Warum der Umbruch der europäischen Stromversorgung gefährlich chaotisch verläuft

Seite 4: Gefährlicher Stromhandel

Der Stromhandel spielt generell eine zu wenig beachtete Rolle, wenn es um die Gefährdung des europäischen Verbundsystems geht. Im Juni 2019 brachten deutsche Stromhändler das System an den Rand des Kollapses, nachdem sie eine Regulierungslücke ausgenützt haben. Trotz Abmahnung und nun in Aussicht gestellter hoher Strafen scheint es noch immer Lücken zu geben.

So kam es 2021 bereits im ersten Quartal zu über 80 Frequenzanomalien, die wahrscheinlich ursächlich auf eine betriebswirtschaftlich optimierte Kraftwerkseinsatzplanung zurückzuführen sind. Im gesamten Jahr 2020 waren es rund 140 Anomalien. Dabei wird regelmäßig um den Stundenwechsel die Hälfte bis zu zwei Drittel der vorgehaltenen Reserve, um auf unvorhergesehene Kraftwerksausfälle reagieren zu können, eingesetzt.

Sollte es in dieser Zeit tatsächlich zu einem oder mehreren Kraftwerksausfällen kommen, was beim Fahrplanwechsel wahrscheinlicher ist, könnte das rasch zu einer weiteren Eskalation führen. Obwohl das Problem seit Langem bekannt ist, scheint die Regulation keine Notwendigkeit zu sehen, diesen Missbrauch abzustellen. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.

Die Ereignisse vom 8. Januar 2021

Es gibt auch mehrere Hinweise, dass die beiden Faktoren, die reduzierte Momentanreserve und der überbordende Stromhandel, wesentlich zur Großstörung am 8. Januar 2021 beigetragen haben könnten, auch wenn das bisher noch in keinem offiziellen Untersuchungsbericht richtig angesprochen wurde.

Am 8. Januar kam es um 14:04 Uhr im Umspannwerk Ernestinovo (Kroatien) zu einer Überlastung einer Sammelschienenkupplung, die sich daraufhin ordnungsgemäß zum Eigenschutz abgeschaltet hat. Dies führte zu einer Überlastung von 13 weiteren Betriebsmitteln in Südosteuropa, wodurch das europäische Verbundnetz in zwei Teile aufgetrennt wurde.

Die Folge war ein durch das auftretende massive Leistungsungleichgewicht verursachter massiver Frequenzanstieg in Südosteuropa auf 50,60 Hertz und ein Frequenzeinbruch auf 49,74 Hertz in Nordwesteuropa. Im Südosten gab es einen Leistungsüberschuss von 6,3 GW, welcher gleichzeitig im Nordwesten fehlte.

Der sehr steile Frequenzeinbruch bzw. -anstieg weist darauf hin, dass zu wenig Momentanreserve vorhanden war, welche eine derart gravierende Leistungsänderung abfedern hätte müssen. Zum anderen gab es zu diesem Zeitpunkt einen enormen Stromimport von etwa 6,3 GW in Spanien und Frankreich, was darauf hindeutet, dass der überregionale Stromhandel zur Überlastung beigetragen hat. Interessant ist dabei auch, dass die Sammelschienenkupplung im Umspannwerk Ernestinovo bisher nicht als systemrelevant eingestuft und daher nicht in die laufenden Sicherheitsberechnungen eingebunden war.

Daher stellt sich die Frage, wie viele solch unbeobachteten Bruchstellen es noch geben könnte. Das Ereignis am 8. Januar 2021 sollte daher als sehr ernst zu nehmende Warnung verstanden werden, auch wenn von politischer Seite sofort behauptet wurde, dass die Stromversorgung sicher sei. 36 Länder sitzen in einem gemeinsamen Boot. Wenn dieses untergeht, gehen alle mit unter.