Von der Ohnmacht der Aufklärung

Archivbild: Demonstration "Tag der Freiheit – Das Ende der Pandemie", Berlin 1. August 2020. Foto: Leonhard Lenz/CC0 1.0

Zu den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen: Bindungslosigkeit ist die sozialpsychologische Signatur des Zeitalters

Wenn die Gewalt aus der Unterdrückung aufsteigt, dann der Hass aus der Entleerung.

Jean Baudrillard

Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen ebben nicht ab, sondern scheinen an Intensität und Breite zuzulegen. Am Montag, den 10. Januar 2022, sollen sich bundesweit rund 200.000 Menschen an mehr als 1.000 Aktionen beteiligt haben. Viele davon fanden in Kleinstädten und in der Provinz statt. Hier und da kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Es gab Verletzte auf beiden Seiten.

Eingebettet in die Mehrzahl von friedlich Demonstrierenden, die Lichterketten und Luftballons in Herzform mit sich führen und "Lass dein Herz nicht labeln" und "Friede, Freiheit, keine Diktatur" skandieren, suchen Rechtsradikale ihr trübes Süppchen zu kochen und das Handgemenge mit der Polizei. Diese zeigt sich überrascht vom Ausmaß des Hasses, der ihr entgegenschlägt, und der Härte der körperlichen Attacken, denen sie ausgesetzt ist.

"Wir waren auf verlorenem Posten", sagt ein Polizist im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. Der Protest der Mehrzahl der Demonstrierenden richtet sich gegen die allgemeine Impflicht, die laut Kanzler Scholz im Frühjahr kommen soll, und gegen das, was sie "Corona-Diktatur" nennen.

Die Aktionen werden via Telegram organisiert und nicht offiziell angemeldet. Es gibt meist keinen Versammlungsleiter, an den die Polizei sich wenden und halten kann. Abstandsregeln und Maskenpflicht werden weithin ignoriert. Die Maske gilt als eine Art Gesslerhut, also als Symbol der Unterwerfung.

"Spaziergangsproteste"

Um Versammlungsverbote zu umgehen und die Polizei auszutricksen, deklariert man die Demonstrationen als Spaziergänge, die ja trotz Corona-Verordnungen erlaubt sind. Vor Jahren hat der Historiker Volker Weiß in seinem klugen Buch Die autoritäre Revolte bereits darauf hingewiesen, dass die Rechte längst nicht mehr so tumb ist, wie viele Linke immer noch denken.

Wer sich die Rechten noch immer als stiefeltragende, glatzköpfige Schläger vorstelle, könne die Realität der Rechten und ihre eloquenten Ideologen nicht verstehen. Weiß spricht von einem "68 von rechts" und zeigt, wie sich die neue Rechte aus dem Arsenal linker Protesttraditionen bedient. Ein solches Beispiel liefert dieser Tage auch die Revolte der Impfgegner in Sachsen, die ihre unangemeldeten und nicht erlaubten Demonstrationen "Spaziergänge" nennt.

Die "Spaziergangsproteste" waren eine Taktik des Berliner SDS aus dem Jahr 1966, der sie wiederum von den Amsterdamer Provos entliehen hatte, einer Brutstätte phantasievoller, antiautoritärer Protestformen. Ein "Ausschuss Rettet die Polizei e.V." erläuterte: "Diese Spa-Pro-Taktik will die versteinerte Legalität lächerlich machen". Um beim Protest gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam nicht ständig das zu tun, was die Polizei erwartete und "die hilflosen Objekte der Aggressivität junger Leute in Uniform zu sein", verfiel der SDS auf die "Spa-Pro-Taktik".

In kleinen Grüppchen schlenderten Demonstranten über den Berliner Kudamm, verteilten Flugblätter und verwickelten die Passanten in spontane Diskussionen. Maschke, Rabehl, Mahler, Böckelmann und andere ehemalige SDSler haben in den letzten Jahren die Seiten gewechselt und tauchten plötzlich bei der äußersten Rechten auf. Möglicherweise haben sie die antiautoritären Protestformen dort publik gemacht.

"Aneignung linker Energien von rechts", nannte das Ernst Bloch. Er hat diese Prozesse in seinem frühen Buch Erbschaft dieser Zeit schon für die Weimarer Rechte beschrieben. Darin scheinen die zeitgenössischen Rechtsradikalen ganz geschickt zu sein. Erleichtert wird ihnen das Geschäft dadurch, dass wir Linken unsere eigenen Traditionen nicht pflegen und hochhalten, das Terrain nicht besetzen und vieles dem Gegner überlassen.

"Wer ist schuld an mir?"

Als Beobachter gewinnt man den Eindruck, dass die Versuche der Versprachlichung und die von den Demonstranten vorgetragenen Verlautbarungen und Forderungen eher Chiffren für ein diffuses Unbehagen sind. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage "Wer ist schuld an mir und meiner Misere?" greifen die Leute zu allen möglichen und unmöglichen Erklärungen. Sie wähnen sich im Widerstand gegen eine halluzinierte Diktatur und sehen sich als Objekte finsterer Machenschaften irgendwelcher Eliten. Es gibt keinen Blödsinn, der nicht gläubige Anhänger findet.

Menschen würden Geld erhalten, wenn ihre verstorbenen Angehörigen als Corona-Tote gezählt werden dürften, Ärzte eine Prämie, wenn sie entsprechende Totenscheine ausstellten. Es gibt eine verbreitete Suche nach einem Universalschlüssel zur Lösung lebensgeschichtlicher und gesellschaftlicher Rätsel. "Diejenigen sind schuld an dir, die dir die Spritze in den Arm rammen wollen", lautet die Antwort der Verschwörungsapostel. " "Drosten, Lauterbach und Konsorten haben die Pandemie erfunden und ausgerufen, um dich gefügig zu machen und dir irgendwelche toxischen Substanzen zu verabreichen."

Die Leute lassen sich von gegenläufigen Fakten nicht irritieren, was ihr Weltbild stört, wird ausgeblendet. Ihre phantasiegeleitete, mitunter ans Wahnhafte grenzende Realitätsverleugnung ist gegen jede wohlmeinende Korrektur perfekt abgeschottet. Aufklärung stößt an ihre Grenzen.

Angesichts der Sturheit und Unbelehrbarkeit der Querdenker und Impfgegner fiel mir eine Passage aus Eugen Ruges Roman Metropol ein: Der Richter Wassili Wassiljewitsch Ulrich, der im Auftrag Stalins die Schauprozesse mit ihren wahnsinnigen Geständnissen durchführt, kommt zu der Erkenntnis:

Die Menschen glauben, was sie glauben wollen. Betonung auf wollen. … Nein, der Glaube der Menschen hängt nicht von Fakten ab, nicht von Beweisen. Schlimmer noch – und das ist fast so etwas wie ein zweiter Teil der Erleuchtung, eine Steigerung: Man kann ihnen Fakten liefern, man kann sie widerlegen, es hilft nichts. Im Gegenteil, wer etwas glauben will, findet einen Weg! Er wird sich durch den winzigen Spalt quetschen, den die Wahrheit ihm lässt. Wird die Dinge so lange drehen und wenden, bis sie wieder in seinen Glauben hineinpassen, und seine ganze Klugheit wird ihn nicht etwa daran hindern, sondern ihm noch dabei behilflich sein.

Aus dem Roman "Metropol"

Der große Alltagspsychologe Gerhard Polt hat die Ohnmacht des aufklärerischen Ansatzes einmal in seinem berühmten Sketch Nikolausi vorgeführt, in dem ein Erwachsener vergeblich versucht, einem kleinen Jungen zu erklären, dass sein Osterhasi in Wahrheit ein Nikolausi ist. Am Ende seiner vergeblichen Bemühungen heißt es kurz und bündig: " … also wenn einer mal sich in einen Gedanken förmlich hineinverrennt, dann ist er ja wie vernagelt."

Die Einsamkeit grassiert

Immer mehr Menschen haben "einen Hass", ohne zu wissen, woher er kommt und worauf er sich richtet. Der frei flottierende Hass träumt davon, eine leidenschaftliche Feindschaft wachzurufen, die die herrschende Gesellschaft, in der alle Konflikte von einem Schaumteppich zugedeckt werden, nicht mehr zu bieten hat.

Herrschaft ist abstrakt und anonym geworden und versteckt sich als Sachzwang. Der Klassenkampf wird nicht mehr geführt und scheint stillgestellt, das Proletariat, das designierte Subjekt der sozialen Revolution, ist verschwunden. Wem sollten wir heute die Schuld geben? Die fiesen, fetten Repräsentanten der herrschenden Klasse, die bei Bert Brecht und George Grosz noch auftauchten, sind weitgehend verschwunden oder an die Peripherie abgewandert, wo die Diktatoren hausen.

Wir leben in einem Kapitalismus ohne Bourgeoisie; die Kapitalisten verschwinden, während die kapitalistische Produktionsweise fortexistiert. Diese wird von smarten Managern und Börsenmagnaten repräsentiert, die von Nachhaltigkeit reden, Yoga betreiben, blendend weiße Zähne haben und unentwegt lächeln. Aber das Unglück existiert weiter, kaum jemand fühlt sich wirklich wohl in seiner Haut.

Psychische und psychosomatische Erkrankungen schießen ins Kraut, Drogen- und Alkoholkonsum nehmen stetig zu, immer mehr Menschen greifen regelmäßig zu psychoaktiven Substanzen und regulieren ihre Gefühlszustände pharmakologisch. Die Suizidrate ist hoch. Sie ist nach Emile Durkheim ein Seismograph für den Grad an Anomie, der in einer Gesellschaft herrscht. An einem Übermaß an Anomie, das heißt Normunsicherheit und Orientierungsverlust, können Menschen verzweifeln. Die Einsamkeit grassiert.