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Warum Guardian und TikTok auf Osama-Debatte mit Löschen antworten

Titelbild der Washington Post nach der Tötung von Osama bin Laden. Bild: justgrimes / CC BY-SA 2.0 Deed

Der Brief von Osama bin Laden stand 20 Jahre beim Guardian online. Dann wurde er auf TikTok in Videos verbreitet. Die Reaktion darauf ist "extrem ungewöhnlich". Kommentar.

Wollen wir wirklich alles Löschen, dem wir nicht oder nur teilweise zustimmen, was wir als krude und falsch ansehen, ja auch als unmoralisch einstufen? Und wer bestimmt, und darf bestimmen, was in diese Kategorien fällt und dann verbannt werden soll aus der Öffentlichkeit?

Aber zuerst: Worum geht es im konkreten Fall genau?

Die britische Tageszeitung The Guardian hat den "Brief an das amerikanische Volk", der Osama bin Laden zugeschrieben wird (hundertprozentige Authentizität konnte damals nicht bestätigt werden [1]), entfernt. Er war dort sehr lange, seit seinem Auffinden vor über zwanzig Jahren, auf der Guardian-Homepage in englischer Übersetzung zu finden.

Der Grund für die Löschung ist: Auf TikTok und anderen sozialen Medien war der Brief Anfang der Woche sehr populär geworden. Nun steht an der Stelle, wo der Brief vorher auf der Website zu sehen war [2]:

Diese Seite zeigte zuvor ein Dokument, das den vollständigen Text von Osama bin Ladens "Brief an das amerikanische Volk" in Übersetzung enthielt, wie in The Observer am Sonntag, dem 24. November 2002, berichtet wurde. Das Dokument, das am selben Tag hier veröffentlicht wurde, wurde am 15. November 2023 entfernt.

Eine weitere Erklärung wurde später vom Guardian daran angefügt [3]:

Das auf unserer Website veröffentlichte Transkript war in den sozialen Medien weit verbreitet worden, ohne den vollständigen Kontext zu nennen. Daher haben wir beschlossen, es zu entfernen und die Leser stattdessen auf den Nachrichtenartikel zu verweisen, in dem es ursprünglich im Kontext stand.

In dem Brief, der immer noch über das Webarchiv abrufbar ist [4], legt bin Laden seine Vorwürfe gegen die Vereinigten Staaten dar, darunter die Unterstützung Israels, die Einrichtung von Militärstützpunkten in islamischen Ländern und die Beteiligung an oder Unterstützung von anderen militärischen Aktionen oder Wirtschaftssanktionen gegen Menschen in der islamischen Welt.

Er rechtfertigt seine Angriffe auf US-Zivilisten mit dem Argument, dass sie die Macht haben, für Regierungen zu stimmen, die eine andere Politik unterstützen, was letztlich einer kollektiven Bestrafung von Zivilisten gleichkommt. Bin Laden äußert sich auch homophob und antisemitisch und macht die Juden als Gruppe für die Auswüchse des US-Kapitalismus verantwortlich.

Auf der Social-Media-Plattform TikTok zog der Brief ab Anfang der Woche große Aufmerksamkeit auf sich. The Wrap führt den Trend zurück [5] auf ein Video von Lynnette Adkins.

Ich möchte, dass jeder mit dem aufhört, was er gerade tut, und "Letter to America" liest. Ich habe das Gefühl, dass ich gerade eine existenzielle Krise durchmache.

Der Journalist Yashar Ali erklärte [6]:

Die TikTok-Posts stammen von Personen aller Altersgruppen, Rassen, Ethnien sowie Denk- und Lebenswelten. Viele von ihnen sagen, dass die Lektüre des Briefes ihnen die Augen geöffnet hat und sie geopolitische Angelegenheiten nie wieder auf dieselbe Weise sehen werden. Viele von ihnen – und ich habe viele von ihnen angeschaut – sagen, dass der Brief sie dazu gebracht hat, ihre Sichtweise zu überdenken, bezüglich dem, was oft als Terrorismus bezeichnet wird, aber durchaus eine legitime Form des Widerstands gegen eine feindliche Macht sein kann.

CNN [7] und New York Times berichteten [8], dass der Brief bis Donnerstag rund 14 Millionen Aufrufe erzielte, wobei, wie die Washington Post erklärt [9], nur 274 Videos den Hashtag #LetterToAmerica benutzten, bevor "Tweets und Medienberichterstattung die Leute dort hinzogen".

300 Videos und 14 Millionen Views kumuliert sind für TikTok-Verhältnisse jedoch eher unspektakulär, wie TikTok in einem Statement selber mitteilte. Es sind auch nicht alle Posts einverstanden mit dem, was im Osama-Brief steht. Einige erklärten einfach den Brief, den Trend oder die Anschläge vom 11. September.

So wurde der empörte Post eines prominenten Twitter-Nutzers [10] über die Videos, der auch einen Zusammenschnitt der Videos enthält, auf X (früher Twitter) 37 Millionen Mal aufgerufen. Und hier handelt es sich um ein einziges Video.

Löschen statt Debattieren

Die Videos würden nun "proaktiv und aggressiv" entfernt, teilte TikTok mit [11]. Auch sperrte das Unternehmen den Hashtag #lettertoamerica in der Suchfunktion des Diensts.

Um es vorab klarzustellen: Aus meiner Sicht haben der Guardian und auch TikTok als private Unternehmen grundsätzlich das Recht zu bestimmen, was in ihren Produkten erscheint oder nicht – ob man das im Einzelfall gut findet oder nicht, steht auf einem anderen Blatt.

Es ist aber kein grundsätzlicher Angriff auf die Meinungsfreiheit. Die dort ausgedrückten Meinungen könnten ja theoretisch auf anderem Weg veröffentlicht werden (was natürlich wieder andere Probleme aufbringt, wenn relevante Informationen und Meinungen von mächtigen Plattformen und Medien generell ausgefiltert werden).

Aber warum wird plötzlich ein Dokument gelöscht und eine Debatte abgewürgt, die man vorher veröffentlicht hat? Dafür bräuchte es eine starke Begründung. Die Erklärung, die der Guardian anführt, ist jedoch wenig befriedigend, um es moderat auszudrücken.

Die britische Tageszeitung verweist plötzlich auf fehlende Kontexte zum Dokument. Aber warum galt das die zwanzig Jahre zuvor nicht, als der Brief auf der Website frei zugänglich war? Warum braucht es überhaupt welche Kontexte genau? Und warum hat man nicht einfach welche hinzugefügt?

Tatsache ist: Am Sachverhalt, am veröffentlichten Dokument, hat sich nichts geändert. Was sich ab Anfang der Woche änderte, war die spezifische Reaktion auf den Brief aufgrund der TikTok-Videos. Deswegen wurde die Seite vom Netz genommen.

Das unabhängige Medium 404media stellt dazu fest, dass das "extrem ungewöhlich" [12] sei. Denn die Löschung wurde ja nicht mit faktischer Fehlerhaftigkeit des Dokuments und einer Gefährdung für Leib und Leben legitimiert.

Die Frage, die wir uns stellen sollten, ist: Wollen wir jedes Dokument, jeden Artikel oder Video, sperren, wenn uns die darin ausgedrückte Einschätzung im gegebenen Fall nicht gefällt?

TikTok sagt, dass die Videos "aggressiv" entfernt und der Hashtag gesperrt wurden, weil die Inhalte die "Regeln der Plattform" verletzen. Auch das erscheint unverhältnismäßig und willkürlich angesichts der dort geführten Debatten, wenn es nicht gar als Blankoscheck zum Canceln für unliebsame Aussagen dienen kann. Je nach Gusto.

Die Aufregung über die relativ kleine Gruppe an TikTok-Nutzern auf den "Brief an Amerika" von Osama bin Laden ist letztlich ein Sturm im Wasserglas. Ohne die mediale Empörungswelle, die auf ein paar TikTok-Videos folgte, und der daran anschließenden Guardian-Löschung des Briefs, was wiederum Verschwörungsmythen und noch mehr Interesse erzeugte, hätte wohl niemand außer den Beteiligten davon erfahren [13].

So ist es nun fast schon ein politischer Skandal – der was genau zeigt? Dass die Generation Z auf TikTok mit Terroristen wie Osama bin Laden sympathisiert und das Ganze undifferenziert auf Israels Gaza-Krieg projiziert?

Selbst wenn dem so wäre – und in dieser pauschalen Form ist es sicherlich falsch –, muss eine Gesellschaft das aushalten. Einen Stopfen draufzusetzen, auf alles, was uns nicht gefällt, selbst auf das, was wir moralisch für verwerflich halten, löst keines der Probleme.

Was falsch ist, sollte kritisiert und widerlegt werden. Westliche Demokratien bieten genügend Mittel und Kanäle, um Debatten zu führen.

Aber es ist natürlich einfacher, eine mediale Empörung zu entfachen, dann den "Delete"-Knopf zu drücken, als sich mit für falsch erachteten Ansichten und Motiven, oder gar mit den Argumenten dahinter, auseinanderzusetzen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9532271

Links in diesem Artikel:
[1] https://archive.is/qMDIG
[2] https://archive.is/xbpov
[3] https://www.theguardian.com/info/2023/nov/15/removed-document
[4] https://web.archive.org/web/20230325034450/https://www.theguardian.com/world/2002/nov/24/theobserver
[5] https://www.thewrap.com/the-guardian-deletes-osama-bin-laden-letter-to-america-tiktok/
[6] https://twitter.com/yashar/status/1724942399431217457
[7] https://edition.cnn.com/2023/11/16/tech/tiktok-osama-bin-laden-letter-to-america/index.html
[8] https://www.nytimes.com/2023/11/16/technology/videos-bin-laden-letter-tiktok.html
[9] https://www.washingtonpost.com/style/2023/11/16/guardian-osama-bin-laden-letter-to-america/
[10] https://twitter.com/yashar/status/1724942399431217457
[11] https://www.spiegel.de/netzwelt/web/tiktok-kaempft-gegen-videos-mit-osama-bin-laden-brief-an-a-9cd92914-3a65-4465-9847-e99b1cd49cde
[12] https://www.404media.co/guardian-deletes-osama-bin-ladens-letter-to-america-after-it-goes-viral-on-tiktok/
[13] https://slate.com/business/2023/11/tiktok-osama-bin-laden-letter-viral-actually-no.html