Warum Guardian und TikTok auf Osama-Debatte mit Löschen antworten

Titelbild der Washington Post nach der Tötung von Osama bin Laden. Bild: justgrimes / CC BY-SA 2.0 Deed

Der Brief von Osama bin Laden stand 20 Jahre beim Guardian online. Dann wurde er auf TikTok in Videos verbreitet. Die Reaktion darauf ist "extrem ungewöhnlich". Kommentar.

Wollen wir wirklich alles Löschen, dem wir nicht oder nur teilweise zustimmen, was wir als krude und falsch ansehen, ja auch als unmoralisch einstufen? Und wer bestimmt, und darf bestimmen, was in diese Kategorien fällt und dann verbannt werden soll aus der Öffentlichkeit?

Aber zuerst: Worum geht es im konkreten Fall genau?

Die britische Tageszeitung The Guardian hat den "Brief an das amerikanische Volk", der Osama bin Laden zugeschrieben wird (hundertprozentige Authentizität konnte damals nicht bestätigt werden), entfernt. Er war dort sehr lange, seit seinem Auffinden vor über zwanzig Jahren, auf der Guardian-Homepage in englischer Übersetzung zu finden.

Der Grund für die Löschung ist: Auf TikTok und anderen sozialen Medien war der Brief Anfang der Woche sehr populär geworden. Nun steht an der Stelle, wo der Brief vorher auf der Website zu sehen war:

Diese Seite zeigte zuvor ein Dokument, das den vollständigen Text von Osama bin Ladens "Brief an das amerikanische Volk" in Übersetzung enthielt, wie in The Observer am Sonntag, dem 24. November 2002, berichtet wurde. Das Dokument, das am selben Tag hier veröffentlicht wurde, wurde am 15. November 2023 entfernt.

Eine weitere Erklärung wurde später vom Guardian daran angefügt:

Das auf unserer Website veröffentlichte Transkript war in den sozialen Medien weit verbreitet worden, ohne den vollständigen Kontext zu nennen. Daher haben wir beschlossen, es zu entfernen und die Leser stattdessen auf den Nachrichtenartikel zu verweisen, in dem es ursprünglich im Kontext stand.

In dem Brief, der immer noch über das Webarchiv abrufbar ist, legt bin Laden seine Vorwürfe gegen die Vereinigten Staaten dar, darunter die Unterstützung Israels, die Einrichtung von Militärstützpunkten in islamischen Ländern und die Beteiligung an oder Unterstützung von anderen militärischen Aktionen oder Wirtschaftssanktionen gegen Menschen in der islamischen Welt.

Er rechtfertigt seine Angriffe auf US-Zivilisten mit dem Argument, dass sie die Macht haben, für Regierungen zu stimmen, die eine andere Politik unterstützen, was letztlich einer kollektiven Bestrafung von Zivilisten gleichkommt. Bin Laden äußert sich auch homophob und antisemitisch und macht die Juden als Gruppe für die Auswüchse des US-Kapitalismus verantwortlich.

Auf der Social-Media-Plattform TikTok zog der Brief ab Anfang der Woche große Aufmerksamkeit auf sich. The Wrap führt den Trend zurück auf ein Video von Lynnette Adkins.

Ich möchte, dass jeder mit dem aufhört, was er gerade tut, und "Letter to America" liest. Ich habe das Gefühl, dass ich gerade eine existenzielle Krise durchmache.

Der Journalist Yashar Ali erklärte:

Die TikTok-Posts stammen von Personen aller Altersgruppen, Rassen, Ethnien sowie Denk- und Lebenswelten. Viele von ihnen sagen, dass die Lektüre des Briefes ihnen die Augen geöffnet hat und sie geopolitische Angelegenheiten nie wieder auf dieselbe Weise sehen werden. Viele von ihnen – und ich habe viele von ihnen angeschaut – sagen, dass der Brief sie dazu gebracht hat, ihre Sichtweise zu überdenken, bezüglich dem, was oft als Terrorismus bezeichnet wird, aber durchaus eine legitime Form des Widerstands gegen eine feindliche Macht sein kann.

CNN und New York Times berichteten, dass der Brief bis Donnerstag rund 14 Millionen Aufrufe erzielte, wobei, wie die Washington Post erklärt, nur 274 Videos den Hashtag #LetterToAmerica benutzten, bevor "Tweets und Medienberichterstattung die Leute dort hinzogen".

300 Videos und 14 Millionen Views kumuliert sind für TikTok-Verhältnisse jedoch eher unspektakulär, wie TikTok in einem Statement selber mitteilte. Es sind auch nicht alle Posts einverstanden mit dem, was im Osama-Brief steht. Einige erklärten einfach den Brief, den Trend oder die Anschläge vom 11. September.

So wurde der empörte Post eines prominenten Twitter-Nutzers über die Videos, der auch einen Zusammenschnitt der Videos enthält, auf X (früher Twitter) 37 Millionen Mal aufgerufen. Und hier handelt es sich um ein einziges Video.