Von der Kita zur Kaserne: Der lange Arm der Zeitenwende
Die Bundeswehr wirbt verstärkt um Minderjährige. Fast 2000 Rekruten unter 18 zog sie im letzten Jahr an. Ein Telepolis-Interview.
Nach der Eskalation im Ukrainekrieg durch den Einmarsch russischer Truppen im Februar 2022 rief Bundeskanzler Olaf Scholz eine Zeitenwende aus, was eine Anhebung militärischer Ausgaben und stärkere Einbindung öffentlicher Einrichtungen in nationale Sicherheits- und Militärstrategien bewirkt.
Die damit verbundene Militarisierung gesellschaftlicher Bereiche stößt auf Widerspruch. Der Kongress "Zeitenwende in Bildung und Hochschulen" der Informationsstelle Militarisierung (IMi e.V.) setzt sich mit Folgen der Zeitenwende im Bildungs- und Wissenschaftsbereich auseinander.
Im folgenden Interview geht es um die Zeitenwende in den Köpfen, den neuen Auswahlwehrdienst und den Einfluss der Bundeswehr auf Kindertagesstätten.
▶ Am 16. und 17. November findet in Tübingen der Kongress "Zeitenwende in Bildung und Hochschulen" der Informationsstelle Militarisierung statt. Was bewegt Sie zur Teilnahme?
Schwarz: Ich bin seit dem 1. Oktober im Büro der IMi angestellt und war die letzten Jahre in einigen Projekten involviert. Da ich von Beruf pädagogisch-pflegerische Fachkraft in der Assistenz von Menschen mit Behinderungen bin, bin ich beruflich viel mit Bildungsprozessen auf verschiedenen Ebenen, samt deren didaktischer Aufbereitung, in Kontakt gekommen. Mir wurde bewusst, wie unterschiedlich Menschen Sachverhalte, auch ganz alltägliche Dinge, erfassen können und wie äußere Faktoren genutzt werden, um das Verhalten von Menschen gezielt zu beeinflussen. Meine eigene Schulzeit ist auch noch nicht lange her.
Ich finde es wichtig sich eingehend damit zu beschäftigen, welchen Einfluss die im Eiltempo voranschreitende (Re-)Militarisierung des gesamten Bildungssystems in Deutschland auf die Gesellschaft hat. Wie die vormalige Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger einmal unschön, aber treffend formuliert hat, findet die Zeitenwende nämlich im Kopf statt. Das heißt: Je jünger die Adressaten, desto besser!
Ein Auswahlwehrdienst für die Fittesten
▶ Sie referieren auf dem Kongress über die Bedeutung der Wehrpflicht für Schulen und Kindertagesstätten. Ab dem 1. Januar soll jeder Schüler über 18 zur Beantwortung einer Musterungsabfrage des Bundesverteidigungsministeriums verpflichtet werden. Was haben die Schüler hier zu erwarten? Welchen weiteren Einflussnahmen seitens der Bundeswehr sind sie ausgesetzt?
Schwarz: Bundesverteidigungsminister Pistorius hat auf einer Pressekonferenz im Juni die Ideen für eine neue Form der Wehrpflicht skizziert. Er betonte, dass er "weg vom Pflichtwehrdienst", wie wir ihn bis 2011 kannten, hin zu einem "Auswahlwehrdienst" mit den "Fittesten und am besten Geeigneten" möchte. Allen Menschen ab 18 Jahren soll künftig ein Online-Fragebogen zugesandt werden. In diesem Fragebogen sollen sie bekunden, ob sie grundsätzlich bereit sind Wehrdienst zu leisten, welche Neigungen oder Interessen sie haben und ob sie zum Beispiel auch sportlich aktiv sind. Männer sind verpflichtet, den Fragebogen auszufüllen, Frauen wird es freigestellt. Hierfür müsste nämlich ansonsten das Grundgesetz verändert werden.
Es sollen auch "Anreize" wie die Finanzierung des Führerscheins durch die Bundeswehr geschaffen werden. Weitere Einflussnahmen der Bundeswehr sind klar durch Social-Media-Kanäle gegeben. Auf Instagram und Tik Tok gibt sich die Bundeswehr jung, dynamisch und divers, greift dabei für ihren Content auch regelmäßig Social Media Trends auf. Der Kanal der Bundeswehr auf TikTok hat über 160.000 Follower mit über 1,8 Mio. Likes für ihre Beiträge.
Das sind mehr als die Accounts von SPD- und Grünen-Fraktion an Follower zusammen haben! Eine weitere wichtige Rolle spielen die Karriereberater und Jugendoffizier, die seit Jahrzehnten deutsche Schulen frequentieren dürfen. Jugendoffiziere werden als Mitbürger in Uniform bezeichnet und für Experten erster Wahl für Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehalten. Sie werden von Schulen gezielt eingeladen. In einigen Bundesländern, auch in Baden-Württemberg, gibt es sogar Kooperationsvereinbarungen zwischen Kultusministerium und Bundeswehr.
Bundeswehrpräsenz in Kindertagesstätten
▶ Inwieweit spielt Militarisierung bereits in Kindertagesstätten eine Rolle? Sehen Sie hier eine besondere Anfälligkeit für Militarisierungstendenzen?
Schwarz: Wie aus einigen Zeitungsartikeln und Anfragen der Linken-Fraktion im Bundestag hervorgeht, gibt es auch eine wahrnehmbare Präsenz der Bundeswehr in deutschen Kitas. Soldaten kommen in Uniform zu Besuch, pädagogisches Fachpersonal besucht mit den Kindern Kasernen oder Institute der Bundeswehr, wo sie sich Kampfjets anschauen dürfen und vor diesen mit Helm und Maske für Fotos posieren dürfen. Außerdem gibt es auch immer öfter Benefizveranstaltungen der Bundeswehr für Kitas und Jugendhilfeeinrichtungen.
Genau diese Werbeaktionen wurden von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und der Linken-Fraktion mehrfach aufs Schärfste kritisiert. Ich sehe in dieser Altersgruppe eine erhöhte Anfälligkeit für Militarisierungstendenzen, weil der alltägliche Umgang sowie die Sichtbarkeit des Militärs samt deren Kriegsgerät von Kindesbeinen an normalisiert wird. Diese "Bundeswehr zum Anfassen" baut berechtigte Berührungsängste ab und stilisiert die Truppe zu wohltätigen Alltagshelden.
▶ Unter welchen Gesichtspunkten problematisieren Sie die verstärkte Werbung Minderjähriger für eine Karriere bei der Bundeswehr? Schwarz: Die Bundeswehr hat es geschafft, im vergangenen Jahr knapp 2000 minderjährige Rekrut*innen anzuwerben. So viele wie noch nie! Das ist auch nur möglich, wenn Erziehungsberechtigte dem jeweils zustimmen. Deutschland wurde schon mehrfach – zuletzt 2022 – von der UN ermahnt, das Rekrutierungsalter auf 18 anzuheben und Werbemaßnahmen für Minderjährige zu verbieten.
Andere Gefahren stellen beispielsweise auch sexualisierte Übergriffe innerhalb der Bundeswehr, denen minderjährige Rekruten logischerweise ebenfalls ausgesetzt sind, dar. Diese Übergriffe werden meistens durch Vorgesetzte begangen.
Friedenspädagogische Maßnahmen fördern
▶ Der Kongress beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der "Zeitenwende in Bildung und Hochschulen". Welchen Anteil könnten Schulen und Kindertagesstätten an der Entwicklung einer friedlicheren Gesellschaft haben?
Schwarz: In Bildungskontexten sollten generell friedenspädagogische Maßnahmen angewendet werden, die empathisches Denken und Handeln fördern. Darüber hinaus umfassen diese Maßnahmen auch konstruktiven Umgang mit Konflikten, Widersprüchen, Unsicherheiten und Vieldeutigkeiten. Kitas, Schulen und Hochschulen müssen sich also zu Orten demokratischen Zusammenlebens entwickeln und sich von Wettbewerb, Hierarchie und Intransparenz verabschieden.
Benjamin Roth sprach mit Reza Schwarz. Schwarz arbeitet für die Informationsstelle Militarisierung (IMi e.V.) in Tübingen.