfling stottert: "Oh, als ich draußen war, habe ich es noch gewusst. Aber jetzt habe ich es vergessen."

Der Professor rauft sich die Haare: "Na so ein Unglück! Sie waren der einzige Mensch auf der Welt, der es gewusst hat! Und sie haben es vergessen!"

Anlass für diesen Artikel sind die dankenswerten Versuche vieler Autoren – meines Wissens durchweg männliche – unter reger Beteiligung vieler Foristen – vielerlei Geschlechts –, den Telepolis-LeserInnen die Marx‘schen Analysen und vor allem die Werttheorie zu erklären.

Dabei wurde jedoch auch deutlich, wie schwer es ist, manchen Denkern in ihren komplexen Theorien zu folgen, ohne sich darin zu verirren. Und umgekehrt: Wie schwer es manchen Geisteswissenschaffenden fällt, ihre Denkgebäude übersichtlich und barrierefrei zu gestalten, begehbar auch für "nur" mit Alltagsverstand ausgerüstete Menschen.

Höhe- oder auch Tiefpunkt, wie man es nimmt, war der Artikel Zur Wertdefinition [1] von Heinrich Harbach und Werner Richter vom Jahresanfang. Angetreten mit dem Anspruch, eine "wissenschaftliche Definition" des Wertes zu liefern, bestätigte er im Ergebnis eher das Vorurteil, die Philosophie und leider auch die Ökonomie hätten zur Analyse und Beschreibung komplexer Phänomene - wo die Physik und andere Naturwissenschaften klar definierte Begriffe und mathematisch fundierte Instrumente entwickelt haben - vor allem eins: viele Worte.

Die Autoren und ganz exemplarisch Dieter Wolf, auf den sie sich mehrfach beziehen, umkreisen den fraglichen Gegenstand mit schier endlosen redundanten Satzkonstruktionen, ohne ihn je zu fassen, wie, ein extremes Beispiel, hier [2].

Anschaulicher Vorstellung und Verständnis läuft dies konträr. Das muss nicht so sein, deshalb will ich versuchen, eine Brücke zu schlagen zwischen der unanschaulichen Begriffswelt der Marx‘schen Werttheorie und den – zumindest für technikaffine Menschen – besser vorstellbaren Begriffen und Modellen der Physik.

Sie werden im Folgenden zwischen den Disziplinen also öfter etwas "querdenken" müssen. Es geht dabei nicht um eine Verbindung der Theorien, wie das von Podolinsky bis Altvater öfter versucht (und hier energisch kritisiert [3]) wurde, sondern um Analogien. Analogien sind ein bewährtes heuristisches Prinzip zur Erkenntnisgewinnung, Marx selbst verwendete Analogien an vielen Stellen.

Wert und Gewicht

Als Ofenheizung im Berliner "Prenzlberg" noch sehr verbreitet und ich ein Schuljunge war, brachte ich jeden Wintertag einen Eimer Kohlen aus dem Keller in unsere Wohnung im vierten Stock. Der volle Eimer wog etwa zehn Kilo und enthielt - in Form von Braunkohlebriketts - etwa 50 Kilowattstunden Heizenergie, was außer für den Kachelofen im Wohnzimmer oft auch noch für den Badeofen ausreichte.

Der Preis für diese Kohlenmenge lag bei etwa 35 Pfennig. Oben angekommen, hatte ich selbst eine Menge Energie verausgabt, aber die Energiemenge des Kohleeimers hatte sich auch erhöht: Um ganze 1.177 Joule oder Wattsekunden, das ist nämlich die Zunahme an potenzieller Energie eines Zehn-Kilo-Gewichts, wenn es um zwölf Meter vom Keller bis in den vierten Stock angehoben wird.

Diese Energie, mal angenommen, man könnte sie komplett in zusätzliche Wärme umsetzen, hätte die kellerkalten Kohlen allerdings gerade einmal um etwa zehn Grad, also auf Zimmertemperatur erwärmt. Restlos und deutlich effektvoller hätte sich die gespeicherte potenzielle Energie nur "realisieren" lassen (mit einem Umweg über eine gleich große kinetische Energie), wenn ich den Eimer aus dem Fenster geworfen hätte.

In punkto Heizenergie war mein Arbeitsaufwand also einerseits komplett nutzlos, andererseits jedoch dringend notwendig, denn Kohlen, die im Keller liegen, haben fürs Heizen im vierten Stock wenig Gebrauchswert, genau gesagt: Null. Der Transport zum Ort ihrer thermischen Verwertung war Voraussetzung dafür, dass sie ihren Gebrauchswert überhaupt entfalten konnten. Waren die Kohlen dadurch vielleicht sogar selbst wertvoller geworden?

Immerhin bekam ich, wenn ich mal einen Eimer für die Nachbarin nach oben holte, 50 Pfennig in die Hand gedrückt. Man kann zwar meine Schlepperei als eigenständige, bezahlte Dienstleistung interpretieren, aber auch als in ein Gebrauchsgut (die Kohlebriketts) investierte zusätzliche Arbeitsleistung, die dessen Wert erhöht.

Schleppte ich nämlich für den Eigenbedarf, war dies sicher keine Dienstleistung, doch die investierte Arbeit war ja die gleiche und sollte sich nicht nur auf der energetischen Ebene (potenzielle Energie), sondern auch auf der ökonomischen Ebene bemerkbar machen.

Bevor darauf zurückgekommen wird, schauen wir erst einmal auf einen weiteren Aspekt des Kohleeimers: sein Gewicht. Zehn Kilo, wie gesagt. Spätestens auf der zweiten Etage musste ich den Eimer absetzen, es kam mir vor, als zögen da nicht nur ein paar Briketts, sondern der ganze Planet dran.

Und das tat der ja auch!

"Gewicht" ist nämlich keine Eigenschaft von Materie. "Masse" ist solch eine Eigenschaft. Gewicht entsteht erst durch die Beziehung von wenigstens zwei massehaltigen Objekten, hier von Eimer und Planet. Hätte ein Antimaterie-Asteroid urplötzlich die mir abgewandte Erdhälfte annihiliert, wäre mein Eimer urplötzlich um die Hälfte leichter geworden. Gewicht wird nicht ohne Grund in Kilopond (veraltet) oder Newton gemessen, was Maße der Kraft sind, welche mit der in Kilogramm gemessenen Masse über die Schwerebeschleunigung im Schwerefeld in Beziehung stehen. Letztere beträgt bei der Erde g = 9,81 m/s², womit der Eimer (Masse zehn Kilogramm) mit einer Kraft von zehn Kilopond oder 98,1 Newton angezogen wird (ein Newton = ein kg*m/s²)

Gewicht ist ein Fetisch

Was an meiner Hand zog, war also nur oberflächlich gesehen der Eimer selbst. Marx hätte das Gewicht einen "Fetisch" genannt. Das sinnlich spürbare Gewicht verdeckt, dass dahinter eine Kraft steckt, an der die Masse des Eimers den allergeringsten Anteil hat. Ganz ähnlich wirkt der von Marx entdeckte "Warenfetisch": Dass ein Produkt Ware ist und einen Wert hat, scheinen oberflächlich gesehen Eigenschaften dieses Produkts zu sein, in Wahrheit spiegelt dies jedoch die gesellschaftlichen Produktions- und Austauschverhältnisse wider.

Ersetzen wir einmal die Erde durch eine riesige Ansammlung von Kohleeimern verschiedener Größe und Inhalt. Sie alle ziehen sich jetzt gegenseitig an. Die Kraft, die auf einen einzelnen Eimer wirkt - also sein Gewicht - hängt von den Massen aller anderen Eimer ab. Alle Eimer befinden sich in einem über die Gravitationskraft vermittelten "Austauschverhältnis", das auf alle Elemente zurückwirkt. Es ist diese Beziehung, die jedem einzelnen Eimer das individuelle Gewicht verleiht.

Bei Harbach/Richter klingt dies, bezogen auf den Wert, als Quintessenz ihrer Definitionsbemühungen so:

Der Wert ist also eine "Geltungsbeziehung" von menschlichen Arbeitsprodukten, eine gesellschaftliche Beziehung, die durch ihre allgemeine gesellschaftliche Gültigkeit und durch die Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche wie ein Sein wirkt.

Im physikalischen Bild ist das Gewicht ebenfalls eine "Geltungsbeziehung" (gilt ja nur zwischen mindestens zwei Massen), die von allgemeiner Gültigkeit ist, in ihrer Kraftform (Gravitationskraft) alle Bereiche durchdringt und "wie ein Sein" wirkt, denn es ist ja in der Hand deutlich spürbar.

Man kann auch sagen, die Eimer-Ansammlung ist der Marktplatz, auf dem diese ihre jeweiligen Gewichtswerte aushandeln, wobei der Maßstab die Masse jedes Eimers ist. Und die Masse ist wiederum eine Abstraktion von fast allen konkreten Eigenschaften der Materie, hier also der Kohlebriketts. Übrig bleibt eine Eigenschaft, die man weder sehen noch spüren, wohl aber sehr exakt messen kann - genauso exakt wie z.B. Arbeitszeit.

Aufbauend auf diesem Vergleich lassen sich weitere Analogien zwischen den Marx‘schen Begriffsbildungen und den physikalischen Begriffen finden:

Marx sprach vom "Doppelcharakter der Arbeit", wir sehen, dass Arbeit sogar in drei Erscheinungsformen im Arbeitsprodukt "vergegenständlicht" ist: als konkrete lebendige Arbeit, abstrakte (aber noch individuelle) Arbeit in Form von Arbeitszeit und als abstrakte gesellschaftlich notwendige Arbeit bzw. Arbeitszeit.

Letztere ist über den Markt sozusagen gewichtet - wie einzelne Massen über ihr gemeinsames Gravitationsfeld gewichtet werden. Der Marx‘sche Arbeitswert von Waren, die "geronnene Arbeitskraft", die auf dem Markt zum Tauschwert wird, entspricht in dieser Analogie dem Gewicht von Materie im Gravitationsfeld, der "geronnenen" Gravitationskraft.

An dieser Stelle soll die Analogie nicht weitergetrieben werden, denn irgendwann hinken alle Vergleiche. Ein eklatanter Unterschied zwischen den beiden Modellen ist Ihnen vielleicht schon aufgefallen: Im Schwerefeld werden die Gravitationskraft und damit das Gewicht größer, wenn neue Massen hinzukommen. Auf dem Markt freier Konkurrenz fallen dagegen eher die Preise (wenn auch nicht unbedingt die Warenwerte selbst), wenn neue Produzenten hinzustoßen.

Wert und Gebrauchswert – was ist der Unterschied?

Der Gebrauchswert von Kohle liegt in ihrem Vermögen, bei Verbrennung Wärme zu erzeugen, kurz ihrer Heizenergie. Mein mühsam hochgeschleppter Eimer enthielt davon zirka 50 Kilowattstunden, wovon der Kachelofen vielleicht 70 Prozent nutzen konnte, der Rest ging durch den Schornstein. Als meine Mutter, weil es modern war und Platz schuf, die Kachelöfen abreißen und durch Dauerbrandöfen ersetzen ließ, brauchten wir mehr Kohle, diese Öfen hatten offenbar einen schlechteren Wirkungsgrad.

Hatte die Kohle damit nun auch einen geringeren Gebrauchswert für uns? Und was ist mit den anderen Energieformen, die auch noch in dem Eimer stecken?

Sehen wir einmal von der schwachbrüstigen potenziellen Energie ab und schauen gleich auf die nach E=mc² maximal enthaltene Energie (Stichwort Annihilation): Danach entsprechen zehn Kilogramm Masse knapp 250 Terawattstunden, die Deutschlands Primärenergiebedarf etwa zehn Wochen lang (völlig CO2-frei) decken könnten. Jemand, der diese Energie auch nur teilweise nutzen könnte, zöge doch offensichtlich noch weit mehr Gebrauchswert aus dem gleichen Produkt?

Solche Mehrdeutigkeiten sind es, die den Gebrauchswert einer Ware - wenn er nicht gleich mit dem Arbeits- bzw. Tauschwert verwechselt wird - noch weitaus rätselhafter erscheinen lassen als diese, nicht fassbar oder gar messbar, weil völlig subjektiv.

Bei Marx ist zwar oft vom Gebrauchswert die Rede, doch meint er damit in der Regel keinen "Wert", sondern das Gebrauchsgut als "Ding", also für den Gebrauch hergestelltes Produkt. Interpreten wie Kritiker haben es ihm leider meist nachgemacht, was viel zu der Verwirrniss um den Gebrauchswert beigetragen haben mag. Wenn Marx wirklich den Gebrauchswert meint, spricht er von "Nutzen".

Und wirklich hängt der Nutzen ja wesentlich von den Zielen des Nutzers und seinen Nutzungsmöglichkeiten ab. Die eigentlich naheliegende Schlussfolgerung ist: Der Gebrauchswert ist - ganz wie Wert oder Gewicht - keine Eigenschaft eines Produkts selbst, sondern liegt in der Beziehung von Produkt und Nutzer.

Analog zur Marx‘schen Differenzierung der Arbeit in konkret-lebendige Arbeit (die individuell ein konkretes Produkt schafft) und abstrakt-gesellschaftliche Arbeit (die als durchschnittlich notwendige Arbeit den Warenwert schafft) lässt sich der Gebrauchswert unterteilen in:

  1. Konkreter (individueller) Gebrauchswert, den ein konkretes Produkt für einen konkreten Nutzer hat.
  2. Abstrakter gesellschaftlicher (Durchschnitts-)Gebrauchswert eines allgemeinen Produkts für einen durchschnittlichen Nutzer.

Das berühmte "Wasserglas in der Wüste" gehört eindeutig zur ersten Kategorie. Es ist als Argument gegen Gebrauchswert-Analysen ebenso untauglich wie die aus einem Stück gefeilte Lokomotive als Argument gegen die Marx’sche Werttheorie.

Und um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: (Arbeits-)Wert und Gebrauchswert haben exakt so viel miteinander zu tun wie das Gewicht und die Farbe eines Kohleeimers: Nichts, außer dass sie am selben Ding kleben.

Gebrauchswert ist gewonnene Zeit

Ganz allgemein und in den Kategorien des Alltagsverständnisses gesprochen, ist Wert die in ein Arbeitsprodukt investierte Lebenszeit, Gebrauchswert ist die mit Hilfe eines Produkts gewonnene Lebenszeit. Dabei kann der Gewinn auch in mit Genuss oder Sinn erfüllter Lebenszeit liegen (Lebensqualität). Die Ökonomen mögen’s genauer, deshalb könnte eine Definition für die Sphäre der Produktion so lauten: Der Gebrauchswert eines Produkts ist die Einsparung an Arbeitszeit, die sich durch den Gebrauch dieses Produkts erzielen lässt. In der kapitalistischen Warenproduktion ist es die Einsparung an notwendiger Arbeitszeit.

Dafür ein Beispiel:

Wenn ein Heimwerker sich einen Akkuschrauber anschafft, mit dem er 100 Schrauben in zehn Minuten statt in einer Stunde von Hand einschrauben kann, dann hat er 50 Minuten Lebenszeit gewonnen. Wenn ein selbstständiger Handwerker dasselbe tut, hat er die Wahl: entweder mehr Freizeit oder mehr Geld, wenn er nämlich die 50 Minuten für zusätzliche Arbeit nutzt. Wenn derselbe Handwerker in einem Unternehmen arbeitet, hat er diese Wahl nicht.

Stattdessen wechselt hinter seinem Rücken diese Zeit von seiner notwendigen Arbeitszeit (bezahlt) zur Mehrarbeitszeit (unbezahlt). Der Unternehmer bekommt 50 Minuten "geschenkt" und muss dafür nur den Akkuschrauber bezahlen. Dessen Gebrauchswert liegt, wie der von jedem Produktionsmittel, das die Produktivität erhöht, also in der gewonnenen Arbeitszeit. Gewonnen für den Unternehmer, sie wird damit fast komplett zu mehr Mehrwert. Nur fast, weil die Kosten des Akkuschraubers anteilig davon abgesetzt werden müssen.

Das Wunderbare an der Sache ist, dass der Lohn-Handwerker keinerlei Schaden hat - er bekommt nicht weniger Lohn, muss nicht länger oder schwerer arbeiten, vielleicht sogar leichter. Es geht eigentlich völlig gerecht zu (wie Marx öfter betont), dennoch vermehrt sich wie von Zauberhand der Mehrwert.

Für den Unternehmer haben, neben den Arbeitern selbst, nur die Produktionsmittel Gebrauchswert, nicht aber die Produkte, die er herstellt - die sollen ja nicht gebraucht, sondern verkauft werden.

Gebrauchswert haben sie für die Käufer. Sind diese Unternehmer und sind die Produkte Produktionsmittel (z.B. Akkuschrauber), gehen Kosten und Nutzen in die betriebswirtschaftliche Rechnung mit ein.

Der Großteil des Welthandels vollzieht sich zwischen Unternehmen, da werden vor allem Produktionsmittel, also Maschinen und Anlagen, gehandelt. Deren Gebrauchswerte werden von den Käufern sehr genau kalkuliert, da ist nichts zufällig oder unbestimmt. Lediglich bei Konsumgütern kann der Eindruck entstehen, dass "Gebrauchswert" von Gefühl und Geschmack abhängt.

Obige Unterscheidung von konkretem und abstraktem Gebrauchswert löst auch dieses Rätsel. In unserer Überflussgesellschaft hat es eben oft schon einen gewaltigen individuellen (Gebrauchs-)Wert, sich mit Hilfe von z.B. Markenklamotten in seiner gesellschaftlichen Stellung zu bestätigen, besser noch: die Leiter weiter hinaufzusteigen.

Ein Gewinn an Lebenszeit lässt sich hier zwar nur sehr abstrakt und versteckt finden (und öfters wohl gar nicht), im Beispiel vom Wasserglas in der Wüste jedoch dafür ganz direkt und buchstäblich.

Und was unterscheidet Wert und Mehrwert?

Einmal im Jahr begeht der "Bund der Steuerzahler" den "Steuerzahlergedenktag". So fragwürdig [4] das Datum selbst ist (2020 war es der 9. Juli), so interessant ist der Anlass: Es ist der Tag im Jahr, bis zu dem (nach Angaben des Vereins) der durchschnittliche Steuerzahler nur für die Steuern und Abgaben gearbeitet hat.

"Ab jetzt arbeiten wir in die eigene Tasche", heißt es an diesem Tag. Wenn das korrekt wäre, würden wir Steuerzahler im Durchschnitt weniger als die Hälfte unseres Einkommens für uns behalten können. Empörend, nicht wahr?

Was uns der Steuerzahlerbund und auch der DGB, der dafür sicherlich zuständiger wäre, nicht mitteilt, ist das Datum des Tages, ab dem die durchschnittlichen Lohnabhängigen in ihre eigene Tasche arbeiten, und nicht in die Tasche des "Arbeitgebers". So ein "Ausbeutungsgedenktag" läge vermutlich deutlich später im Jahr.

Berechnen ließe er sich, indem man die Lohnsummen aller Arbeitskräfte ins Verhältnis zu den von diesen im Jahr geschaffenen Werten setzt (natürlich unter anteiligem Abzug der Fixkosten).

Der Steuerzahlerbund portioniert die Jahresarbeitszeit im Prinzip genauso, wie es Marx mit der Aufteilung in "notwendige Arbeitszeit" und "Mehrarbeitszeit" gemacht hat. In der ersteren erarbeitet die Arbeitskraft ihren eigenen Lohn (v), in der zweiten den Mehrwert (m). Das Verhältnis m/v heißt bei Marx Mehrwertrate und gibt praktisch die Ausbeutungsrate an.

Das Akkuschrauber-Beispiel zeigt, wie der Gebrauchswert eines (produktivitätserhöhenden) Werkzeugs flugs den Mehrwert erhöht, den eine Arbeitskraft schafft - und wie deren eigener Wert (ausgedrückt als der Anteil ihrer Arbeitszeit, in der sie ihren eigenen Lohn erwirtschaftet) dadurch sinkt. Produktivitätssteigerungen durch Automatisierung machen die (verbliebenen) Arbeitskräfte effizienter, wie ein verbesserter Ofen die verheizte Kohle besser ausnutzt. Es geht dann weniger Abwärme durch den Schornstein verloren.

Das Perpetuum mobile der Wertschöpfung

Was beim Ofen die Wärmeverluste, sind beim "Verheizen" der Arbeitskraft im Produktionsprozess deren Lohnkosten, sie sind für den Unternehmer reine Verluste. Jedoch Verluste mit Zauberkraft. Als würden die Wärmeverluste eines Ofens auf wundersame Weise neuen Brennstoff schaffen, dient der Lohn zur Regeneration der Arbeitskraft, die am nächsten Tag mit frischen Kräften bereitsteht, um diesen Kreislauf weiter in Gang zu halten.

Marx nennt die Arbeitskraft eine Ware, "deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit (besitzt), Quelle von Wert zu sein, deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit (ist), daher Wertschöpfung". Die Arbeitskraft schafft mehr Wert, als sie selbst "wert ist", also Wert verbraucht. Die Physik nennt so ein seltsames Ding (das mehr Energie erzeugt als verbraucht) Perpetuum mobile. In Bezug auf die Größe "Wert" sind Lohnarbeitskräfte perfekte Perpetuum mobiles. Man kann sogar den Wirkungsgrad angeben, er ist (m + v)/v = m/v + 1, liegt also immer über 100%.

Selbst aus physikalischer Sicht scheinen alle Lebewesen, also auch der Mensch, so etwas wie Perpetuum mobiles zu sein. Allerdings nicht in punkto Energiebilanz, sondern in Bezug auf eine andere physikalische Größe: Entropie. Entropie ist (vereinfacht) ein Maß der Unordnung. Die wird in der Regel (in geschlossenen Systemen) nur größer, niemals kleiner. Jedoch sind alle Lebewesen in der Lage, ihre eigene Entropie zu verringern. Wachstum und Selbstorganisation sind nichts anderes als Erhöhung der Strukturiertheit, der Ordnung, also Verringerung der Entropie.

Eigentlich verstößt dies gegen den 2. Hauptsatz der Thermodynamik, wonach in geschlossenen Systemen die Entropie nur anwachsen kann. Da Leben nachweislich existiert, wurde spekuliert [5], dass der 2. Hauptsatz für lebende Materie nicht gilt – und diese somit außerhalb der Physik steht.

Die Lösung des Rätsels: Lebewesen sind offene Systeme. Was sie "im Innern" notwendigerweise an Entropie erzeugen, transportieren sie mittels Energieeinsatz (Sonnenenergie, Nahrung) nach außen. Auf sehr einfacher Stufe tut eine Wärmepumpe das auch. Im übergeordneten System stimmt wieder alles, die Entropie bleibt gleich oder steigt sogar.

Der Mensch, als wohl einziges Lebewesen, hat über die Selbstorganisation hinaus die Potenz, mittels seiner Arbeitskraft seine Umwelt frei (d.h. jenseits instinkt-programmiertem Verhalten wie Nestbau) und nach beliebig wechselnden Bedürfnissen zu gestalten. Er kann Werkzeuge herstellen, Felder bewirtschaften und Städte bauen, also die Entropie seiner Umwelt lokal verringern. Er wirkt damit als "Entropiepumpe", da Entropie wie gesagt nicht verringert, sondern höchstens verschoben, von einem Teilsystem in ein anderes Teilsystem exportiert werden kann.

Die Kehrseite unserer entropiearmen, wohlgeordneten und glitzernden technischen Errungenschaften sind deshalb Müllhalden und Umweltverschmutzung.

Als Arbeitskraft im kapitalistischen Betrieb erzeugt der Mensch aus Rohmaterial Gebrauchsgüter, verringert so die Entropie und schöpft gleichzeitig Wert und Mehrwert, erschöpft sich aber dabei selbst, was seine eigene Entropie erhöht. "Verlorene Arbeitsfähigkeit" ist eine von vielen Interpretationsmöglichkeiten der Entropie [6], die hier gut ins Bild passt. Millionen von Arbeitenden tragen täglich Entropie aus den Werkhallen der Entrepreneurs, wie Ameisen den Abfall aus dem Bau tragen. Draußen, nach Feierabend dürfen sie sich erholen, essen, schlafen, also ihre Arbeitsfähigkeit wieder reproduzieren. Ohne diesen ständigen Entropie-Export gibt es keine Warenproduktion, keine Ausbeutung und keinen Mehrwert.

Alltägliches und ökonomisches Wertverständnis

Der alltägliche Gebrauch des Wörtchens Wert unterscheidet sich gar nicht so stark von der Definition in der Marx’schen Werttheorie: Beide bringen den Begriff in Zusammenhang mit dem Aufwand zur (Wieder-)Beschaffung eines Produkts, der sich letztendlich in (Arbeits-)Zeit ausdrücken lässt.

Der im anfangs gewählten Beispiel in den vierten Stock geschleppte Kohleeimer ist gefühlt wertvoller als der gleiche Eimer im Kohlenkeller. Gemäß der Werttheorie ist er das jedoch nicht, denn dort zählt nur der im Prozess der Warenproduktion eingebrachte Arbeitsaufwand als wertbildend, nicht jedoch Privatarbeit für die private Konsumtion (und, je nach Interpretation, auch kein Transportaufwand).

Wertkritiker wie Robert Kurz und Ernst Lohoff [7] gehen noch weiter und beschlagnahmen quasi Begriffe wie Wert und Arbeit allein für die kapitalistische Warengesellschaft, reduzieren sie auf ihre negativen, zu überwindenden Aspekte. Gegen diese "Enteignung" des Alltagsverständnisses hat beispielsweise Annette Schlemm ausführlich aus sprachphilosophischer Sicht argumentiert [8].

Beides, sowohl die Vermischung als auch die rigorose Trennung der Sphären, in der solche Begriffe gelten sollen, ist fatal. Intuitiv wehrt sich der "gesunde Menschenverstand" gegen die Behauptung, ein "selbstgeschnitzter Holzlöffel" (ein Beispiel von Forist OberstMeyer [9]) habe keinen Wert.

Vielleicht steckt in dem Teil außer Arbeitszeit sogar Kunstverstand, der Löffel wird von Familie und Freunden bewundert, vielleicht als Geschenk geschätzt - und der soll keinen Wert haben?

Und wenn er eines Tages bei ebay auf den Markt geworfen und dort (für einen Preis, der sich an den Angeboten der Konkurrenz einpegelt) auch verkauft wird, dann bekommt er plötzlich doch einen Wert eingehaucht, wie Adam von Gott der Odem des Lebens eingehaucht wurde? Vielleicht von ebay-CEO Jamie Iannone persönlich?

Dass die Wissenschaft ihre Begriffe schärfer fassen muss als die Alltagssprache, ist unbedingt notwendig. Doch wenn sie dabei die Alltagsbedeutung solcher Begriffe ausschließt, schließt sie sich in den sprichwörtlichen Elfenbeinturm ein und muss sich über Unverständnis nicht wundern. (Dieter Wolf kritisiert ja sogar Marx dafür [10], dass er versuchte, sich verständlich - nämlich mit Hilfe von Metaphern - auszudrücken.) Und auch für Fachleute ist das kontraproduktiv, denn in den meisten Köpfen spukt ja meist doch noch etwas vom Alltagsgebrauch des Begriffes herum.

Was hälfe, wäre eine konsequente begriffliche Abgrenzung, beispielsweise "Warenwert" für die Verwendung in der politischen Ökonomie (von Marx auch vielfach so benutzt), "Wert" für den alltäglichen Gebrauch. Dann darf der Warenwert eine Spezialform des Wertes sein, nämlich für den Spezialfall kapitalistischer Warenproduktion. Und ebenso kann die Marx’sche Werttheorie vielleicht einmal ein wichtiger Teil einer noch zu entwickelnden verallgemeinerten Werttheorie sein, welche alle Produktionsverhältnisse und auch das anschauliche Alltagsverständnis des Wertbegriffs mit einschließt.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Zur-Wertdefinition-5000507.html
[2] https://dieterwolf.net/wordpress/wp-content/uploads/2019/01/Dialektik-der-Wertformen-L%C3%B6sungsbewegungen-des-dialektischen-Widerspruchs-zwischen-Gebrauchswert-und-Wert.pdf
[3] https://core.ac.uk/download/pdf/229349514.pdf
[4] https://www.vorwaerts.de/artikel/steuerzahlergedenktag-bewusste-irrefuehrung
[5] https://itp.uni-frankfurt.de/~hees/faq/entropie/zweithaupt.html
[6] https://www.researchgate.net/profile/Heinz_Herwig/publication/244996043_Was_ist_Entropie_Eine_Frage_-_Zehn_Antworten/links/5720c91208aeaced789064c4/Was-ist-Entropie-Eine-Frage-Zehn-Antworten.pdf
[7] https://www.krisis.org/1998/was-ist-wertkritik/
[8] https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2017/07/21/begriffshierarchien/
[9] https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Beispiel-Cebit-Die-Digitalisierung-frisst-sich-selbst/Re-Oekokom/posting-33534477/show/
[10] https://dieterwolf.net/wordpress/wp-content/uploads/2018/12/Kapital_Marx_Versaeumnisse_vermeiden.pdf