Von einer "niemals verhandelbaren Staatsräson"

Georg Schuster

Eine zwischenstaatliche Anomalie und ein wenig Hin und Her, das sie begleitet. Der deutsche Anti-Antisemitismus (Teil 2 und Schluss)

Der erste Text dieses Zweiteilers thematisierte den deutschen Stolz auf die Erinnerungskultur und ihren politisch-moralischen Gebrauchswert, der nicht schwindet. Er will seine höhere Berechtigung also auch noch dadurch unterstreichen, dass die "historische Verantwortung" in Politikern und Bürgern fortlebt, die durch ihre "späte Geburt" deutlich von den Ereignissen des Erinnerns getrennt sind.

"Keine leeren Worte"

Genau daraus erklärt sich auch die unverbrüchliche Verbundenheit mit dem Staat Israel: "Die besondere Verantwortung Deutschlands für den jüdischen Staat ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.

Und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben." So Angela Merkel 2008 vor der Knesset - Sätze, die anlässlich des jüngsten Gaza-Kriegs gerne wiederholt wurden, um Israels Recht zu unterstreichen, "sich im Rahmen der Selbstverteidigung gegen die Angriffe zu wehren" (Regierungssprecher).

Dabei wird der Treueschwur von den Regierungen in Deutschland und Israel nicht missverstanden. "In der Stunde der Bewährung" ist keine Bundeswehr-Verstärkung gegen die Hamas oder den Iran zu erwarten. In der Nahost-Diplomatie vertritt die Bundesrepublik ihr Interesse und nicht das israelische, das sie dafür zu nutzen versucht.

Auch die Haltungen zur Zwei-Staaten-Lösung oder zur Siedlungspolitik stimmen keineswegs überein. Berlin und Jerusalem wissen, dass der tatsächliche Garant der israelischen Souveränität, die sich fortwährend bedroht sieht und sich deshalb kontinuierlich ausweitet, Washington heißt. In den Waffengeschäften ist der deutsche Beitrag zu Israels Kriegen evident, besteht ansonsten aber in der öffentlichkeitswirksamen Deklaration ihres "defensiven Charakters" und in der entsprechenden Abschwächung internationaler Resolutionen.

Daneben und dafür wünscht sich die BRD mehr außenpolitisches Gewicht, und so "fordert SPD-Ko-Parteichef Norbert Walter-Borjans im Gegenzug für deutsche Waffenlieferungen eine Mitsprache beim Umgang Israels mit Konflikten". Deutschland praktiziert also keineswegs eine Nibelungentreue - und nach der Seite hin bleiben die Worte der Kanzlerin tatsächlich ein wenig leer.

"Nicht verhandelbar" sind sie jedenfalls in dieser Hinsicht: Mit seiner unbedingten Israel-Solidarität bescheinigt sich das geläuterte Deutschland erneut eine staatsmoralische Güteklasse eigener Art, die es für die Liga der Weltordner empfiehlt. Das Wächteramt und der Definitionsanspruch in Sachen Antisemitismus daheim und auswärts sind darin eingeschlossen.

Bürger zweifeln

Trotzdem gehören Meldungen wie diese zum bundesdeutschen Alltag: "Der Nahostkonflikt prägt offenbar immer mehr das Israel-Bild der Deutschen. Lediglich 36 Prozent der Bundesbürger stehen dem jüdischen Staat positiv gegenüber - fast die Hälfte hat dagegen eine schlechte Meinung über Israel. (…) Die Diskrepanz zwischen der offiziellen deutschen Politik und den Einstellungen vieler Bundesbürger ist groß" (Bertelsmann-Studie).

Und weil diese Bundesbürger die offizielle Engführung von Antizionismus gegen Israel und allgemeiner Judenfeindschaft auf ihre Art verstanden haben, haben etliche davon auch an den Juden in Deutschland und anderswo etwas auszusetzen: "Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss", beklagen 15 Prozent. "Immer wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören", ärgert 49 Prozent. Und "bei der Politik, die Israel macht", können 28 Prozent verstehen, "dass man etwas gegen Juden hat" (Erhebung der Uni Bielefeld) Die marxistische Zeitschrift Gegenstandpunkt analysiert dies als "ein staatsbürgerliches Unverständnis gegenüber der nationalistischen Anomalie eines bedingungslosen Solidaritäts-Bonus gegenüber einem anderen Staat", wie er ansonsten nur innerhalb einer Nation üblich ist: Right or wrong, my country.

Bemerkbar sei darin "ein erwachsen gewordenes, imperialistisches Staatsbürgerbewusstsein. Es kommt gar nicht her von einer alt- oder neofaschistischen Judenfeindschaft, wüsste auch gar nicht recht, warum es eigentlich antisemitisch sein sollte, aber auch nicht, warum sich eine Nation wie die deutsche mit ihren weltweiten Interessen wegen Hitler und der alten Geschichten durch eine bindende Voreingenommenheit für Israel in seinen machtpolitischen Optionen einschränken lassen sollte."

Diese Art von Emanzipation ist also ebenfalls ein Ertrag der erfolgreichen "Erinnerungskultur", die sich nun kritisch und anspruchsvoll gegen das ursprüngliche Objekt ihrer Bußfertigkeit wendet.

Die Presse moniert

Fördernd und zugleich mäßigend wirkt hier auch der deutsche Qualitätsjournalismus. Teils reflektiert er die tatsächliche Unzufriedenheit der deutschen und europäischen Regierungen mit ihrem Einfluss auf Israel, den die USA dominieren. Teils macht er auch eigenständige Politikmaßstäbe auf, an denen er die Entfaltung der deutschen Souveränität für mangelhaft befindet.

Die Süddeutsche Zeitung (17.5.21) beklagt, "die Staaten der EU (beließen) es bei den üblichen Appellen, statt sich aktiv als Vermittler einzuschalten" - als ob der Versuch dazu schon mit seinem Erfolg zusammenfiele. Der Spiegel (21/21) nimmt die stattfindende Verwechslung und irritierende Gleichsetzung von proisraelischer und vergangenheitsbewältigender Ideologie mit ihren politischen Zwecken als "unbestimmte, von historischer Schuld, Moral und einer guten Portion deutscher Selbstgerechtigkeit überkomplizierte Beziehung" wahr, die "nie entwirrt wurde".

Statt dies zu tun, vermisst das Nachrichtenmagazin bei der Israel-Solidarität die "Verpflichtung, als ehrlicher Makler aufzutreten und eine Lösung zu suchen, selbst wenn diese der israelischen Regierung nicht gefällt" - als ob die deutschen Außenminister diese bismarcksche Haltung nicht für sich in Anspruch nähmen. Die taz (20.5.21) entnimmt Merkels Bekenntnis vor der Knesset "einen beunruhigenden Subtext: Wir unterstützen Israel nicht aus Überzeugung oder weil wir es für politisch richtig halten, sondern weil es vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte leider, leider getan werden muss".

Weil sie nicht weiß, wie das zusammenpasst, findet die Zeitung es unglaubwürdig: "Glaubwürdigkeit bedeutet, sich nicht auf 'deutsche Staatsräson' zurückzuziehen, sondern überzeugende Argumente für die Unterstützung zu liefern." Offenbar wünscht sich die taz die praktizierte Staatsmoral noch eine Drehung moralischer. Weil die israelische "Vorwärtsverteidigung" das aus Sicht der Zeitung nicht recht zulässt, räumt sie ernüchtert ein: "Wer das nicht kann, könnte einfach mal gar nichts sagen" und den asymmetrischen Gaza-Krieg beschweigen.

Die "Bild" kämpft

Die Bild-Zeitung" agiert hier unterschieden anders und nach dem Essential ihres Gründers, "das jüdische Volk und das Existenzrecht des Staates Israel zu unterstützen" (Axel Springer). Was der 1967 formulierte, rennt heute einerseits offene Türen ein. Weder wankt die offizielle Solidaritätsbekundung mit dem "Volk" und dem Staat der Juden, noch steht die israelische Machtentfaltung auch nur entfernt infrage.

Andererseits gibt es das erwähnte erwachsen gewordene Staatsbürgerbewusstsein. Dessen Ressentiments meint Bild beackern und belehren zu müssen, damit die philosemitische Staatsdoktrin und das damit verbundene nationale Selbstbild keinen Schaden nehmen. Gaza empfiehlt sich dafür als Anlass.

Also soll der deutsche Leser die Sirenen in Tel Aviv heulen hören und die Leute vom Strand in die Bunker flüchten sehen, damit er die Perfidie der Hamas unreflektiert fühlen kann. Auch wird dafür gesorgt, dass die "Klima-Ikone Greta Thunberg (18)", die das Blatt und viele seiner Leser ohnehin nicht leiden können, "mit antisemitischen Behauptungen für massive Empörung sorgt", weil sie einen Tweet "der kanadischen Israel-Boykotteurin Naomi Klein (51)" teilt.

Um die Volkserziehung zu komplettieren, liefert "Bild" noch fertige Antworten zur Frage: "Wie erkläre ich meinem Kind, dass Greta falsch liegt?" (11.5.21), "Merkels Flüchtlingspolitik" bekommt nachträglich einen Tritt ab, weil sie "zehn- oder hunderttausendfach eine Ideologie importiert (hat), in deren Mittelpunkt der Jude als ewiges Feindbild steht." (18.5.) Folge: "Während die Raketen auf Israel fliegen, explodiert auf Deutschlands Straßen offener Judenhass!" (16.5.), was die "Tagesschau beschönigt" (17.5.), weil sie die Gefahr durch hunderttausend Hasser nicht ernst nehmen will. Usw., tagelang, mehrseitig.

Auch nach der Waffenruhe entgeht "Bild" keine "Entgleisung: Beim Parteitag der Grünen verglich eine Gast-Rednerin die Kritik an Klimaforschern mit der Verfolgung von Juden" (12.6.), weil die "Publizistin Carolin Emcke (53, u.a. SZ)" es wagte, eine historische Reihe von Demagogie gegen Juden und Kosmopoliten, Feministinnen und Virologinnen hin zu Klimaforscherinnen zu konstatieren bzw. zu befürchten. Wegen eines analogen Vergleichs musste der Antisemitismusbeauftragte, wie gesehen, bereits einem afrikanischen Philosophen auf die Finger klopfen.

So ungefähr wacht auch Bild, einen Ex-BND-Chef zitierend, über "die DNA des deutschen Staatsverständnisses" und dessen pro-semitisches Alleinstellungsmerkmal.

P.S. zum "importierten Antisemitismus"

Es ist eine Sache, den Rassismus zu kritisieren, in den Palästina-Anhänger dann verfallen, wenn sie jüdische Individuen in Deutschland für Militäraktionen des Staates Israel zuständig machen und angreifen. Eine andere Sache ist dies: "Ehrlich machen heißt zugeben: Wir haben Antisemitismus importiert. Mit der faktischen Zuwanderung aus islamischen Ländern wurden auch die kulturellen Prägungen aus diesen Ländern importiert. Wie wir während des aktuellen Nahost-Konfliktes sehen, haben wir in Deutschland zu wenig getan, um den radikalen Islam und mitgebrachten Antisemitismus zu bekämpfen. (…).

Deutschland muss alles dafür tun, dass jüdisches Leben in Deutschland sicher ist. Zugewanderte, die das nicht akzeptieren wollen, haben hier keinen Platz und müssen wieder gehen." (DIE LINKE. Osnabrück-Land, Facebook 17.5.21) Warum fällt solchen Linken, wenn sie einen ‚Hintergrund‘ für brennende Davidsterne auf deutschen Plätzen suchen, an erster Stelle gleich der "mitgebrachte Antisemitismus" ein?

Zählen Gegner des Zionismus denn nur als kollektives Sicherheitsrisiko aus "kultureller Prägung", das "wir" blauäugig ins Land gelassen haben? Fragen, die man Leuten stellen sollte, wenn sie ihrerseits den offiziellen Pro-Semitismus benutzen, um einen Stich im parteiinternen Streit um das rechte Maß an "Zugewanderten" zu machen.

Anstelle einer Kritik ist aber auch die Gegenseite irgendwie darum bemüht, deutsche Werte ins Feld zu führen: "Der Landesverband DIE LINKE. Niedersachsen distanziert sich in aller Form von diesem Beitrag. In einem Land, von dem der Holocaust ausging, den Antisemitismus als Importware darzustellen, ist geschichtsvergessen, eine Verharmlosung des Hasses gegen Juden sowie ein schwerer Angriff auf Menschen muslimischen Glaubens." (ebd.)

Beide Seiten, so die "taz", "berufen sich dabei auf die gleiche Instanz, nämlich Gregor Gysi. Der außenpolitische Sprecher der Fraktion hatte im Bundestag eingeräumt, es gebe auch ein Problem mit islamischem Antisemitismus in Deutschland. (…) Gysi nannte aber auch den Nahost-Konflikt als Treiber, bezeichnete die aktuellen Zwangsräumungen palästinensischer Familien als Provokation Netanjahus und forderte Deutschland auf, eine Vermittlungsrolle zu übernehmen."

Dieser alternative Ruf nach dem "ehrlichen Makler" (s.o.) spricht dem jüdischen Staat eine dezidierte Mitschuld zu. Das ist zwar etwas anderes, als dessen politische Zwecke zu ermitteln und zu kritisieren, taugt aber möglicherweise zur salomonischen Streitschlichtung. Wenn nicht, muss am Ende vielleicht ein deutsches Gericht entscheiden, welche Verstöße gegen welche Grundsätze der Linken einen Parteiausschluss rechtfertigen.