Warum Linke intelligente Pläne für die Zukunft schmieden

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Buchautor Artur Becker über die Aufgaben einer klugen Linken in Zeiten von Stammeskriegen und der Wiederkehr des Autoritären und des reaktionären Nationalismus

Die Linke muss zurück zu ihren Wurzeln und die Utopie wieder stark machen, fordert der Autor Artur Becker. In seiner Streitschrift "Links. Ende und Anfang einer Utopie" beleuchtet er, wie der Begriff "links" mit Inhalt gefüllt werden soll und die Linken wieder zu einer starken gesellschaftlichen Kraft werden können. Telepolis sprach mit ihm.

"In erster Linie eine kritische Haltung"

Herr Becker, das Links-Mitte-Rechts-Schema wirkt oft sehr abgegriffen. Was verstehen Sie denn unter "links"?

Artur Becker: Unter "links" verstehe ich in erster Linie eine kritische Haltung gegenüber der Politik, Gesellschaft, den Regierenden, den Regierten und auch gegenüber der Wirklichkeit per se also, die wir täglich erschaffen, und auch gegenüber seiner eigenen Position.

"Links" bedeutet also, die Wirklichkeit infrage zu stellen, sie zu überprüfen, zu revidieren, Revision der Wirklichkeit, mit anderen Worten: "Links" bedeutet, dass man die Dialektik benutzt und Begriffe, die scheinbar perfekt definiert sind, infrage stellt. Ich spreche hier auch von Adornos "negativer Dialektik", der Kritischen Theorie.

Aber "links" meint für mich auch, dass man zumindest einen kleinen kulturgeschichtlichen Überblick hat und die Wurzeln des "links"-Seins schon bei Jesus Christus sucht, in seiner Bergpredigt, meinetwegen bei Spartakus, und dann selbstverständlich einiges an entscheidenden Gedanken und Texten von Hegel, Marx, Lukács, Gramsci, Bloch, Benjamin, Kołakowski, Adorno, Bauman usw. liest und sich selbst eine kritische Meinung bildet über ihre Definitionen der Dialektik und Utopie.

Denn "links" bedeutet eben auch, mutig zu sein und die Zukunft anders zu denken: kritisch-utopisch. Und solch ein Denken impliziert, dass man ohne Angst in die Zukunft schaut und kreativ eine Utopie für alle denkt, sodass Gleichheit und Freiheit für alle angestrebt werden können.

Verklärung der Sowjetunion oder der DDR

Sie beschreiben die Linken der 68er-Generation als naiv. Können Sie das erläutern?

Artur Becker: Naiv in dem Sinne, dass sie den Realsozialismus nicht kannten und nicht kennen, nicht anerkennen konnten, wodurch es zu Missverständnissen und Missinterpretationen kam, wobei dieser geschichtliche Bewusstwertungsprozess, was konkret ein institutionalisierter Marxismus/Sozialismus bedeutete und bedeutet, im Prinzip bis heute andauert.

Sowjetische Panzer in allen Hauptstädten Westeuropas und dann eine 45 Jahre dauernde imperialistisch-nationalistische Diktatur des Marxismus-Leninismus nach sowjetischer Art würde die 68-Generation sehr ernüchtern. In meinem Buch schreibe ich von Verklärung der Sowjetunion oder der DDR, von Verbrämung quasi, die es bis heute noch gibt – heute Russlands.

Die Bewunderung für eine Revolution kann ich nachvollziehen, aber die kommunistischen Verbrechen geschahen im Namen einer Ideologie und des Terrors, und dem darf man sich nicht, die historischen Notwendigkeiten erklärend, verständnisvoll hingeben, sonst wird die Idee der Gleichheit und Freiheit, wie sie auch bei Marx verfolgt wird, mehr oder weniger endgültig zerstört, oder auf das Sich-Recht-Nehmen-Müssen reduziert.

Doch damit es keine Missverständnisse gibt: In meinem Buch lobe ich auch die 68-Generation, denn in ihrer Radikalität konnten sie den muffigen Konservatismus der BRD oder Frankreichs richtig durchfegen. Wir verdanken ihnen sehr viel, heute erachten wir es als selbstverständlich, dass es gewisse Freiheiten gibt. Sie kommen allerdings nicht aus dem PC, dem Smartphone, dem Internet oder den gedruckten kritischen Büchern der Soziologen, sondern tatsächlich aus den Jahren 1967 bis 68.

Doch zurück zu unserer Epoche: In gewisser Hinsicht sieht ja die 68-Generation und die heutige Linke die ehemaligen sozialistischen Staaten im Zentraleuropa (Kundera), also Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, die baltischen Länder und die Ukraine, die hinzugekommen ist, immer noch nicht als souveräne Partner, die nun selbstständig imstande wären, über ihren Weg zu entscheiden.

Westsplaining: Chomsky, die Nato und die Mittelosteuropäer

Nicht die Nato und nicht die geostrategische Politik der USA, eines westlichen Imperiums, haben darüber entschieden, dass Polen nach 1989 die Nato- und EU-Mitgliedschaft anstrebte. Die Menschen wollten frei sein und wählten den Westen. Hört man sich aber Chomsky an, was er dazu zu sagen hat, wird man den Eindruck nicht los, dass er die Mittelosteuropäer belehrt.

Er freut sich über den Freiheitsdrang, aber entweder seien die Menschen noch nicht so weit in ihrem Zoo aus Osteuropa, oder sie verstünden doch nicht, dass sie nur benutzt würden, damit die USA und die EU ihre Politik, Wirtschaft, ihr Kapital, Wertesystem durchsetzen könnten. Westsplaining ist das.

Welche Rolle sollten Utopien Ihrer Meinung nach für eine politische Bewegung spielen? Und ist das überhaupt sinnvoll, denn Utopien heißen doch Utopien, weil man sie zwar erreichen will, aber nicht kann?

Artur Becker: Eine Utopie ist doch grundsätzlich etwas, was sehr energetisch geladen ist. Eine Power, eine Vision und Kraft – und niemals kann man sie vollständig realisieren. Paradoxerweise haben moderne Kapitalisten wie Musk mehr Visionen und mehr Lust, Utopien zu "realisieren", als unsere in den Parlamenten demokratisch streitenden Politiker, auch solche, die sich für "links" halten.

Und die politische Linke weltweit sollte nicht nach politischer Macht streben, sondern nach Infrage-Stellung der Macht per se. Sie muss sich den Utopien und der Dialektik öffnen und kreativ werden, damit wir eine materielle und ontologische und intellektuelle Zukunft erreichen, in der es zur Bewusstseinserweiterung kommt. Des Menschen per se.

Marx und Lukács sprachen doch nicht umsonst vom "Klassenbewusstsein" – der Begriff muss dehnbar sein, man muss ihn erweitern, sodass wir auch ontologisch viel bewusster werden dessen, was uns umgibt und in uns ist. In die Richtung ging doch auch Adorno.