Wahlkampf in Deutschland: Die Wahrheit zwischen den Narrativen
Bild: shutterstock.com
Polit-Dokumentation "Die Vertrauensfrage": Scholz auf dem Taurus, Merz im Wald und Habecks schwarze Weste – Stephan Lambys Versuch einer Politik-Erklärung in der ARD.
Vertrauen ist der Anfang von allem.
TV-Werbung der Deutschen Bank, 1995
Auf dem Taurus geht es los. Olaf Scholz rudert. Er rudert heftig in kurzen Hosen und einen Moment lang fragt man sich: Warum um Himmels willen hat der Mann sich so filmen lassen? Wahrscheinlich steckt dahinter der Versuch, sich agil und dynamisch zu zeigen, sportlich.
Ein zweifelhafter Witz
Das Ganze ist natürlich auch ein zweifelhafter Witz: Wer bislang wirklich geglaubt hatte, es handele sich bei einem "Taurus"um Langstreckenraketen, mit denen die Ukraine sogar Moskau bombardieren könnte, der erfährt in diesem Film die Wahrheit: Tatsächlich ist dies ein Rudergerät der Oberklasse, das der Bundeskanzler irgendwo zu seiner Ertüchtigung im Kanzleramt stehen hat: immerhin mit Blick nach Osten.
Aber auch Friedrich Merz erlebt man in diesem Film zwischendurch betont "anders" und locker. Wenn er im Wald mit Lamby redet, spricht Merz ein wenig weniger gestelzt und affektiert als bei seinen aufgeblasenen Reden im Bundestag. Und auch Scholz legt von Lambys Kamera das Schlumpfige ab.
Gottesurteil übers Narrativ
Es ist Wahlkampf in Deutschland: Jeden Tag erlebt man ein neues Quadriell, Triell, Duell im Fernsehen, mit anschließender Talk-Show-Nachbereitung.
Und wenn irgendwann einmal Zeit sein sollte, über diese Art von medialen Politikformaten nachzudenken und sie zu reflektieren, dann könnten die, die das tun, womöglich schnell in Kulturpessimismus verfallen.
Denn die mittelalterliche Duellmetapher, die Idee des persönlichen Zweikampfs auf Leben und Tod sowie des Gottesurteils steht – Gott wäre in diesem Fall dann der Wähler – und dürfte kaum mehr Komplexität moderner Politik angemessen sein – und die nötige Komplexitätsreduktion leisten sie auch nicht unbedingt.
Denn Probleme werden hier ja nicht reduziert oder auf klare Fragen konzentriert, die dann womöglich sogar noch beantwortet werden müssten, stattdessen feilen alle Beteiligten an ihrem Narrativ, ihrer "Erzählung", die von den Spin-Doktoren in eine "Wahlkampf-Story" gegossen wurde.
Die jeweilige Erzählung des Gegners wird wiederum mit der Axt gröbster Argumente und kindischer Personalisierung attackiert. Olaf Scholz schalt seinen Kontrahenten am Sonntag der Lüge oder nannte seine Antworten "doof". Und Friedrich Merz versuchte Nachfragen und Einwände wegzulächeln wie ein pubertierender Klassenstreber auf dem Pausenhof die Hiebe des Bullys.
Personalisierung und Symbolpolitik
Wem ist mit so etwas geholfen? Den Kandidaten nicht, und den Wählern wohl auch kaum – sie schauen sich das alles eher an wie eine Variante zur Lieblings-Soap oder eine Fortsetzung der ZDF-Miniserie "FC Hollywood" über den FC Bayern der 1990er-Jahre.
Eine Folge dieser Serie war mit einer Triggerwarnung versehen: "Achtung, dieser Film enthält keine einzige Fußballszene." Ähnlich hätte man Stephan Lambys Film auch mit einem Warnhinweis versehen können: "Um reale Politik geht es hier nicht." Aber auch dies wäre ein allzu vorschnelles Urteil.
Denn natürlich gehört Personalisierung und Symbolpolitik zur Essenz des Politischen im 21. Jahrhundert und die öffentliche Darstellung, eben das Narrativ ist ein substantieller Teil dieses Politischen, nicht etwa ein von außen hinzugefügte Zusatz.
Daran gemessen war die Dokumentation "Die Vertrauensfrage – Wer kann Deutschland regieren?" von Stephan Lamby und Christian Bock (in der ARD-Mediathek abrufbar) nicht nur eine wohltuende Abwechslung, sondern auch eine tiefenscharfe Analyse.
Mit Steppjacke im deutschen Wald
Der Bruch der Ampel, der vorgezogene Wahlkampf, die drei Monate zwischen Ampelbruch und "Aschaffenburg" (Nachrichten und Reaktion auf die dortigen Morde sind die aktuellsten Passagen des Films) waren natürlich ein gefundenes Fressen für den ARD-Routinier Lamby: Menschen in Aktion, eine klar in sich geschlossene Erzählung.
In seinen regelmäßigen Filmen über das Politpersonal der Berliner Republik interviewt Lamby die Leute am liebsten in Regierungsfliegern – was man sachlich natürlich damit rechtfertigen kann, dass sie da mal ein paar Minuten Ruhe haben und Zeit.
Zugleich sieht man dann diese schön ausgestatteten, wohl gepolsterten Büros. Bei Oppositionsführer Merz geht das nicht, zumal er mit Privatjets schon ungute mediale Erfahrungen gemacht hat, also geht man mit dem Sauerländer mit Steppjacke im deutschen Wald spazieren.
Die Kamera, die bei Interviews auf der gleichen Augenhöhe liegt, führt dazu, dass Friedrich Merz oft scheinbar von oben herabschaut, und Olaf Scholz leicht von unten herauf.
Veränderung oder Nuancen den Status Quo
"Eigentlich ist es ganz einfach: Er will seinen Job behalten. Den Job mit der meisten Macht in ganz Deutschland. Und er hat etwas dagegen. Aber da sind noch fünf weitere Politiker, die ebenfalls andere Pläne haben. Und dann wird die Sache spannend. Wer schafft es, das Vertrauen der Deutschen zu gewinnen. Verlorenes Vertrauen."
Ist es wirklich so einfach? Es ist ein Narrativ, das Stephan Lamby gleich hier setzt, in den ersten Sekunden seines Films: Ein Narrativ aus Macht und Zweikampf, ein Narrativ, in dem die zwei Kandidaten der klassischen Volksparteien die Hauptrolle haben, ein Narrativ, das mit der Idee des verlorenen Vertrauens spielt.
Mit guten Gründen könnte man argumentieren, dass es in Wahrheit um zwei andere Grundhaltungen geht, die am meisten auf der einen Seite von der AfD und auf der anderen Seite von den Grünen verkörpert werden, genau den beiden Parteien die im letzten Jahrzehnt über die spontanen Umfrageschwankungen hinweg zugelegt haben.
Es ist der Konflikt zwischen Stadt und Land, zwischen Moderne und Tradition, zwischen Bildungsbürgertum und Kleinbürgertum, zwischen Utopismus und Nostalgie. Beide Parteien wollen das Land verändern und bewegen, wo die alten Volksparteien und ihr Wurmfortsatz FDP in unterschiedlichen Nuancen den Status Quo erhalten wollen.
Das ist vielleicht doch zuwenig. Zugleich ist es ja nicht falsch, wenn Scholz auf die Frage, warum Scholz weiter regieren will, antwortet:
"Ich möchte dafür sorgen, dass es unserem Land weiter gut geht, dass wir die Zukunft gewinnen und wir dafür Sorge tragen, dass wir nicht die Dinge, die wir tun müssen, gegeneinander ausspielen – zum Beispiel mehr für die Sicherheit gegen gute Renten, gute Pflege, gute Gesundheitsversorgung, mehr Investitionen in die Infrastruktur und Frieden und Sicherheit sind ein zentrales Thema."
"Möchte ich Teil dieser Erzählung sein?"
Davon ist in diesem Film nicht die Rede. Wie in einer Besprechung des Films erklärt wird, zeige er vor allem die Grenzen des erzählenden Politikjournalismus.
"Die Politikerinnen und Politiker heucheln Authentizität, die letztlich eine Fiktion bleiben muss – und die Filmemacher können, um kritische Distanz aufzubauen und ihrerseits vermeintlich Echtes zu zeigen, nichts tun, als beim Verrutschen dieser Masken hinzuzoomen. Also die Risse einer Inszenierung bloßzulegen, die sie durch das Versprechen von Nähe und Intimität selbst erst erzeugen.
Nur Alice Weidel wollte offenbar nicht so richtig mitmachen beim Spiel, scheinbare Nähe zuzulassen. An einer Stelle beschweren sich Lamby und Bock aus dem Off darüber, wie oft die AfD-Frontfrau die Presse hinauswerfe.
Dass sie an einer Stelle offenbar völlig unverhohlen lügt, ihre Kälte, ihre Unnahbarkeit wirken wie ein ständiger V-Effekt im Sinne Brechts, der auf die stillschweigenden Inszenierungsdeals zwischen den Porträtierten und den filmenden Journalisten hinweist."
Indem genau solche Risse und Deals aber eben deutlich werden, wenn man beim Ansehen dieses Films wirklich hinschaut und nicht gerade bügelt, dann wird klar, dass inzwischen bei aller Sehnsucht nach "großen Erzählungen", auch die Narrative und Symbole längst als "gemacht" erkannt werden.
Es muss keine gute Nachricht sein, wenn man das Faktum feststellt: Auch Wähler entscheiden inzwischen nach ästhetischen Kriterien. Sie "rezensieren" die Kandidaten, aber auch Parteien und Programme. Nicht mehr "nutzt mir das?" oder "ist es gut für Deutschland?", sondern: "Gefällt mir der Kandidat und seine Performance?" und "möchte ich Teil dieser Erzählung sein?"
Die Wahrheit liegt zwischen den Narrativen.