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Vorwürfe der libyschen Küstenwache: Der deutsche Kapitän der Lifeline ist sich keiner Schuld bewusst

Das Rettungsschiff "Lifeline" im Hamburger Hafen unter dem früheren Namen Sea-Watch 2. Foto (von 2016): Hol and / CC BY-SA 4.0

Mit dem EU-Gipfel wird der Aktionsradius der NGOs deutlich eingeschränkt - eine Konsequenz aus einer Kampagne, zu der das Verhalten der Hilfsorganisationen mit beigetragen hat

Er sei sich keiner Schuld bewusst, sagt [1] der Kapitän der Lifeline, seine Mission habe 234 Menschen gerettet. Das maltesische Gericht in Valetta ist von der Unschuld des deutschen Kapitäns aber noch nicht überzeugt.

Gegen Hinterlegung von 10.000 Euro Kaution wurde Claus-Peter Reisch auf freien Fuß gesetzt. Seine Bewegungsfreiheit ist auf die Insel begrenzt, er musste den Reisepass abgeben [2]. Das Schiff wurde beschlagnahmt.

Die Lifeline ist angeblich nicht registriert [3]. Gegen den Kapitän der Lifeline wird zudem der Vorwurf erhoben, dass er sich den Anweisungen der libyschen Küstenwache widersetzt und unerlaubterweise Menschen aufgenommen habe, welche die dazu befugte libysche Küstenwache, die die Aufsicht über die Rettungsaktion hatte, sonst wieder zurück nach Libyen gebracht hätte.

Das fügt sich zum politischen Vorwurf, den zuletzt auch der französische Staatspräsident Emmanuel Macron gegenüber den nichtstaatlichen Hilfsorganisationen (NGOs) gemacht hat [4]: dass sie das Geschäft der Schlepper unterstützen.

In Libyen kommen Menschen um, die die Küstenwache nicht schützt

Die NGOs argumentieren wie Kapitän Claus-Peter Reisch. Hauptsache sei, Menschenleben zu retten. Dazu gehört auch die Tatsache, dass es in Libyen keinen "sicheren Hafen" gebe, wegen der grauenhaften Bedingungen in den Lagern für die Migranten. Der libyschen Küstenwache machen sie den Vorwurf, dass sie brutal vorgeht und nicht die Menschen im Blick hat, sondern Gehilfin einer harten Abschottungspolitik der Europäer ist.

Aktuelle Nachrichten melden 63 Vermisste vor der libyschen Küste [5], die möglicherweise in Zusammenhang mit einer Rettungsaktion stehen, für welche die libysche Küstenwache die alleinige Verantwortung hatte.

Davor gewarnt, dass es zu Toten kommen könnte, wurde schon vor einigen Tagen. Da war noch von 100 Verschwundenen die Rede [6]. (Nachtrag: Die Zeit berichtet [7] aktuell von mindestens 218 Menschen, "die seit dem vergangenen Freitag nördlich und östlich von Tripolis ertranken").

Die politische Frage dazu, die nun von den Hilfsorganisationen aufgeworfen wird, lautet, ob dies nun häufiger passieren wird, weil der Aktionsradius ihrer Schiffe deutlich eingeschränkt wird.

Die Rettung der EU und Italiens

Bei den Vereinbarungen auf dem EU-Gipfel war diese Einschränkung ein wichtiger Punkt. Es ging darum, Italien wieder ein gutes Gefühl zu geben. Für Innenminister Salvini sind die NGOs "stellvertretende" oder Vize-Schlepper, er mag sie nicht. Wie die Identitären und andere Rechtsgesinnte ist er der Überzeugung, dass schon viel bei der "Verteidigung Europas" geholfen wäre, wenn die Hilfsorganisationen nicht mehr vor der Küste Libyens aufkreuzen.

Es ist ein naiver Gedanke, aber er hat eine ernstzunehmende politische Mehrheit hinter sich. Mit der ist Salvini Innenminister geworden und dafür hat er jede Menge Unterstützer auch außerhalb Italiens, deren Menschenbild wie etwa bei Orbán deprimierend ist.

Voraussetzung dafür, dass gegen die NGOs derart Stimmung gemacht werden kann, die sich in eine Politik gegen die Arbeit der Hilfsorganisationen übersetzte, war eine auf vielen Fronten agierende Diffamierungs-Kampagne gegen die Arbeit der Hilfsorganisationen einserseits - sowie, auf der Seite der NGO-Vertreter, eine fatale Kombination aus einem von keinen kritischen Eigenbefragungen angerührten moralischem Sendungsbewusstsein, dazu Naivität und nicht selten Überheblichkeit gegenüber Argumenten und Einwänden ihrer Kritiker.

Den Kontext einfach anderen überlassen?

Man gab sich keine Mühe, die Vorwürfe, wonach die Präsenz der NGOs eine Rolle im Kalkül der Schlepper spielt, in einer überzeugenden Öffentlichkeitsarbeit zu entkräften. Ganz im Gegenteil wurde durch die Öffentlichkeitsarbeit der Hilfsorganisationen und ihrer Vertreter und Unterstützer in Mitteilungen in sozialen Netzwerken, auf YouTube-Videos etc., der Eindruck erweckt, dass sie Migranten regelrecht dazu ermutigen, die riskante Reise zu unternehmen.

Auch der, weil sie so viele angeht, sehr wichtigen Diskussion darüber, dass die innenpolitische Situation in Italien immer empfindlicher auf die Neuankommenden reagierte, die von den NGO-Rettungsschiffen dorthin gebracht wurden, stellte man sich überhaupt nicht. Sich hier lediglich auf die humanitäre Mission zu beschränken, mag in bestimmter Beziehung richtig und korrekt sein, politisch gesehen war das weltabgewandt und naiv, wie sich dann auch an der Kampagne gegen die NGOs zeigte.

Das fiese Theater um die Hilfsorganisationen und wen sie da retten ("Arbeitsmigranten keine Flüchtlinge!" wird dauernd gerufen, auch das Zeugnis einer unglaublichen, moralischen Selbstgerechtigkeit nur diesmal auf der anderen Seite) ist da nur ein Nebenschauplatz. Er bekommt viel Aufmerksamkeit, weil dort vor den Küsten das Drama am größten ist und die Fallhöhen zwischen Anspruch und Wirklichkeit dank beschönigender, biederer, engstirniger Berichterstattung leicht ausgenutzt werden können.

Der politische Plan?

Geht es um die kompliziertere politische Situation in Libyen selbst, im Hinterland zur Bühne, lässt die Aufmerksamkeit sofort nach. Aber wie will man den Push- und Pullfaktoren, die sich aus demografischen, wirtschaftlichen und politischen Gründen in Afrika in ganz anderen Dimensionen ergeben als aus der Rettungsarbeit von NGOs, mit einem durchdachten politischen Plan begegnen, wenn die Lage in Libyen selbst nur "die "zweite Geige" spielt?

Europa habe einen größeren Manövrierraum, als er zunächst gedacht habe, sagt Stephen Smith. Der Afrikanist, der als Journalist in Frankreich bei Le Monde und Libération gearbeitet hat, ist mit seinem Buch "La ruée vers l’Europe", übersetzt etwa mit "Ansturm auf Europa", in aller Munde. Er beschreibt den "Migrationsdruck", auf den sich Europa einstellen muss, so eindringlich, als ob er das aus einem Buch der Neuen Rechten kopiert hätte.

Seine These lautet: Angesichts der demografischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Afrika und Europa ist eine massive Migration Richtung Norden unausweichlich. Laut Prognosen wird Europa 2050 aus 450 Millionen alternden Bewohnern bestehen, während Afrika von 2,5 Milliarden mehrheitlich jungen Menschen bewohnt sein wird.

Laut Smith wird dasselbe geschehen wie früher in Europa: Zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg wanderten 60 Millionen - ein Fünftel der Bevölkerung - aus, vor allem Richtung USA. Laut einer Gallup-Umfrage wollen 42 Prozent der Afrikaner im Alter zwischen 15 und 25 Jahren auswandern.

"Um die Masse von Jungen, die in den Arbeitsmarkt eintreten, zu absorbieren, müssten jährlich 200 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden." Man ist weit davon entfernt.

NZZ, Exodus aus Afrika [8]

Niemals zuvor habe man eine solchen "Migrationsdruck" gekannt, sagte Stephen Smith in einem Gespräch mit Le Point Afrique [9], das er Anfang Februar geführt hat.

Dort behauptet er, dass Europa nicht der "schlaffe Riese" sei, für das es oft gehalten wird, sondern dass es Handlungsmargen gebe, wie sich daran zeige, dass Europa imstande war, 2,5 Millionen Migranten mit einer 6 Milliarden Euro-Zahlung an die Türkei aufzuhalten und dass Italien durch geheime Vereinbarungen mit Warlords 500.000 in Libyen blockiert habe. Europa baue durch Verhandlungen mit Herkunftsländern auch weitere Mauern auf. Aber:

Das ist noch immer Zug um Zug. Das ist eine Politik, die nicht reichen wird, um sich den (Migrations-)Wellen entgegenzustellen, die sich ankündigen und sehr zahlreicher sein werden.

Stephen Smith [10]

Ausschiffungsplattformen und Militärpräsenz

Zur Auseinandersetzung darüber, wie die "Ausschiffungsplattformen" [11] aussehen sollen, gehört auch die Frage, in welchem afrikanischen Land sie überhaupt aufgestellt werden könnten.

Mit welchen Spannungen und Empfindlichkeiten man zu rechnen hat, zeigt sich an der internationalen Empörung über die Zustände in den libyschen Haftanstalten, in die Migranten gebracht werden.

Und sie zeigen sich in einem Dementi des italienischen Botschafters in Libyen, Guiseppe Perrone auf Twitter [12]. Perrone, der maßgeblich für die guten Kontakte in Libyen sorgt, stellt darin klar, dass Italien an der Südgrenze Libyens keinesfalls eine Militärbasis errichtet, sondern nur den Grenzschutz im Rahmen eines EU-Programms ausbaut. Der von Frankreich unterstützte Feldmarschall Hafter warnte [13] schon mal, er werde keine militärische Präsenz dulden.

Wer wissen will, bis zu welchen Graden sich die Machtkämpfe in Libyen hochschaukeln, der sei auf die aktuelle Nachricht der Schließung von vier Ölhäfen [14] verwiesen. Im Hintergrund [15] spielt sich dazu eine Konkurrenz der beiden EU-Länder Frankreich und Italien um Einflusssphären in Libyen ab.

Wer wissen will, wer den größten Einfluss auf das Geschehen in der libyschen Hauptstadt hat, der sei auf eine Darstellung des Milizenkartells in Tripolis [16] verwiesen, zu dessen Schlussfolgerung gehört, dass die UN und westliche Nationen zu einer Situation beigetragen haben, die das Funktionieren von Institutionen untergräbt.


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https://www.heise.de/-4096923

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/lifeline-kapitaen-auf-kaution-frei-15670243.html
[2] https://www.timesofmalta.com/articles/view/20180702/local/lifeline-captain-arraigned-as-protesters-wait-outside-court.683377
[3] https://www.timesofmalta.com/articles/view/20180702/local/lifeline-captain-arraigned-as-protesters-wait-outside-court.683377
[4] https://www.heise.de/tp/features/Malta-NGO-Schiff-Lifeline-darf-anlanden-4093378.html
[5] http://www.spiegel.de/politik/ausland/libyen-63-menschen-nach-untergang-eines-fluechtlingsschiffs-vermisst-a-1216305.html
[6] http://www.independent.com.mt/articles/2018-06-29/world-news/Libya-says-100-migrants-missing-feared-dead-off-Tripoli-6736192682
[7] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-07/fluechtlinge-mittelmeer-flucht-tote-2018-organisation-fuer-migration
[8] https://www.nzz.ch/wirtschaft/exodus-aus-afrika-ld.1367902
[9] http://afrique.lepoint.fr/actualites/afrique-stephen-smith-on-n-a-jamais-connu-une-telle-pression-demographique-02-02-2018-2191522_2365.php
[10] http://afrique.lepoint.fr/actualites/afrique-stephen-smith-on-n-a-jamais-connu-une-telle-pression-demographique-02-02-2018-2191522_2365.php
[11] https://twitter.com/jorgencarling/status/1012588540830593024
[12] https://twitter.com/Assafir_Perrone/status/1013019255841984512
[13] https://www.libyaherald.com/2018/06/29/lna-warns-against-presence-of-foreign-troops-in-southern-libya/
[14] https://www.theguardian.com/world/2018/jul/02/four-libya-oil-ports-closed-amid-corruption-allegations-allies-khalifa-haftar?CMP=share_btn_tw
[15] https://www.news24.com/Africa/News/west-libya-in-strongmans-sights-after-conquering-east-20180630
[16] http://www.smallarmssurvey.org/fileadmin/docs/T-Briefing-Papers/SAS-SANA-BP-Tripoli-armed-groups.pdf