Warum Linke intelligente Pläne für die Zukunft schmieden
Seite 2: "Utopien haben mit Faschismus nichts am Hut"
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Gehen Utopien nicht mit einer gehörigen Portion Irrationalismus einher und öffnen sie damit nicht das Tor zum Faschismus?
Artur Becker: Nein, Utopien haben mit Faschismus nichts am Hut, weil der Faschismus Utopien hasst. Er will doch Zustände bewahren und um Gottes willen nichts ändern, sondern so tun, als passierte eine große Revolution – in Wahrheit tritt er auf der Stelle und versklavt Köpfe und Seelen. Deshalb ist der (immer rechte) Populismus so unbrauchbar für die "Linke".
Er macht Versprechungen, spaltet in Gute und Böse, beharrt auf der Erhaltung der Wirklichkeit, die er sakralisiert, hat selbst jedoch irrationale Erklärungen, obwohl er sie als rational vorstellt; er mythologisiert die Vergangenheit, entmenschlicht seine Feinde (Putin über Ukrainer: Nazis, Faschisten, also das Leben nicht verdienende Wesen), und dann appelliert er an das Unterbewusste, an die Untertan-Mentalität, wie sie Heinrich Mann in seinem genialen Roman beschreibt. Usw.
Utopie schaltet doch das Rationale erst richtig ein, auch wenn sie aus dem Irrationalen entstehen kann und sogar manchmal muss. Faschismus denkt dagegen für seine Anhänger – sie sollen, dürfen nicht denken, sie sollen sich verhalten wie Drogenabhängige. Ich verweise hier auf Jason Stanleys Buch "How Fascism Works: The Politics of Us and Them." Höchste Zeit, dass es auch in Deutschland publiziert wird.
Zum Irrationalen noch ein Wort: Im Sinne der Dialektik kann sich auch mal das Irrationale als nützlich erweisen. Der Warschauer Aufstand vom 1. August 1944 war doch genauso irrational wie der Jüdische in Warschau 1943 – die Aufständischen hatten keine Chance gegen die übermächtigen Okkupanten, die Nazis, die Deutschen. Aber beide Aufstände waren notwendig, um zu zeigen, dass es mehr auf dieser Welt gibt, um mehr geht, dass der menschliche Geist dem brutalen Tod durch eine primitive aggressive rassistische Lehre entgegentreten kann – voller Stolz und im Sinne der Freiheit.
Ich glaube, in der Tat bin ich mehr auf der Seite der Dialektiker zu finden und verwurzelt als auf der Seite der Kantianer, denn das Rationale, wird es überbetont, kann auch zu fatalen Fehlern führen. Also dialektisch muss man es sehen. Da sind wir wieder bei Horkheimer und Adorno gelandet …
Was die Linke gut kann
Welche Rolle sollten Ihrer Meinung nach gesellschaftliche Analyse und Planung für Linke spielen?
Artur Becker: Eine große, wichtige Rolle, aber das betrifft auch die Vergangenheit – die Utopie muss sie kennen, obwohl Leszek Kołakowski in seinem Buch "Moje słuszne poglądy na wszystko" ("Meine richtige Meinung zu allem") schreibt:
"Die Menschen brauchen – und sie brauchten dies schon immer – den Glauben, dass die Welt nicht nur beherrscht, sondern auch verstanden werden kann. Dieses Bedürfnis ist, so können wir es annehmen, eine der Komponenten des menschlichen Charakters und Daseins. Deshalb erleben wir jetzt, in unserem brutalen Jahrhundert, verschiedene Versuche, einen Weg zu finden, der uns zurück zum verlorenen Sinn führen würde. Es scheint unwahrscheinlich, dass uns dieser Weg durch den traditionellen Historismus eröffnet werden könnte – dass wir der Geschichte, wie sie tatsächlich ist, jemals wieder unser Vertrauen schenken könnten. Vielmehr lässt sich sagen, dass eine neue Sehnsucht nach archaischer Geschichtlichkeit zur Sprache kommt. Das Bedürfnis, sich in Stammeszugehörigkeit zu finden, sich dank der Werte der nationalen Kultur zu definieren, schwächelt nicht, sondern gewinnt an Stärke (...)."
Also, insbesondere in unseren Zeiten, da wir eine Wiederkehr des Faschistischen, Autoritären, des reaktionären Nationalismus erleben, den man für Patriotismus hält, muss man die Gesellschaft sehr intensiv analysieren und intelligente Pläne für die Zukunft schmieden. Die "Linke" kann das eigentlich gut, sie muss nur dialektisch, "negativ dialektisch", also kritisch, und utopisch gepolt sein.
Aber grundsätzlich müssen wir uns auf große Änderungen einstellen, und ich meine wirklich große, da wir heute Lösungen finden müssen, von denen das Überleben der Menschheit, unserer Zivilisation und Kultur abhängt.
Es ist auch damit nicht getan, dass wir nachhaltige Energien und Systeme schaffen und die Natur sich erholt – unser Bewusstsein muss sich zudem weiterentwickeln, damit uns scheinbar positiv erscheinende Technologien wie die KI nicht aus der Hand gleiten. Und Sie glauben doch nicht, dass wir in diesem Universum die einzigen intelligenten Wesen sind. Das Hubble-Teleskop hat uns dafür viel zu viel gezeigt …
Also, stehen wir vor großen Herausforderungen. Wie absurd sind dann noch solche Stammeskriege wie der von Putin – und wie ungeheuer geheimnisvoll zugleich ist die menschliche Natur. Unberechenbar manchmal.
Artur Becker: Links – Ende und Anfang einer Utopie, 144 Seiten, Westend Verlag, 2.5.2022
Artur Becker, geboren 1968 in Bartoszyce (Polen), lebt seit 1985 in Deutschland. Er ist Lyriker, Essayist, Romancier, Publizist und Übersetzer und debütierte 1984 mit Gedichten in der Gazeta Olsztyńska. Seit 1989 schreibt er auf Deutsch. 1997 erschien sein erster Roman "Der Dadajsee", 1998 sein erster Gedichtband "Der Gesang aus dem Zauberbottich". Mittlerweile hat er mehr als 20 Bücher veröffentlicht.
Becker schreibt für die Frankfurter Rundschau, die Neue Zürcher Zeitung und Rzeczpospolita. Becker wurde mit dem Chamisso-Preis (2009) sowie dem Dialog-Preis (2012) ausgezeichnet und hielt 2020 die Dresdner Chamisso-Poetikdozentur "Von der Kraft der Widersprüche", publiziert 2021.