Warum der Umbruch der europäischen Stromversorgung gefährlich chaotisch verläuft

Seite 3: Fehlende Sollbruchstellen

Durch die heute fehlenden und klar definierte Sollbruchstellen wird ein möglicher Netzwiederaufbau enorm erschwert. Und gerade das soll in den nächsten Jahren noch deutlich ausgeweitet werden. So müssen etwa aufgrund einer EU-Vorgabe bis 2025 mindestens 70 Prozent der Kapazität der nationalen Grenzkuppelstellen für den grenzüberschreitenden Stromhandel geöffnet werden.

Das, was im Alltag zu einer Belebung des Marktes und damit zu sinkenden Preisen führen kann, führt auf der anderen Seite zu einer massiven Verwundbarkeit des Gesamtsystems, da damit immer weniger auf die physikalischen Grenzen Rücksicht genommen wird. Eine mögliche Störung kann sich wesentlich rascher ausbreiten. Diese Vorgaben widersprechen daher klar einem robusten, zellularen Ansatz und den Erkenntnissen aus den Systemwissenschaften.

Rückbau Windkraftanlagen

Bereits seit Jahren wird darauf hingewiesen, dass viele deutsche Windkraftanlagen betriebswirtschaftlich ohne neue Förderungen nicht weiterbetrieben werden können oder dass diese durch das Auslaufen von zeitlich befristeten Betriebsgenehmigungen zurückgebaut werden müssen. Eine Aufrüstung (Repowering) ist nicht an jedem Standort sinnvoll/möglich.

Demnach soll allein 2021 ein Rückbau von rund 4.500 MW und danach jährlich von rund 2.500 MW erfolgen. Damit ist in den nächsten fünf Jahren mit einer Leistungsreduktion von rund 15 GW zu rechnen, die nur teilweise durch Neuanlagen kompensiert werden. 2020 waren es rund 1.400 MW. In den Folgejahren wird nicht mit wesentlich mehr gerechnet, also etwa der Hälfte der Rückgebauten Leistung.

Digitalisierung

Hinzu kommt, dass durch die zunehmende Digitalisierung des Stromversorgungssystems die wechselseitigen Abhängigkeiten steigen: ohne Strom keine IT. Ohne IT-Infrastruktur, keine Stromversorgung. Experten befürchten, dass bereits heute ein möglicher Netzwiederaufbau daran scheitern könnte, weil sogar zunehmend mehr Schutzeinrichtungen ohne Rückfallebenen ausgestattet sind. Vieles kann und will man einfach nicht glauben, aber die Realität holt einen immer wieder ein. Ein kollektives Versagen, wie das etwa Gunther Dueck bereits vor vielen Jahren in "Schwarmdumm" beschrieben hat.

Zudem entstehen immer mehr digitale Anwendungen auf dem Strom- und Flexibilitätsmarkt. Was im Alltag einen Mehrwert schafft, könnte rasch ins Gegenteil umschlagen, wie etwa der schwerwiegende Cyber-Angriff auf die größte Ölpipeline der USA im Mai 2021 gezeigt hat. Dabei muss gar keine Schädigungsabsicht vorliegen. Ein außer Kontrolle geratener Cyber-Angriff oder auch nur eine schwerwiegende Störung, kann auch rasch zu Problemen in der physischen Welt führen, vor allem in einem System, mit einem derart fragilen Gleichgewicht.