Warum der Angriff auf Russlands Anti-Atom-Radar den Krieg auf eine neue Eskalationsstufe hebt

Russische Radaranlage: Zwei weiße Gebäude vor einem grünen Feld.

Beschädigte Radaranlage in Russland. Bild: Screenshot

Widersprüchliche Informationen zu Attacke. Schritt zu weiterer Zuspitzung? Was das mit westlichen Waffensystemen zu tun hat. Ein Gastbeitrag.

Am 23. Mai trafen Drohnen aus der Ukraine eine russische strategische Radarstation in Armawir (Russland). Es ist nicht das erste Mal, dass nukleare Einrichtungen in Russland angegriffen werden, aber es stellt eine erhebliche Eskalation dar.

Sie provoziert russische Vergeltungsmaßnahmen gegen Nato-Strukturen oder sogar einen nuklearen Gegenschlag Russlands. Denn eine der russischen Ängste mit Blick auf die Ukraine besteht darin, dass das Land zu einer Nato-Basis für Atomraketen werden könnte.

Es ist unklar, ob der Angriff ausschließlich auf ukrainische Initiative erfolgte oder ob die Nato-Partner der Ukraine daran beteiligt waren.

Armawir besteht aus zwei weitreichenden Phased-Array-Radaren, die vor nuklearen Angriffen warnen sollen. Die Anlage befindet sich im Süden Russlands in der Region Krasnodar auf dem Gelände des dortigen Luftwaffenstützpunktes Baranowski. Eine der Radaranlagen deckt den Südwesten ab, die andere ist nach Südosten ausgerichtet.

Das Radar ersetzt frühere strategische Radaranlagen in der Ukraine, die um 2012 aufgegeben wurden, sowie eine weitere, nicht mehr in Betrieb befindliche Anlage in Aserbaidschan.

Offiziell wird das Radar als UHF-Radar bezeichnet, was bedeutet, dass die Frequenz entweder bei 1 GHz oder darunter liegt und das L-Band bei 1 GHz einschließt. L-Band-Radare ermöglichen, getarnte Flugzeuge zu erkennen. Tarnkappenflugzeuge sind so optimiert, dass sie im X-Band-Frequenzbereich eine geringere Radarsignatur aufweisen.

Radar gegen niedrig fliegende Objekte

Diese Radargeräte können auch kleine Objekte erkennen, die niedrig fliegen, um einer Radarerfassung zu entgehen, wie US-amerikanischen Tomahawk-Marschflugkörper.

Die US-amerikanischen Bomber B-2, F-22 und F-35 sowie der neue Langstreckenbomber B-3 sind Tarnkappenflugzeuge und können nuklear bestückt werden.

Russland verfügt über zehn strategische Radaranlagen zur Landesverteidigung. Diese Radaranlagen stammen aus dem Jahr 2017, haben eine Reichweite von rund 6.000 Kilometer und sind unter der Bezeichnung Woronesch-DM bekannt.

Ortung von Marschflugkörpern

Die Radargeräte sollen Marschflugkörper, ballistische Raketen und Angriffe aus dem Weltraum erkennen. Die Radaranlagen sind mit dem neuen Flugabwehrsystem S-500 und anderen Flugabwehrsystemen vernetzt.

Die Drohnen, die auf das Radar abgefeuert wurden, flogen rund 1.800 Kilometer weit. Die Aufklärung von Zielen in einer solchen Entfernung übersteigt bei Weitem die Aufklärungsmöglichkeiten der Ukraine, obgleich der Radarstandort mithilfe kommerzieller Satellitenbilder hätte lokalisiert werden können. Die Standorte der strategischen Radaranlagen Russlands sind öffentlich bekannt.

Ukrainische oder portugiesische Drohnen?

Ursprünglich behaupteten ukrainische Quellen, dass die auf bei denen Drohnen des Armawir-Angriffs um Systeme des Typs HUR handelte, also ukrainischer Bauart waren. Die Russen geben aber an, teilweise zerstörte Drohnen sichergestellt zu haben, bei denen es sich nicht um einheimische ukrainische Produkte handelt.

Bei den sichergestellten Drohnen soll es sich um portugiesische Drohnen des Typs Tekever AR3 handeln. Portugal hatte diese Drohnen im Juni vergangenen Jahres zugesagt, nachdem Großbritannien sich bereit erklärt hatte, dafür zu bezahlen. Die Tatsache, dass bei dem Angriff Nato-Ausrüstung verwendet wurde, ist äußerst beunruhigend; die Russen könnten Vergeltung dafür üben.

Nachrüstung von Drohnen durch Ukraine

Die AR3 ist, wie viele der von den Ukrainern eingesetzten chinesischen Drohnen, nicht für eine Bewaffnung ausgelegt. Berichten zufolge war die AR3 jedoch mit vier Kilogramm Sprengstoff und einem Kontaktzünder bestückt. In ähnlicher Weise befestigen die Ukrainer Sprengstoff an den chinesischen FPV-Drohnen, was diese zu tödlichen und effektiven Waffen macht.

Russland hat sich bisher kaum zu dem Angriff geäußert. Medienberichten und über Telegram verbreiteten Informationen zufolge stürzte eine Drohne in ein Gebäude in der Nähe der Radarstation. Fotos zeigen Schäden an diesem Gebäude, in dem das Betriebspersonal des Radars untergebracht ist und das vermutlich auch die Kommunikation für die russische Luftverteidigung beherbergt. Das Radar scheint ebenfalls beschädigt zu sein.

Details zu Angriff unbekannt

Es ist nicht bekannt, wie viele Drohnen bei dem Angriff eingesetzt und wie viele abgeschossen wurden. Nach den Fotos zu urteilen, die jetzt im russischen Verteidigungskanal auf Telegram auftauchen, scheinen mindestens eine oder zwei Drohnen getroffen worden zu sein.

Auch die USA verfügen über Radarwarnsysteme für ballistische Flugkörper, die unter dem Namen PAVE-PAWS bekannt sind und von der US Space Force unterhalten werden, die kürzlich durch das Solid State Phased Array Radar ersetzt wurde.

Der ukrainische Angriff ist ein Novum: Zum ersten Mal wurden in einem Land strategische Verteidigungsanlagen zum Schutz vor einem Atomschlag angegriffen.

Die Gefahr nur atomaren LOW-Strategie

Unter Verteidigungsexperten gibt es seit Langem eine Debatte über die nukleare LOW-Gegenschlagstrategie. LOW ist die Abkürzung für "Launch-on-warning". Es ist Taktik für den. Start atomar bestückter Interkontinentalraketen: Der Startbefehl wird sofort nach Eintreffen einer Alarmmeldung erteilt. LOW unterscheidet sich von LUA: "Launch-Under-Attack".

Hätten die Russen geglaubt, es handele sich um einen Nato-Angriff auf ihre Nuklearanlagen, hätte dies eine nukleare Reaktion auslösen können.

Die Nuklearfrage ist heute besonders heikel, da die ukrainische Armee am Rande des Zusammenbruchs zu stehen scheint. US-Abgeordnete und der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg haben die Ukraine aufgefordert, Langstreckenraketen auf russisches Territorium abzufeuern. In diesem Fall könnten die Russen nicht unterscheiden, ob eine Rakete einen konventionellen oder einen nuklearen Sprengkopf hat.

Bedenken vor atomarer Nato-Expansion

Die Russen vermuten insbesondere seit 2019, dass die USA heimlich ein Atomwaffenarsenal in Osteuropa, vorwiegend in Polen und Rumänien, aufbauen wollen. Besorgniserregend sind die jüngsten polnischen Forderungen nach der Stationierung von Nato-Atomwaffen im Land, teilweise als Reaktion auf die Stationierung russischer taktischer Atomwaffen in Belarus.

Im Jahr 2019 hatte der russische Präsident Wladimir Putin davor gewarnt, dass die USA in Rumänien und Polen MK-41-Raketen mit einer Senkrechtstartanlage stationieren, die entweder Flugabwehrraketen oder Tomahawk-Marschflugkörper mit Atomsprengköpfen abfeuern können.

Rückschlag durch INF-Ende

Tomahawk-Marschflugkörper haben offiziell konventionelle Sprengköpfe, obwohl sie ursprünglich nuklear bestückt waren. Die USA behaupten, sie hätten sie durch konventionelle Munition ersetzt, die nuklearen Sprengköpfe behalten und schließlich entsorgt.

MK-41-Raketen sind Teil der Aegis-Ashore-Luftverteidigungskomplexe für Rumänien und Polen, und dieselben Raketen werden auf den Aegis-Kreuzern und -Zerstörern der USA eingesetzt.

Europa und Russland waren durch den Intermediate Nuclear Forces Treaty (INF) zwischen den USA und der UdSSR geschützt, der im Dezember 1987 in Kraft trat. Der INF-Vertrag schränkte alle Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.000 Kilometer ein und sah ein strenges Verifikations- und Inspektionssystem vor.

Gegenseitige Vorwürfe

Die USA behaupteten, dass ein von den Russen entwickelter neuer Marschflugkörper, der in Russland als 9M729 (NATO SSC-8) bezeichnet wird und angeblich auf dem Marineflugkörper Kinschal basiert, gegen den INF-Vertrag verstoße. Während die Russen behaupteten, die 9M729 operiere unterhalb der 500-km-Grenze, behaupteten die USA, sie hätten Beweise für einen Betrug der Russen.

Auf dieser Grundlage kündigte Präsident Donald Trump 2018 den Rückzug der USA aus dem INF-Vertrag an. Der Ausstieg erfolgte offiziell im August 2019. Auch die Russen zogen sich daraufhin offiziell aus dem Vertrag zurück.

Die Sorge um Nuklearwaffen in Osteuropa und möglicherweise in der Ukraine spielt in der strategischen Perspektive Russlands und seiner Einschätzung der Absichten der USA und der Nato eine herausragende Rolle.

Brief aus Moskau an Nato

Dies wurde Ende Dezember 2021 im Vorfeld des Einmarsches der russischen Armee in die Ukraine deutlich, als sich Präsident Putin sowohl an Präsident Biden als auch an die Nato wandte und vorschlug, dass Russland, die Nato und die Vereinigten Staaten den Abzug der US- und Nato-Waffen aus Osteuropa, insbesondere aus Polen und Rumänien, in Erwägung ziehen sollten. Putins Appell blieb erfolglos, und russische Truppen überschritten am 24. Februar 2022 die Grenze zur Ukraine.

Warum die Ukraine die strategischen Radaranlagen Russlands angegriffen hat, bleibt unklar. Die Ukrainer behaupten, dass diese Radaranlagen eine Rolle bei russischen Luftangriffen auf ukrainisches Territorium spielen.

Es geht auch um deutsche Taurus

Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die russischen Radare ZS-amerikanische ATACMS oder künftig vielleicht sogar deutsche Taurus-Marschflugkörper erfassen könnten. Die Ausschaltung dieser Radaranlagen würde der Ukraine helfen: Russlands Fähigkeiten würden eingeschränkt, sich vor Angriffen von ukrainischem Territorium aus zu schützen.

Während die Ukrainer einen solchen Angriff als Vorbereitung für weitere Attacken auf Russland betrachten könnten, um die Verluste im eigenen Land auszugleichen, schürten sie in Russland Ängste, die zu Angriffen auf Nato-Einrichtungen oder sogar zum Einsatz taktischer Atomwaffen führen könnten.


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Stephen Bryen war Stabschef des Unterausschusses für den Nahen Osten im Ausschuss für Auswärtige Beziehungen des US-Senats und stellvertretender Staatssekretär für Verteidigungspolitik.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch auf seiner Subrack-Seite.