Warum der Umbruch der europäischen Stromversorgung gefährlich chaotisch verläuft
- Warum der Umbruch der europäischen Stromversorgung gefährlich chaotisch verläuft
- Das Problem der alternden Infrastrukturen
- Fehlende Sollbruchstellen
- Gefährlicher Stromhandel
- Handeln nach einem Blackout
- Was kann getan werden?
- Summary
- Auf einer Seite lesen
Nach dem Lockdown ein Blackout? (Teil 2 und Schluss)
Anfang Januar 2021 mussten bereits deutsche Steinkohlekraftwerke wieder ans Netz gehen, die eigentlich für eine vorzeitige Abschaltung ausgewählt wurden, weil der Bedarf nicht mehr ausreichend gedeckt werden konnte.
Nach derzeitigem Planungsstand sollen bis Ende 2022 rund 22 GW an Atom- und Kohlekraftwerksleistung mit einer Jahresstromproduktionskapazität von rund 128 TWh vom Netz gehen und rückgebaut werden.
Sollte am derzeit fixierten deutschen Kohle- und Atomausstieg bis Ende 2022 festgehalten werden, entstehen in den kommenden Monaten bereits kritische Zeitfenster, wo Flächenabschaltungen zum Schutz des Gesamtsystems nicht mehr ausgeschlossen werden können.
Es ist dabei irrelevant, ob es sich in 99,99 Prozent der Zeit trotzdem ausgehen wird. Das Stromversorgungssystem kennt hier keine Toleranz, die Balance muss zu 100 Prozent der Zeit sichergestellt werden. Ansonsten kommt es zum Systemkollaps.
Fehlendes Grundlagenwissen um Zusammenhänge
In vielen Bereichen und auch bei Entscheidungsträgern fehlt es häufig an den grundlegendsten Kenntnissen, etwa wie unser Stromversorgungssystem funktioniert. Zudem geht es häufig nur um Einzelaspekte und kaum um systemische Zusammenhänge. Daher ist die Tragweite von Entscheidungen oftmals nicht bewusst, oder sie wird schlicht weg ignoriert. Hinzu kommen nun noch die fehlenden Kenntnisse im Umgang mit komplexen Systemen, da diese nicht Bestandteil einer universellen Grundausbildung sind.
Zu den weiteren Kennzeichen von komplexen Systemen zählen, kleine Ursachen können enorme Auswirkungen zur Folge haben, was wir gerade bei der Corona-Pandemie erleben. Ein Virus stellt binnen weniger Wochen die gesamte Welt auf den Kopf.
Auswirkungen von Entscheidungen sind häufig irreversible. Ein abgeschaltetes und rückgebautes Kraftwerk ist für immer verloren. Eingemottete Kraftwerke können nur mit hohem Aufwand erhalten und wieder reaktiviert werden.
Nicht-Linearität bedeutet, dass viele unserer bisherigen Risikobewertungsmethoden scheitern. Besonders trügerisch sind die zeitlich verzögerten Auswirkungen, da diese gerne vernachlässigt werden. Dazu zählt etwa das 50,2-Hertz-Problem, bei dem sich viele Altanlagen mit Wechselrichter zeitgleich vom Stromnetz trennen und einen Jo-Jo-Effekt versuchen würden. Angeblich soll dieses Problem behoben worden sein. Ob das wirklich so ist, wissen wir nicht. Es wurde auf jeden Fall viel zu lange nicht beachtet.
Hinzu kommen steigende Resonanzeffekte, wo sich etwa Wechselrichter und zunehmend mehr elektronische Systeme ("Digitalisierung", E-Mobilität etc.) gegenseitig beeinflussen und selbstzerstörerische Prozesse auslösen. So wurde bereits beobachtet, dass es dadurch zu Bränden bei Ladesäulen oder schwerwiegenden Produktionsausfällen gekommen ist.
Noch schlimmer ist, dass sogar elektronische Bauteile oder Isolierungen von Leitungen rascher altern und es daher in absehbarer Zukunft zu einer steigenden Anzahl von Störungen im Infrastrukturbereich kommen wird. Fachexperten sind davon überzeugt, dass die heute verbauten Wechselrichter so rasch als möglich durch eine neue Generation ersetzt werden müssten, um den Schaden zu begrenzen. Doch wer wird das machen, wenn ohnehin noch alles funktioniert?
Auch bei der Momentanreserve oder bei den Kraftwerksstilllegungen merkt man den Effekt nicht sofort. Die Dinge kumulieren und irgendwann kommt ein Ereignis dazu, welches das Fass zum Überlaufen bringt und nicht mehr beherrschbar ist: kleine Ursache, große Wirkung. Es gibt auch keine einfachen Ursache-Wirkungsbeziehungen, wo man eine eindeutige Schuld zuweisen könnte. Es hat sich einfach über einen längeren Zeitraum aufgebaut.
Der Kollaps von komplexen Systemen ist, wie gut untersucht ist, kein Fehler, sondern ein Systemdesignmerkmal, um eine Erneuerung zu ermöglichen. In der Wirtschaftstheorie wird das als "Schöpferische Zerstörung" bezeichnet. Neues kann sich häufig erst dann entfalten, wenn das alte kaputt oder zerstört worden ist. Eine Vorgangsweise, die bei unserer wichtigsten Lebensader, der Stromversorgung, einer Selbstmordabsicht gleichkommen würde.