Warum Guardian und TikTok auf Osama-Debatte mit Löschen antworten

Seite 2: Löschen statt Debattieren

Die Videos würden nun "proaktiv und aggressiv" entfernt, teilte TikTok mit. Auch sperrte das Unternehmen den Hashtag #lettertoamerica in der Suchfunktion des Diensts.

Um es vorab klarzustellen: Aus meiner Sicht haben der Guardian und auch TikTok als private Unternehmen grundsätzlich das Recht zu bestimmen, was in ihren Produkten erscheint oder nicht – ob man das im Einzelfall gut findet oder nicht, steht auf einem anderen Blatt.

Es ist aber kein grundsätzlicher Angriff auf die Meinungsfreiheit. Die dort ausgedrückten Meinungen könnten ja theoretisch auf anderem Weg veröffentlicht werden (was natürlich wieder andere Probleme aufbringt, wenn relevante Informationen und Meinungen von mächtigen Plattformen und Medien generell ausgefiltert werden).

Aber warum wird plötzlich ein Dokument gelöscht und eine Debatte abgewürgt, die man vorher veröffentlicht hat? Dafür bräuchte es eine starke Begründung. Die Erklärung, die der Guardian anführt, ist jedoch wenig befriedigend, um es moderat auszudrücken.

Die britische Tageszeitung verweist plötzlich auf fehlende Kontexte zum Dokument. Aber warum galt das die zwanzig Jahre zuvor nicht, als der Brief auf der Website frei zugänglich war? Warum braucht es überhaupt welche Kontexte genau? Und warum hat man nicht einfach welche hinzugefügt?

Tatsache ist: Am Sachverhalt, am veröffentlichten Dokument, hat sich nichts geändert. Was sich ab Anfang der Woche änderte, war die spezifische Reaktion auf den Brief aufgrund der TikTok-Videos. Deswegen wurde die Seite vom Netz genommen.

Das unabhängige Medium 404media stellt dazu fest, dass das "extrem ungewöhlich" sei. Denn die Löschung wurde ja nicht mit faktischer Fehlerhaftigkeit des Dokuments und einer Gefährdung für Leib und Leben legitimiert.

Die Frage, die wir uns stellen sollten, ist: Wollen wir jedes Dokument, jeden Artikel oder Video, sperren, wenn uns die darin ausgedrückte Einschätzung im gegebenen Fall nicht gefällt?

TikTok sagt, dass die Videos "aggressiv" entfernt und der Hashtag gesperrt wurden, weil die Inhalte die "Regeln der Plattform" verletzen. Auch das erscheint unverhältnismäßig und willkürlich angesichts der dort geführten Debatten, wenn es nicht gar als Blankoscheck zum Canceln für unliebsame Aussagen dienen kann. Je nach Gusto.

Die Aufregung über die relativ kleine Gruppe an TikTok-Nutzern auf den "Brief an Amerika" von Osama bin Laden ist letztlich ein Sturm im Wasserglas. Ohne die mediale Empörungswelle, die auf ein paar TikTok-Videos folgte, und der daran anschließenden Guardian-Löschung des Briefs, was wiederum Verschwörungsmythen und noch mehr Interesse erzeugte, hätte wohl niemand außer den Beteiligten davon erfahren.

So ist es nun fast schon ein politischer Skandal – der was genau zeigt? Dass die Generation Z auf TikTok mit Terroristen wie Osama bin Laden sympathisiert und das Ganze undifferenziert auf Israels Gaza-Krieg projiziert?

Selbst wenn dem so wäre – und in dieser pauschalen Form ist es sicherlich falsch –, muss eine Gesellschaft das aushalten. Einen Stopfen draufzusetzen, auf alles, was uns nicht gefällt, selbst auf das, was wir moralisch für verwerflich halten, löst keines der Probleme.

Was falsch ist, sollte kritisiert und widerlegt werden. Westliche Demokratien bieten genügend Mittel und Kanäle, um Debatten zu führen.

Aber es ist natürlich einfacher, eine mediale Empörung zu entfachen, dann den "Delete"-Knopf zu drücken, als sich mit für falsch erachteten Ansichten und Motiven, oder gar mit den Argumenten dahinter, auseinanderzusetzen.