Waffenruhe im Pulverfass Aserbaidschan-Armenien

Der Konflikt mit geo- und energiepolitischem Zündstoff bleibt gefährlich. Die EU kommt mit der Politik, Russland als Vermittler auszubooten, an den Rand ihrer Möglichkeiten.

Gestern Abend verkündete Armen Grigoryan, der Sekretär des armenischen Sicherheitsrates, via TV eine Waffenruhe. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan war die Tage zuvor neu aufgeflammt, nachdem Aserbaidschan Orte in Armenien angegriffen hatte. Berichtet wird auf armenischer Seite von über 100 Toten. Aserbaidschan machte "Provokationen" seitens Armenien - so etwa die Verstärkung von Einheiten auf armenischem Gebiet - für seine kriegerischen Aktionen verantwortlich.

Der Konflikt zwischen beiden Ländern hat eine lange Vorgeschichte und gilt als hyperkomplex. Eine tragfähige Lösung ist nicht in Sicht. Die Waffenruhe sei eingetreten, es gebe kein Feuer, wurde gestern Abend aus Armenien berichtet. Es steht aber auf dünnem Boden.

Proteste, die sich gestern in Jerewan, der Hauptstadt Armeniens, nach einer Rede des Premierminister Nikol Paschinjan vor dem Parlament abspielten, machen deutlich, wie entzündlich das politische Klima ist, das von einem irritierenden Mix an Informationen, Gerüchten, Propaganda und Absichten gekennzeichnet ist. Auch aus Gjumri und Stepanakert wurden Proteste gemeldet.

Nikol Paschinjan hatte vor den Abgeordneten von einem Friedensdokument gesprochen, das er unterzeichnen wolle. Verstanden wurde dies von der Opposition als Konzession an Forderungen Aserbaidschans, die ein Zurücknehmen eigener Positionen im Konflikt über Berg-Karabach bedeute. Tausende gingen auf die Straße, um vor dem Regierungssitz zu protestieren und verlangten den Rücktritt des Premiers.

Dieser erklärte, dass dies ein Missverständnis sei. Er habe kein solches Papier unterzeichnet; Paschinjan machte "einen Informations-Angriff" für die Turbulenzen verantwortlich.

Beide Nachbarstaaten, deren Streitigkeiten tiefe Wurzeln haben (Der endlose Konflikt im "schwarzen Garten"), stehen im Zentrum geopolitischer Interessen, die sich durch den Ukraine-Krieg und die damit eskalierende Energieversorgungs-Konkurrenz verschärft zeigen.

Russland ist Schutzmacht Armeniens. In Moskau bemüht man sich aber auch um ein gutes Verhältnis mit Aserbaidschan. Die EU setzt darauf, mithilfe der reichen Erdgasvorkommen in Aserbaidschan russisches Erdgas zu ersetzen. Unterfüttert wird dies mit geopolitischen Ambitionen, die russische Vermittlerrolle im Konflikt zwischen den beiden ehemaligen Sowjetländern weniger relevant zu machen.

Ein "verlässlicher Partner"

So kam es vor gut zwei Wochen, am 31. August, zu einem trilateralen Treffen in Brüssel zwischen dem aserbaidschanischen Präsidenten Aliyew, dem armenischen Premierminister Paschinjan und der Sputze des EU-Rates. Im Mittelpunkt stand ein Friedensvertrag, der zwischen den drei Parteien ausgehandelt werden soll.

Eine große Öffentlichkeit wollte und bekam die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Mitte Juli mit einer "guten Nachricht für den Winter und darüber hinaus". Sie teilte mit, dass eine Vereinbarung mit Aserbaidschan getroffen wurde, um die Gaslieferungen aus dem Land in die EU zu verdoppeln.

Dabei bezeichnete sie Aserbaidschan als "verlässlich": "Die EU wendet sich an vertrauenswürdige Energielieferanten. Aserbaidschan ist einer von ihnen."

Die deutschen Interessen an Aserbaidschan zeigen sich auch an Treffen zwischen uniformierten Vertretern des Berliner Verteidigungsministeriums und dem Aserbaidschans, um über eine bilaterale militärische Zusammenarbeit zu sprechen.

Das wirft nun angesichts der Angriffe Aserbaidschans auf armenisches Territorium (nicht in Bergkarabach) ein ungutes Licht auf die Werte-Ausrichtung der EU und deren große Säule Deutschland. Das Engagement für Aserbaidschan fällt den moralisch so Sicheren nun auf die Füße.

Ratlos

Konfrontiert mit den militärischen Agressionen Aserbaidschans zeigte sich der Sprecher der Bundesregierung ratlos, wie auch das Auswärtige Amt sich in unverbindliche Aussagen rettete.

Man kann, ohne viel zu spekulieren, vermuten, dass in dem 90-minütigen Gespräch zwischen dem russischen Präsidenten Putin und dem deutschen Kanzler Scholz über mehr gesprochen wurde, als offiziell nach außen protokolliert wurde. Wohl auch über Armenien und Aserbaidschan. Russland als Gesprächspartner auszuschließen, wie es Ursula von der Leyen verfolgt, ist keine Realpolitik.

Aus den USA kommen da auch andere Signale. Der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, erklärte, es bestehe "kein Zweifel", dass Russland sowohl in Armenien als auch in Aserbaidschan "übermäßigen Einfluss" habe: "Wir haben Russland dazu aufgerufen und tun dies auch weiterhin, diesen Einfluss und dieses Druckmittel so einzusetzen, dass eine Einstellung der Feindseligkeiten und im weiteren Sinne eine Deeskalation der Spannungen erreicht wird".