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Warum der Umbruch der europäischen Stromversorgung gefährlich chaotisch verläuft

Nach dem Lockdown ein Blackout? (Teil 2 und Schluss)

Anfang Januar 2021 mussten bereits deutsche Steinkohlekraftwerke wieder ans Netz gehen, die eigentlich für eine vorzeitige Abschaltung ausgewählt wurden, weil der Bedarf nicht mehr ausreichend gedeckt werden konnte.

Nach derzeitigem Planungsstand sollen bis Ende 2022 rund 22 GW an Atom- und Kohlekraftwerksleistung mit einer Jahresstromproduktionskapazität von rund 128 TWh vom Netz gehen und rückgebaut werden.

Sollte am derzeit fixierten deutschen Kohle- und Atomausstieg bis Ende 2022 festgehalten werden, entstehen in den kommenden Monaten bereits kritische Zeitfenster, wo Flächenabschaltungen zum Schutz des Gesamtsystems nicht mehr ausgeschlossen werden können.

Es ist dabei irrelevant, ob es sich in 99,99 Prozent der Zeit trotzdem ausgehen wird. Das Stromversorgungssystem kennt hier keine Toleranz, die Balance muss zu 100 Prozent der Zeit sichergestellt werden. Ansonsten kommt es zum Systemkollaps [1].

Fehlendes Grundlagenwissen um Zusammenhänge

In vielen Bereichen und auch bei Entscheidungsträgern fehlt es häufig an den grundlegendsten Kenntnissen, etwa wie unser Stromversorgungssystem funktioniert. Zudem geht es häufig nur um Einzelaspekte und kaum um systemische Zusammenhänge. Daher ist die Tragweite von Entscheidungen oftmals nicht bewusst, oder sie wird schlicht weg ignoriert. Hinzu kommen nun noch die fehlenden Kenntnisse im Umgang mit komplexen Systemen, da diese nicht Bestandteil einer universellen Grundausbildung sind.

Zu den weiteren Kennzeichen von komplexen Systemen [2] zählen, kleine Ursachen können enorme Auswirkungen zur Folge haben [3], was wir gerade bei der Corona-Pandemie erleben. Ein Virus stellt binnen weniger Wochen die gesamte Welt auf den Kopf.

Auswirkungen von Entscheidungen sind häufig irreversible. Ein abgeschaltetes und rückgebautes Kraftwerk ist für immer verloren. Eingemottete Kraftwerke können nur mit hohem Aufwand erhalten und wieder reaktiviert werden.

Nicht-Linearität bedeutet, dass viele unserer bisherigen Risikobewertungsmethoden scheitern. Besonders trügerisch sind die zeitlich verzögerten Auswirkungen, da diese gerne vernachlässigt werden. Dazu zählt etwa das 50,2-Hertz-Problem [4], bei dem sich viele Altanlagen mit Wechselrichter zeitgleich vom Stromnetz trennen und einen Jo-Jo-Effekt versuchen würden. Angeblich soll dieses Problem behoben worden sein. Ob das wirklich so ist, wissen wir nicht. Es wurde auf jeden Fall viel zu lange nicht beachtet.

Hinzu kommen steigende Resonanzeffekte, wo sich etwa Wechselrichter und zunehmend mehr elektronische Systeme ("Digitalisierung", E-Mobilität etc.) gegenseitig beeinflussen und selbstzerstörerische Prozesse auslösen. So wurde bereits beobachtet, dass es dadurch zu Bränden bei Ladesäulen oder schwerwiegenden Produktionsausfällen gekommen ist.

Noch schlimmer ist, dass sogar elektronische Bauteile oder Isolierungen von Leitungen rascher altern und es daher in absehbarer Zukunft zu einer steigenden Anzahl von Störungen im Infrastrukturbereich kommen wird. Fachexperten sind davon überzeugt, dass die heute verbauten Wechselrichter so rasch als möglich durch eine neue Generation ersetzt werden müssten, um den Schaden zu begrenzen. Doch wer wird das machen, wenn ohnehin noch alles funktioniert?

Auch bei der Momentanreserve oder bei den Kraftwerksstilllegungen merkt man den Effekt nicht sofort. Die Dinge kumulieren und irgendwann kommt ein Ereignis dazu, welches das Fass zum Überlaufen bringt und nicht mehr beherrschbar ist: kleine Ursache, große Wirkung. Es gibt auch keine einfachen Ursache-Wirkungsbeziehungen, wo man eine eindeutige Schuld zuweisen könnte. Es hat sich einfach über einen längeren Zeitraum aufgebaut.

Der Kollaps von komplexen Systemen [5] ist, wie gut untersucht ist, kein Fehler, sondern ein Systemdesignmerkmal, um eine Erneuerung zu ermöglichen. In der Wirtschaftstheorie wird das als "Schöpferische Zerstörung" [6] bezeichnet. Neues kann sich häufig erst dann entfalten, wenn das alte kaputt oder zerstört worden ist. Eine Vorgangsweise, die bei unserer wichtigsten Lebensader, der Stromversorgung, einer Selbstmordabsicht gleichkommen würde.

Das Problem der alternden Infrastrukturen

Wir stehen aber nicht nur wegen der Energiewende vor großen Umbrüchen. Ein Großteil der europäischen Infrastruktur kommt in den nächsten Jahren an ihr Lebens- und Nutzungsende. Die Mehrzahl der Kraftwerke ist mittlerweile 40 bis 50 Jahre alt. Teilweise sogar älter. Damit müssen in den nächsten Jahren auf jeden Fall weitreichende Neuerungen eingeleitet werden.

Das rechnet sich aber unter den derzeitigen rein betriebswirtschaftlichen Betrachtungen und der unsicheren Rahmenbedingungen nicht. Investitionen werden daher gerne aufgeschoben, was die Störanfälligkeit erhöht. Wenn aber erst dann investiert wird, wenn es sich rechnet, ist es bereits zu spät.

Allein in Deutschland gibt es über 1.150 Großtransformatoren, wovon rund 500 Stück bereits über 60 Jahre alt sind. Die Produktionskapazität beträgt jedoch nur mehr zwei bis vier Stück pro Jahr.

Der liberalisierte Strommarkt hat in vielen Bereichen zum Abbau der Reserven und Redundanzen geführt. Das, was in anderen Infrastrukturbereichen akzeptabel sein mag, könnte bei der überlebenswichtigen Strominfrastruktur ein böses Ende haben.

So wie bei der Truthahn-Illusion [7]: Ein Truthahn, der Tag für Tag von seinem Besitzer gefüttert wird, nimmt aufgrund seiner täglich positiven Erfahrungen (Fütterung und Pflege) an, dass es der Besitzer nur gut mit ihm meinen kann. Ihm fehlt die wesentlichste Information, dass die Fürsorge nur einem Zweck dient: Am Tag vor Thanksgiving, bei dem die Truthähne traditionell geschlachtet werden, erlebt er eine fatale Überraschung.

Diese Metapher kommt bei außergewöhnlichen Ereignissen mit enormen Auswirkungen zum Tragen, sogenannten Extremereignissen ("X-Events" [8]) oder strategischen Schocks. Wir verwechseln dabei gerne die Abwesenheit von Beweisen mit dem Beweis der Abwesenheit.

Extremwetterereignisse

Alldem nicht genug, müssen wir auch noch erwarten, dass in Europa wie bereits in Australien, Kalifornien oder Texas die Extremwetterereignisse in den kommenden Jahren zunehmen werden [9]. Damit sind auch schwerwiegende Infrastrukturschäden und -ausfälle zu erwarten. Gerade die Dürre der vergangenen Jahre macht konventionellen Kraftwerken, die das Kühlwasser aus Gewässern entnehmen müssen, enorm zu schaffen. Gleichzeitig verringert sich die Leistungsfähigkeit von Wasserkraftwerken durch sinkende Pegelstände.

Im anderen Extremfall führen Hochwässer oder Starkregenereignisse zum Problem bei der Stromerzeugung, wie etwa im Juni 2020, wo durch ein Starkregenereignis das größte polnische Kohlekraftwerk und parallel dazu weitere Erzeugungsanlagen ausgefallen sind, was zu einer kritischen Versorgungslücke führte.

Auch Pumpspeicherkraftwerke können durch eine verspätete Schneeschmelze wie 2021 an ihre Grenzen geraten. Es wird ein neuer Tiefststand erwartet, wo nur mehr rund zehn Prozent der theoretischen Kapazität zur Verfügung stehen.

Auch Energiezellen werden von solchen Ereignissen nicht verschont bleiben. Jedoch kann das Risiko von großflächigen Ausfällen deutlich reduziert werden. Zellen weisen nicht per se eine höhere Versorgungssicherheit auf. Aber sie helfen, den potenziellen Schaden zu verringern, und das wird aufgrund der dargestellten Probleme immer wichtiger. Grenzenlose Struktur schaffen extreme Abhängigkeiten.

Fehlende Sollbruchstellen

Durch die heute fehlenden und klar definierte Sollbruchstellen wird ein möglicher Netzwiederaufbau enorm erschwert. Und gerade das soll in den nächsten Jahren noch deutlich ausgeweitet werden. So müssen etwa aufgrund einer EU-Vorgabe bis 2025 mindestens 70 Prozent der Kapazität der nationalen Grenzkuppelstellen für den grenzüberschreitenden Stromhandel geöffnet werden.

Das, was im Alltag zu einer Belebung des Marktes und damit zu sinkenden Preisen führen kann, führt auf der anderen Seite zu einer massiven Verwundbarkeit des Gesamtsystems, da damit immer weniger auf die physikalischen Grenzen Rücksicht genommen wird. Eine mögliche Störung kann sich wesentlich rascher ausbreiten. Diese Vorgaben widersprechen daher klar einem robusten, zellularen Ansatz und den Erkenntnissen aus den Systemwissenschaften.

Rückbau Windkraftanlagen

Bereits seit Jahren wird darauf hingewiesen, dass viele deutsche Windkraftanlagen betriebswirtschaftlich ohne neue Förderungen nicht weiterbetrieben werden können oder dass diese durch das Auslaufen von zeitlich befristeten Betriebsgenehmigungen zurückgebaut werden müssen. Eine Aufrüstung (Repowering) ist nicht an jedem Standort sinnvoll/möglich.

Demnach soll allein 2021 ein Rückbau von rund 4.500 MW und danach jährlich von rund 2.500 MW erfolgen. Damit ist in den nächsten fünf Jahren mit einer Leistungsreduktion von rund 15 GW zu rechnen, die nur teilweise durch Neuanlagen kompensiert werden. 2020 waren es rund 1.400 MW. In den Folgejahren wird nicht mit wesentlich mehr gerechnet, also etwa der Hälfte der Rückgebauten Leistung.

Digitalisierung

Hinzu kommt, dass durch die zunehmende Digitalisierung des Stromversorgungssystems die wechselseitigen Abhängigkeiten steigen: ohne Strom keine IT. Ohne IT-Infrastruktur, keine Stromversorgung. Experten befürchten, dass bereits heute ein möglicher Netzwiederaufbau daran scheitern könnte, weil sogar zunehmend mehr Schutzeinrichtungen ohne Rückfallebenen ausgestattet sind. Vieles kann und will man einfach nicht glauben, aber die Realität holt einen immer wieder ein. Ein kollektives Versagen, wie das etwa Gunther Dueck bereits vor vielen Jahren in "Schwarmdumm" [10] beschrieben hat.

Zudem entstehen immer mehr digitale Anwendungen auf dem Strom- und Flexibilitätsmarkt. Was im Alltag einen Mehrwert schafft, könnte rasch ins Gegenteil umschlagen, wie etwa der schwerwiegende Cyber-Angriff auf die größte Ölpipeline der USA im Mai 2021 gezeigt hat. Dabei muss gar keine Schädigungsabsicht vorliegen. Ein außer Kontrolle geratener Cyber-Angriff oder auch nur eine schwerwiegende Störung, kann auch rasch zu Problemen in der physischen Welt führen, vor allem in einem System, mit einem derart fragilen Gleichgewicht.

Gefährlicher Stromhandel

Der Stromhandel spielt generell eine zu wenig beachtete Rolle, wenn es um die Gefährdung des europäischen Verbundsystems geht. Im Juni 2019 brachten deutsche Stromhändler das System an den Rand des Kollapses [11], nachdem sie eine Regulierungslücke ausgenützt haben. Trotz Abmahnung und nun in Aussicht gestellter hoher Strafen scheint es noch immer Lücken zu geben.

So kam es 2021 bereits im ersten Quartal zu über 80 Frequenzanomalien [12], die wahrscheinlich ursächlich auf eine betriebswirtschaftlich optimierte Kraftwerkseinsatzplanung zurückzuführen sind. Im gesamten Jahr 2020 waren es rund 140 Anomalien. Dabei wird regelmäßig um den Stundenwechsel die Hälfte bis zu zwei Drittel der vorgehaltenen Reserve, um auf unvorhergesehene Kraftwerksausfälle reagieren zu können, eingesetzt.

Sollte es in dieser Zeit tatsächlich zu einem oder mehreren Kraftwerksausfällen kommen, was beim Fahrplanwechsel wahrscheinlicher ist, könnte das rasch zu einer weiteren Eskalation führen. Obwohl das Problem seit Langem bekannt ist, scheint die Regulation keine Notwendigkeit zu sehen, diesen Missbrauch abzustellen. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.

Die Ereignisse vom 8. Januar 2021

Es gibt auch mehrere Hinweise, dass die beiden Faktoren, die reduzierte Momentanreserve und der überbordende Stromhandel, wesentlich zur Großstörung am 8. Januar 2021 beigetragen haben könnten, auch wenn das bisher noch in keinem offiziellen Untersuchungsbericht richtig angesprochen wurde.

Am 8. Januar [13] kam es um 14:04 Uhr im Umspannwerk Ernestinovo (Kroatien) zu einer Überlastung einer Sammelschienenkupplung, die sich daraufhin ordnungsgemäß zum Eigenschutz abgeschaltet hat. Dies führte zu einer Überlastung von 13 weiteren Betriebsmitteln in Südosteuropa, wodurch das europäische Verbundnetz in zwei Teile aufgetrennt wurde.

Die Folge war ein durch das auftretende massive Leistungsungleichgewicht verursachter massiver Frequenzanstieg in Südosteuropa auf 50,60 Hertz und ein Frequenzeinbruch auf 49,74 Hertz in Nordwesteuropa. Im Südosten gab es einen Leistungsüberschuss von 6,3 GW, welcher gleichzeitig im Nordwesten fehlte.

Der sehr steile Frequenzeinbruch bzw. -anstieg weist darauf hin, dass zu wenig Momentanreserve vorhanden war, welche eine derart gravierende Leistungsänderung abfedern hätte müssen. Zum anderen gab es zu diesem Zeitpunkt einen enormen Stromimport von etwa 6,3 GW in Spanien und Frankreich, was darauf hindeutet, dass der überregionale Stromhandel zur Überlastung beigetragen hat. Interessant ist dabei auch, dass die Sammelschienenkupplung im Umspannwerk Ernestinovo bisher nicht als systemrelevant eingestuft und daher nicht in die laufenden Sicherheitsberechnungen eingebunden war.

Daher stellt sich die Frage, wie viele solch unbeobachteten Bruchstellen es noch geben könnte. Das Ereignis am 8. Januar 2021 sollte daher als sehr ernst zu nehmende Warnung verstanden werden, auch wenn von politischer Seite sofort behauptet wurde, dass die Stromversorgung sicher sei. 36 Länder sitzen in einem gemeinsamen Boot. Wenn dieses untergeht, gehen alle mit unter.

Handeln nach einem Blackout

In Österreich sind wir wahrscheinlich in der Lage, als eines der ersten Länder in Europa wieder ein Stromnetz aufzubauen, was immer noch rund einen Tag oder länger dauern wird. Bis auf europäischer Ebene wieder überall der Strom fließt, wird laut Experten-Einschätzungen zumindest eine Woche vergehen. Das ist nicht alles.

Ganz generell werden die Folgen und Wiederanlaufzeiten nach einem großflächigen und abrupten Ausfall der Stromversorgung massiv unterschätzt. Viele Vorbereitungen beschäftigen sich zudem nur mit der unmittelbaren Vorsorge für den Stromausfall, was häufig in der Anschaffung oder Erweiterung einer Notstromversorgung mündet. Dabei ist die Phase 1 [14], also die Zeit des Stromausfalls, noch am überschaubarsten.

Viel schwerwiegender und katastrophaler werden sich die deutlich längeren Phasen des Wiederanlaufes (Phase 2 und 3) in den anderen Infostruktursektoren und bei der Resynchronisierung der Versorgungslogistik auswirken, was in dieser Dimension völlig unterschätzt wird, weil uns dazu die Erfahrungen fehlen.

Die sehr hohe Versorgungssicherheit in allen Lebensbereichen, insbesondere in Mitteleuropa, wird zum Bumerang: Es fehlt an den erforderlichen Eigenvorsorgemaßnahmen und Rückfallebenen. Viel zu viele Menschen und Organisationen verlassen sich einfach blind auf die ständige Verfügbarkeit. Eine Truthahn-Illusion.

Langwieriger Wiederanlauf

So ist etwa zu erwarten, dass bis nach der Stromversorgung die Telekommunikationsversorgung, also Handy, Internet und Festnetz, wieder funktionieren wird, weitere Tage vergehen werden. Dies, weil mit schwerwiegenden Hardwareschäden, Störungen und Überlastungen zu rechnen ist. Damit wird es bis zumindest in die zweite Woche dauern, bis wieder eine Produktion und Warenverteilung im breiteren Umfang anlaufen kann.

Ganz abgesehen von den internationalen Verflechtungen und wechselseitigen Abhängigkeiten in der Versorgungslogistik. Auf das sind jedoch weder die Menschen noch Unternehmen oder die Staaten vorbereitet. Es droht eine unfassbare Katastrophe, die in die größte Katastrophe nach dem Zweiten Weltkrieg enden könnte, wie bereits 2011 das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag [15] festgehalten hat: "Spätestens am Ende der ersten Woche wäre eine Katastrophe zu erwarten, d. h. die gesundheitliche Schädigung bzw. der Tod sehr vieler Menschen sowie eine mit lokal bzw. regional verfügbaren Mitteln und personellen Kapazitäten nicht mehr zu bewältigende Problemlage." Dabei bezog sich die Analyse noch gar nicht auf einen europaweiten Ausfall. Ganz zu schweigen von der enorm gestiegenen Vernetzung binnen der letzten Dekade.

Was kann getan werden?

Kurzfristig scheint nur mehr die Vorbereitung auf das Ereignis möglich zu sein, was auch ganz generell gilt: Verhindern und Sicherheit sind wichtig, aber zu wenig. Es braucht auch hier ein sowohl-als-auch-Denken: Wir müssen auch in der Lage sein, mit unerwarteten Ereignissen umzugehen [16] und diese zu bewältigen.

Das betrifft alle Ebenen. Beispielsweise ist die Verhinderung von Cyber-Angriffen enorm wichtig, dennoch ist ein Wiederherstellungsplan unverzichtbar, auch wenn man immer hofft, dass dieser nie benötigt wird. Aber Hoffnung ist zu wenig. Das gilt genauso beim Thema Blackout. Wir betreiben gerade die größte Infrastrukturtransformation aller Zeiten am offenen Herzen und ohne Auffangnetz. Das könnte sich als fataler evolutionärer Irrtum herausstellen.

Der wichtigste Schritt [17] beginnt in den eigenen vier Wänden: Sich und die eigene Familie zumindest zwei Wochen völlig autark mittels eigener Vorratshaltung versorgen zu können. Das betrifft zwei Liter Wasser pro Person und Tag.

Nach dem Stromausfall kann auch wieder gekocht aber nicht eingekauft werden. Daher Lebensmittel wie Nudel, Reis und Konserven für zwei Wochen. Das Gleiche gilt für wichtige Medikamente, Kleinkinder- oder Haustiernahrung. Taschenlampen, ein batteriebetriebenes Radio, Müllsäcke und sonstige wichtige Hilfsmittel, die man dann brauchen könnte. Einfach, was man auf einen zweiwöchigen Campingurlaub auch mitnehmen würde.

Sehr geringe Vorsorge

Wie aus verschiedenen Untersuchungen bekannt ist [18], können sich rund ein Drittel der Bevölkerung maximal vier Tage und ein weiteres Drittel maximal sieben Tage selbst versorgen. Damit beginnt ein Teufelskreis. Denn wenn sich die Menschen nicht mehr ausreichend selbst versorgen können, kommen sie nicht in Arbeit, um die Systeme wieder hochzufahren.

Eine Teufelsspirale beginnt sich zu drehen. Daher ist eine breite Eigenvorsorge in der Bevölkerung wesentliche Voraussetzung dafür, damit wir ein solches Szenario bewältigen können. Das betrifft insbesondere auch jene Organisationen und Unternehmen, die in einem solchen Fall einen Notbetrieb aufrechterhalten können müssen, also auch die Energiewirtschaft.

Inselbetriebsfähige PV-Anlagen

Was viele PV-Besitzer nicht wissen, ist, dass ihre PV-Anlage während eines Stromausfalls keinen Strom liefert, da die meisten Anlagen netzgeführt sind. Nur inselbetriebsfähige PV-Anlagen [19], also ergänzt mit Netztrennung, hybriden Wechselrichter und Speicher, können auch bei Netzausfall eine Notversorgung in den eigenen vier Wänden aufrechterhalten.

Damit könnten die Beleuchtung, Heizung und Kühlgeräte (Vorräte!) weiterbetrieben werden. Das Szenario würde damit deutlich abgemildert. Gesellschaftlich noch wirkungsvoller und effizienter wäre es, so rasch als möglich regionale Energiezellen aufzubauen, wo zumindest eine Grundnotversorgung mit Wasser, Abwasser, Wärme oder Gesundheitsdienstleistungen auch während eines Netzausfalles aufrechterhalten werden könnte. Dazu fehlt es aber am notwendigen Bewusstsein und den erforderlichen Rahmenbedingungen.

Organisatorische Maßnahmen

Auf diese persönlichen Vorsorgemaßnahmen können dann die notwendigen organisatorischen Maßnahmen aufsetzen. Dabei beginnt der erste Schritt mit der Sensibilisierung des eigenen Personals, um die Eigenvorsorge anzustoßen. Zum anderen sind umfassende Überlegungen notwendig, wie im Fall eines Blackouts die erforderliche Kommunikation sichergestellt werden kann.

In vielen Fällen werden nur Offline-Pläne, also vorbereitete Absprachen, die in den Köpfen der Mitarbeiter:innen verfügbar sein müssen, funktionieren. Das Schlüsselpersonal muss wissen, was zu tun ist, wenn niemand mehr erreicht werden kann und wie die Ablöse und Versorgung funktionieren, wenn ein Notbetrieb weiterlaufen muss.

Eine Alarmierung, wie sonst üblich, wird in der Regel nicht mehr funktionieren, da die Telekommunikationssysteme Großteils binnen weniger Minuten nach dem Stromausfall ausfallen werden. Bei der Mitarbeiter:innenverfügbarkeit sind vor allem die persönlichen Umstände, wie die räumliche Entfernung zum Arbeitsplatz oder sonstige Verpflichtungen, wie betreuungsbedürftige Personen, Funktionen in Gemeindekrisenstäben oder Einsatzorganisationen zu berücksichtigen.

Darüber hinaus muss erhoben werden, wie lange die vorhandenen Ressourcen, etwa der Treibstoff für Notstromeinrichtungen oder Lebensmittel für einen Notbetrieb verfügbar sind, da mit einer Versorgung von außerhalb kaum zu rechnen ist, wenn nicht entsprechende Vorbereitungen getroffen werden. Das geht dann bis hin zu Wiederanlaufplänen, wo zu überlegen ist, welche Voraussetzungen erforderlich sind, um überhaupt wieder in einen geordneten Betrieb übergehen zu können.

Summary

Das europäische Stromversorgungssystem befindet sich in einem fundamentalen Umbruch, wo vor allem gilt: "Viele Köche verderben den Brei". Denn es fehlt an einer systemischen Gesamtkoordination und Vorgangsweise. Jedes Mitgliedsland macht seine eigene Energiewende in unterschiedliche Richtungen und es ist kaum eine koordinierte Vorgangsweise erkennbar. Zudem werden fundamentale physikalische und technische Rahmenbedingungen ignoriert und durch Wunschvorstellungen ersetzt, was absehbar ein eine Katastrophe führen muss. Denn das Stromversorgungssystem gehorcht rein physikalischen Gesetzen. Noch haben wir die Möglichkeit, diesen fatalen Pfad zu verlassen.

Herbert Saurugg ist internationaler Blackout- und Krisenvorsorgeexperte, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Krisenvorsorge [20] (GfKV), Autor zahlreicher Fachpublikationen sowie Keynote-Speaker und Interviewpartner zur europaweiten Strom-Infrastruktur sowie Versorgungsausfällen [21].

Er beschäftigt sich seit zehn Jahren mit der steigenden Komplexität und Verwundbarkeit lebenswichtiger Infrastrukturen sowie mit den möglichen Lösungsansätzen, wie die Versorgung mit essentiellen Gütern wieder robuster gestaltet werden kann. Unter www.saurugg.net betreibt er dazu einen umfangreichen Fachblog und unterstützt Gemeinden, Unternehmen und Organisationen bei der Blackout-Vorsorge.


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[1] https://www.saurugg.net/2020/blog/vernetzung-und-komplexitaet/how-everything-can-collapse-a-manual-for-our-times
[2] https://www.saurugg.net/hintergrundthemen/vernetzung-komplexitaet/
[3] https://www.saurugg.net/hintergrundthemen/#schmetterling
[4] https://www.saurugg.net/2015/blog/stromversorgung/502-hertz-problem
[5] https://www.saurugg.net/2018/blog/vernetzung-und-komplexitaet/der-seneca-effekt
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Sch%C3%B6pferische_Zerst%C3%B6rung
[7] https://www.saurugg.net/hintergrundthemen/#truthahn-illusion
[8] https://www.saurugg.net/2014/blog/vernetzung-und-komplexitaet/der-ploetzliche-kollaps-von-allem-wie-extreme-ereignisse-unsere-zukunft-zerstoeren-koennen
[9] https://www.saurugg.net/2014/blog/stromversorgung/oesterreichischer-sachstandsbericht-klimawandel-2014
[10] https://www.saurugg.net/2015/blog/gesellschaft/schwarmdumm-so-bloed-sind-wir-nur-gemeinsam
[11] https://www.saurugg.net/2020/blog/stromversorgung/gier-frisst-hirn-und-kann-in-die-katastrophe-fuehren
[12] https://www.saurugg.net/blackout/risiko-eines-blackouts/aktuelle-situation/#netzfrequenz
[13] https://www.saurugg.net/2021/blog/stromversorgung/bedenkliche-ereignisse-2021
[14] https://www.saurugg.net/blackout/auswirkungen-eines-blackouts/#phasen
[15] https://www.saurugg.net/2011/blog/stromversorgung/tab-studie
[16] https://www.saurugg.net/2015/blog/vernetzung-und-komplexitaet/das-unerwartete-managen
[17] https://www.saurugg.net/blackout/vorbereitungen-auf-ein-blackout
[18] https://www.saurugg.net/eva
[19] https://www.saurugg.net/blackout/vorbereitungen-auf-ein-blackout/notstromversorgung/#ipv
[20] https://gfkv.at/
[21] http://www.saurugg.net/blackout