Warum das "modernste Einwanderungsrecht der Welt" floppt

Auch gesucht: Elektriker und andere Handwerker. Bild: jarmoluk, pixabay.com

Bundesregierung lobt sich für Neuregelung zu Fachkräften. Den Ursachen des Fach- und Arbeitskräftemangels weicht sie aus. Und das ist nicht das einzige Problem der Novelle.

Endlich schien ein Durchbruch zur Überwindung des Fach- und Arbeitskräftemangels gelungen. Im Juni hat der Bundestag das gemeinsam von Bundesinnenministerin Nancy Faeser und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (beide SPD) auf den Weg gebrachte Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen, so dass Deutschland nun das "modernste Einwanderungsrecht der Welt" bekomme, so Faeser.

Das Gesetz regelt die Zuwanderung von Arbeitskräften aus Nicht-EU Ländern und ist damit sozusagen die zweite Säule der "Fachkräftestrategie" der Bundesregierung. Sie möchte den Fach- und Arbeitskräftemangel durch mehr Zuwanderung von Arbeitskräften zu überwinden.

Die erste Säule der "Fachkräftestrategie" zielt darauf ab, das inländische Fachkräftepotenzial zu heben. Dies soll durch bessere Aus- und Weiterbildung und vor allem durch eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren gelingen.

Die Möglichkeit, den Fach- und Arbeitskräftemangel durch Arbeitsproduktivitätsverbesserungen und den dafür erforderlichen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen zu mindern oder gar zu überwinden, zieht die Bundesregierung nicht in Betracht.

Zur Lösung des Fach- und Arbeitskräftemangels setzt die "Fachkräftestrategie" daher ausschließlich auf die quantitative Ausweitung des Arbeitskräfteangebots. Die Ausweitung der von den inländischen Arbeitskräften leistbaren Stunden ist jedoch, wie auch die Einwanderung ausländischer Fachkräfte, nicht unbegrenzt möglich.

Das hat sich bereits in den vergangenen Jahren sehr deutlich gezeigt. Denn der inzwischen quer durch alle Branchen erkennbare Fach- und Arbeitskräftemangel ist entstanden, weil die Steigerung der insgesamt von allen Erwerbstätigen geleisteten Arbeitsstunden, bei gleichzeitig fast stagnierender Arbeitsproduktivität, nicht im erforderlichen Ausmaß erreicht wurde.

Bundesregierung macht weiter wie bisher

Um zu begründen, dass die diese Herangehensweise dennoch von Erfolg gekrönt sein werde, verweist man in der Fachkräftestrategie auf die vermeintlich "positive Entwicklung", die seit vielen Jahren von der "Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Familien- und Sozialpolitik" der Bundesregierung ausgehe.

So wird unter anderem dargelegt, dass im Zeitraum von 2010 bis 2020 die Anzahl der erwerbstätigen Frauen um 1,6 Millionen gestiegen ist und infolgedessen die Frauenerwerbsquote von 68,8 auf 74,5 Prozent angehoben wurde. Im gleichen Zeitraum sind 3,2 Millionen ältere Erwerbstätige zwischen 55 und 64 Jahren hinzugekommen; in dieser Altersgruppe stieg die Erwerbstätigenquote sogar von 57,0 auf 70,6 Prozent.

So wird deutlich, dass der Fach- und Arbeitskräftemangel nicht etwa wegen eines rückläufigen Arbeitsangebots entstanden ist. Von 2007 bis 2022 ist vielmehr die Anzahl der Erwerbstätigen in Deutschland – durch Einwanderung, steigende Erwerbsquoten der Inländer sowie den bis Ende der 2010er Jahre noch positiven demographischen Effekt – um 5,3 Millionen auf 45,6 Millionen gestiegen.

Die Gesamtarbeitszeit aller Erwerbstätigen stieg in diesem Zeitraum wegen gleichzeitig zunehmender Teilzeitarbeit nicht ganz so stark, aber immerhin um sechs Prozent von 58,6 auf 62,1 Milliarden Stunden.

Fleißige Inländer gesucht

Obwohl es also nicht gelungen ist, die Entstehung des Fach- und Arbeitskräftemangels durch einen erheblichen Zuwachs geleisteter Stunden zu verhindern, adelt die Bundesregierung diesen Ansatz nun, indem sie ihn zur "Strategie" erhebt.

Sie behauptet, sie könne mit den gleichen Methoden in verbesserter Form nicht nur eine noch stärkere quantitative Ausweitung des Arbeitsangebots erreichen, sondern diesen Fach- und Arbeitskräftemangel sogar beheben. Dazu müsste das inländische Erwerbspotenzial in den nächsten Jahren noch viel stärker als bisher erhöht werden. Allerdings wird es immer schwieriger, die bereits gesteigerte Erwerbsneigung nochmals im gleichen oder sogar noch größeren Umfang anzuheben.

Denn seit dem Anfang dieses Jahrzehnts und voraussichtlich bis etwa 2035 führt die demographische Alterung auch in Deutschland nicht mehr zu einer steigenden, sondern zu einer recht zügig sinkenden Anzahl an Erwerbstätigen. Deutlich mehr Ältere scheiden aus dem Erwerbsleben aus, als Junge nachkommen. Laut Bundesagentur für Arbeit (BA) würden dem Arbeitsmarkt bis zum Jahr 2035 mehr als sieben Millionen weniger Personen zur Verfügung stehen als heute.1

Obendrein geht die Bundesregierung davon aus, dass der Fach- und Arbeitskräftebedarf über das heutige Niveau hinaus weiter ansteigen wird, da die fortschreitende Digitalisierung und die Dekarbonisierung dies erfordern.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Erwerbsquoten von Älteren und auch von Frauen – auf deren Steigerung die Fachkräftestrategie vor allem setzt – bereits stark gestiegen waren. Das noch ausreizbare Potenzial wird daher immer kleiner.

Dass es sich bereits weitgehend erschöpft hat, sieht man zum Beispiel daran, dass sich die Erwerbsquote der Frauen mit einem Anstieg von 58 Prozent im Jahr 1991 auf 74 Prozent 2019 jener der Männer (mit 84 Prozent) sehr stark angenähert hat.

Die Fachkräftemangel und Hubertus Heils heile Welt

Um das inländische Erwerbspotenzial tatsächlich zu heben, wären ganz andere Probleme anzugehen, die jedoch in der Fachkräftestrategie keine Erwähnung finden: In Deutschland gibt es insgesamt 45,6 Millionen Erwerbstätige und offiziell nur gut 2,6 Millionen Arbeitslose. Darunter befindet sich knapp eine Million Langzeitarbeitslose, von denen mehr als 60 Prozent nur Hilfetätigkeiten ausführen können.

Das Heer derjenigen, die – trotz des Fach- und Arbeitskräftemangels – nicht arbeiten oder weniger arbeiten, als sie gerne möchten, ist jedoch viel größer. Insgesamt 6,6 Millionen Menschen sind betroffen, darunter 0,9 Millionen Unterbeschäftigte (plus derzeit etwa 0,2 Millionen Kurzarbeiter). Dazu gehören außerdem gut 3,1 Millionen Menschen im Alter von 15 bis 74 Jahren, die sich Arbeit wünschen, dennoch aber ohne Arbeit sind. Auch sie werden nicht als arbeitslos, sondern als "stille Reserve" erfasst.

Und es gibt viele Hinweise auf zugrundeliegende Probleme: Etwa zwölf Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland, also etwa 6,2 Millionen sind Analphabeten. Ein Viertel der Zehnjährigen in Deutschland kann nicht richtig lesen. Inzwischen sind mehr als 2,3 Millionen junge Erwachsene im Alter von 20–34 Jahren ohne Berufsabschluss – seit Jahren mit steigender Tendenz.

Angestrebte EU-Zuwanderung ohne Effekt

Wie groß die gesellschaftlichen Herausforderungen sind, wenn man die Verbesserung der Arbeitsproduktivität nicht als wirtschaftspolitischen Stellhebel in Betracht zieht, hat die Bundesagentur für Arbeit (BA) ermittelt. Wollte man das Erwerbspersonenpotenzial des Jahres 2020 bei etwa 47,5 Millionen Personen stabil halten, wäre neben erheblichen steigenden Erwerbsquote der Frauen und der 60- bis 69-Jährigen eine jährliche Nettozuwanderung von 400.000 Arbeitskräften notwendig.

Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz fokussiert die Bundesregierung die Zuwanderungsbemühungen auf Drittstaaten. Denn die Möglichkeiten, EU-Bürger zur Arbeitsaufnahme in Deutschland zu bewegen, sind weitgehend erschöpft.

Von 2012 bis 2022 war als Folge der EU-Ostererweiterung und der ab 2011 geltenden Arbeitnehmerfreizügigkeit die Anzahl der in Deutschland beschäftigten EU-Ausländer um 1,5 Millionen auf 2,75 Millionen angestiegen.

Der Löwenanteil dieses Nettozuwachses an Beschäftigten aus EU-Staaten resultiert mit insgesamt 1,25 Millionen aus der Zuwanderung von Osteuropäern, hauptsächlich Rumänen. Seit 2018 hat sich der Beschäftigungsanstieg von Personen aus dieser Region auf durchschnittlich nur noch etwa 80.000 pro Jahr deutlich verlangsamt.

Andererseits ist die Anzahl der aus nicht-osteuropäischen EU-Staaten stammenden Beschäftigten in Deutschland in diesen zehn Jahren insgesamt nur um etwa 250.000 Personen gewachsen.

Da in diesem Zeitraum im Saldo in etwa ebenso viele Deutsche im erwerbsfähigen Alter in diese EU-Staaten ausgewandert sind, ist der Beschäftigungsaufbau in Deutschland faktisch vollkommen zum Erliegen gekommen.

Somit hat ausschließlich die zunehmende Beschäftigung von Osteuropäern in den vergangenen zehn Jahren eine spürbare Ausweitung des Arbeits- und Fachkräftepotenzials in Deutschland bewirkt.

Als Hauptgrund für das Versiegen des Zustroms von Fach- und Arbeitskräften aus den EU-Ländern gilt der demographische Wandel, der im Unterschied zu Deutschland in den meisten anderen EU-Ländern nicht erst jetzt, sondern bereits seit etwa zehn Jahren einen Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung bewirkt hat.

Insbesondere qualifizierte Arbeitskräfte sind daher in ganz Europa knapper geworden. Entscheidend für die, aller politischen Bemühungen zum Trotz, nur schwache Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte ist jedoch, dass Deutschland für diese Menschen an Attraktivität verloren hat.

Denn das Reallohnniveau ist seit Mitte der 1990er-Jahre in Deutschland mit durchschnittlich etwa 0,5 Prozent pro Jahr kaum noch gestiegen, während vornehmlich osteuropäische Länder, wie etwa Polen, mit Reallohnsteigerungen von durchschnittlich knapp vier Prozent pro Jahr ab Mitte der 2010er deutlich aufgeholt haben.

Die in Deutschland gezahlten Löhne und Gehälter liegen daher für immer mehr potenzielle Zuwanderer zu niedrig im Verhältnis zu den großen Hürden, die sie etwa bei der Wohnungssuche in Ballungsgebieten, bei der Unterbringung von kleinen Kindern oder etwa aufgrund der Sprache überwinden müssen.

Am Ende verlieren alle

Zur Überwindung des Fach- und Arbeitskräftemangels durch Zuwanderung setzt die Bundesregierung daher auf Drittstaaten. Sie glaubt, dass sie mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz jedes Jahr zusätzlich bis zu 75.000 qualifizierte Arbeitskräfte aus Nicht-EU Staaten nach Deutschland lotsen kann.

Das ist sportlich, denn trotz intensiver Bemühungen ist es bisher kaum gelungen, Fach- und Arbeitskräfte aus Drittstaaten zwecks Arbeitsaufnahme nach Deutschland zu holen. Aus den von der Bundesregierung ausgewiesenen "Fokusländern mit hohen Potenzialen zur Fachkräfterekrutierung" , wie etwa die besonders bevölkerungsstarken Länder Indien, Brasilien oder etwa die Philippinen, sind in Deutschland bisher erst insgesamt etwa 160.000 Personen beschäftigt – immerhin ein Plus von gut 10.000 pro Jahr seit 2012.

Um weitere Zuwanderungspotenziale zu heben, ist Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in diesem Jahr nach Indien gereist, Heil und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) waren in Brasilien.

Das südamerikanische Land habe, so Heil, einen Überhang an gut ausgebildeten Pflegekräften, woraus man eine "klassische Win-win-Situation schaffen" könne, "bei der alle profitieren", da sich Deutschland "in der Ausbildung vor Ort" engagiere.

Tatsächlich seien gegenwärtig bis zu 200 brasilianische Pflegekräfte in Deutschland beschäftigt, so Heil. Die BA rekrutiert seit 2018 brasilianische Fachkräfte für den deutschen Arbeitsmarkt und sie hält laut Heil eine Anwerbung von bis zu 700 Pflegekräften pro Jahr für möglich.

Die Fachkräfterekrutierung der Bundesregierung stößt nicht in aller Welt auf helle Begeisterung. Vor einigen Jahren hatte der serbische Staatspräsident dem nach Pflegekräften suchenden deutschen Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gesagt: "Ich möchte nicht, dass du nach Serbien kommst und meine Schwestern abholst".2

Nicht weniger amüsiert ist die albanische Regierung, die verzweifelt versucht, die Abwanderung ausgebildeter Ärzte zu verhindern, die zu gravierenden Engpässen in der albanischen Gesundheitsversorgung geführt hat.

Ende März erklärte der albanische Ministerpräsident Edi Rama, dass der albanische Staat "keine Studenten für das deutsche Gesundheitssystem" finanziere und dem einen gesetzlichen Riegel vorschieben wolle, damit in Albanien ausgebildete Ärzte nicht mehr "am ersten Tag nach dem Examen abreisen".3 Das dürfte das ohnehin offenbar nicht gigantische Zuwanderungspotenzial empfindlich begrenzen.

Das "modernste Einwanderungsrecht der Welt" ist, wie auch die gesamte Fachkräftestrategie der Bundesregierung höchst ungeeignet, um den Fach- und Arbeitskräftemangel in Deutschland zu überwinden. Faktisch zieht sich die Politik auf technokratische Behelfslösungen zurück, die das Problem mehr schlecht als recht verwalten, um sich den gewaltigen Herausforderungen, die für den Fach- und Arbeitskräftemangel ursächlich sind, nicht stellen zu müssen.

Denn es gibt zwei Großbaustellen, die sie selbst anpacken könnte, weil sie mit politischen Mitteln lösbar sind. Erstens müsste sie eingestehen, dass die deutsche Wirtschaft in einer Produktivitätskrise steckt, die – anders als der demographische Wandel, der sich politischem Einfluss weitgehend entzieht – mit wirtschaftspolitischen Weichenstellungen überwunden werden kann.

Zweitens dürfte nicht mehr kaschiert und totgeschwiegen werden, dass immer mehr Menschen den Weg in die Erwerbstätigkeit nicht finden, da die gesellschaftlichen Voraussetzungen fehlen, damit sie Qualifikation und Fähigkeiten potenzieller Fach- und Arbeitskräfte entwickeln.

Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch "Die Zombiewirtschaft - Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind" mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.

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