Warum die Berichterstattung über Till Lindemann so ekelig ist wie seine Pornos
Kontroverse um Vorwürfe gegen Rammstein-Frontmann. Berichte schaffen Aufmerksamkeit für Medien, Frauen helfen sie nicht. Warum das zwar dem Zeitgeist entspricht, aber rechtsstaatsfeindlich ist. Ein Telepolis-Leitartikel.
Die Vorwürfe gegen Rammstein-Frontmann Till Lindemann haben im Netz – also außerhalb des unmittelbaren politischen Einflussbereichs der Redaktionen – eine heftige Kontroverse ausgelöst: Darf man die Musik der Band noch hören? Darf man noch ihre Konzerte besuchen? Darf man mit Lindemann, der Band und ihrem Umfeld noch Kontakt pflegen?
Bisher ist das Meinungsbild in Foren und sozialen Netzwerken dazu zum einen weit weniger eindeutig, als es einige Leitmedien vermuten lassen. Zum anderen, und das ist wichtiger, haben die oben gestellten und ähnliche Fragen viel mit dem Blick auf Geschlechterverhältnisse und Sexualität, aber auch mit Medienethik und Rechtsstaatlichkeit zu tun.
Viel Ballast also – und das auf sehr dünnem Eis.
Auslöser des aktuellen Skandals um Lindemann sind Berichte des NDR und der Süddeutschen Zeitung (SZ). In beiden Medien hatten Frauen sexuelle Kontakte mit Lindemann im Backstage-Bereich während Rammstein-Konzerten geschildert und als missbräuchlich bezeichnet. Die Redaktionen berufen sich im Wesentlichen auf diese Aussagen sowie auf nicht öffentlich gemachte Chatprotokolle und Screenshots.
Liest man den Bericht von Daniel Drepper, Sebastian Pittelkow und Isabel Schneider vom NDR genauer und zwingt sich zu einem objektiven Blick, der immer schwierig ist, wenn es um sexuelle Übergriffe geht, bleibt von den Vorwürfen kaum etwas Greifbares übrig.
"Zwei Frauen berichten (...) von mutmaßlichen sexuellen Handlungen, denen sie nicht zugestimmt hätten", heißt es im Teaser eines entsprechenden Textes, der unter anderem auf tagesschau.de erschienen ist. Über eine der Frauen, die damals 22-jährige Cynthia A. – ein Pseudonym – heißt es dann, sie habe "nicht ausdrücklich Nein gesagt, sich aber extrem unwohl gefühlt".
"Damals ist Cynthia A. nicht zur Polizei gegangen", schreiben die NDR-Journalisten und insinuieren damit, dass ein solcher Schritt strafrechtliche Folgen für den Musiker gehabt hätte. Wie aber hätte es zu einer Strafanzeige kommen können, wenn der Vorwurf im Grunde nur auf der Aussage beruht, das mutmaßliche Opfer habe sich beim Geschlechtsverkehr mit Lindemann "extrem unwohl gefühlt"?
Diese Aussage allein hat keinen juristischen Wert, aber sie appelliert an Emotionen. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass die Journalisten effekthascherisch hinzufügen, Freundinnen von Cynthia A. hätten ihnen "an Eides statt (...) detailliert bestätigt", dass die junge Frau ihnen dasselbe geschildert habe.
Hier wird mit viel Brimborium eine Rechtslage unterstellt, die es in Deutschland nicht gibt. Anders in Schweden und Dänemark. Denn Kopenhagen hat Mitte Dezember 2020 ein Gesetz in Kraft gesetzt, das die ausdrückliche Zustimmung zum Geschlechtsverkehr zur Pflicht macht. Sex ohne diese Zustimmung gilt als Vergewaltigung. In Schweden ist ein ähnliches Gesetz seit 2018 in Kraft.
Alles bleibt im Vagen, die Redaktion sichert sich rechtlich ab
Nun kann man zu Recht über die Backstage-Kultur bei Konzerten diskutieren. Oder über Lindemanns Verhältnis zu Frauen und das Frauenbild in seinen Videos – dazu gleich mehr. Ebenso darüber, ob die deutsche Rechtslage Frauen ausreichend vor den beschriebenen Situationen schützt.
Oder man macht es wie NDR und SZ: Man zettelt eine Kampagne an, mit viel Emotion und Formulierungen, die sich bei genauerem Lesen als heiße Luft entpuppen.
Die offensichtlich nicht belastbaren Aussagen von Cynthia A. gehören dazu. Aber auch Sätze wie: "Den Reporterinnen und Reportern liegen zudem weitere Aussagen von Zeuginnen an Eides statt sowie zahlreiche Chat-Protokolle vor."
Aha, denkt man an dieser Stelle, jetzt wird es konkret. Doch dann der Nebensatz: Es handele sich um Chatnachrichten, "die Teile der Vorwürfe unterstreichen sollen". Welche Teile? Das weiß man nicht.
Und was bedeutet das Verb "sollen" in dem Satz? Es drückt aus, so der Duden, "dass der Sprecher nicht für den Wahrheitsgehalt dessen einsteht, was er als Nachricht, Information oder dergleichen weitergibt".
Um es klar zu sagen: NDR und Süddeutsche haben hier eine Story herausgehauen, die schlichtweg nicht ausgereift ist. Die Redaktionen hätten genauer hinterfragen müssen, ob sie genügend Material und Beweise zusammen haben, um Lindemann und seine Band damit zu konfrontieren. So aber werden fehlende Fakten kaschiert und durch Skandalisierung kompensiert.
Denn hier geht es nicht um die Diskussion der Rechtslage oder um die Frage, welches Frauenbild in bestimmten Kreisen einer weitgehend von Kokain und Sex bestimmten Eventkultur vorherrscht. Sondern es geht um mutmaßliche Opfer einerseits sowie Lindemann und sein beruflichen und privates Umfeld andererseits.
Was also bisher bleibt, ist eine an Shitstorms und Cancel Culture orientierte Verdachtsberichterstattung. Diese erzeugt zwar viel Aufmerksamkeit. Die negativen Folgen und Gefahren dieser Berichterstattung überwiegen aber, denn sie:
1. untergräbt den Rechtsstaat, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes vorverurteilt;
2. setzt die mutmaßlichen Opfer unter Druck, ihre Vorwürfe untermauern zu müssen; für sie gibt es nun kein Weg mehr zurück;
3. fokussiert einen Einzelfall, ohne die grundlegenden Probleme – Backstage-Kultur, Rechtslage etc. – hinreichend zu diskutieren, um künftige, tatsächliche Opfer effektive zu schützen;
4. rückt die mutmaßlichen Täter schon jetzt derart in den Fokus, dass sie ohne eine rechtsstaatlich festgestellte Schuld konkrete Sanktionen erleiden;
5. schaden, falls sich die Vorwürfe nicht erhärten, dem Schutz von Frauen vor sexueller Gewalt nachhaltig.
Aber Daten prüfen und Urteile abwarten, das ist nicht das Gebot der Stunde. Denn jetzt werden Fakten geschaffen! Allen voran der Verlag Kiepenheuer & Witsch, der Lindemann bisher verlegt hatte. Am Freitag beendete der kurz "Kiwi" genannte Verleger die Zusammenarbeit und merzte Lindemann geradezu von seiner Seite aus. Seither taucht er weder in der Autorenliste auf, noch wird sein Band "100 Gedichte" noch angeboten.
Wie glaubwürdig sind die Akteure in diesem Skandal?
Kiwi-Verlegerin Kerstin Gleba veröffentlichte dazu zwei verquaste Erklärungen, die im Grunde neben Ihrer Illoyalität gegenüber Geschäftspartnern nur von mangelnder Ehrlichkeit und Mutlosigkeit des Hauses zu zeugen scheinen.
Denn argumentiert wird mit einem Pornovideo Lindemanns, in dem er "sexuelle Gewalt gegen Frauen zelebriert" und in dem "das 2013 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienene Buch 'In stillen Nächten' eine Rolle spielt", wie es verschämt heißt.
Es dauert weniger als eine Minute, um das entsprechende Video über Google auf einer beliebten Pornoplattform zu finden. Zu sehen ist unter anderem eine blonde, nackte Frau, die das 2013 erschienene Kiwi-Buch von einem Dildo durchbohrt in die Kamera hält.
Ansonsten ist das Video, in dem Lindemann später auch noch Körperteile zur Schau stellt, die man – ganz ehrlich – weder dort noch auf der Bühne sehen möchte, so peinlich, dass man sich fragen muss, wie viele Drogen und sozialer Kontrollverlust nötig sind, um so ein Machwerk entstehen zu lassen.
Sexuelle Gewalt gegen Frauen wird aber vor allem in einem anderen Video zelebriert, das bereits ein Jahr zuvor, 2020, von einer angeblichen Userin aus Kiew auf ein Unser-Profil mit dem Namen Lindemanns hochgeladen wurde.
Hält die Kiwi-Herausgeberin Gleba peinliche Sexfilme generell für einen Kündigungsgrund?
Hat sie sich einfach nicht ausreichend mit den Vorwürfen auseinandergesetzt?
Oder hält sie Pornos, in denen ihre eigenen Bücher vorkommen, gar für verwerflicher als eindeutig frauenverachtende Filme?
Kaum zu glauben, dass der Verlag die beiden Videos nicht kannte. Denn das erste von Lindemanns Fremdschäm-Filmchen mit eindeutig frauenfeindlichem Charakter erschien 2020, zeitgleich mit dem Kiwi-Band "100 Gedichte". Darin auch das Porno-Poem "Wenn du schläfst", das Vergewaltigungsfantasien beschreibt.
Für Kiwi schien das verlegerisch offenbar völlig in Ordnung zu sein, solange sich damit Geld verdienen ließ. Doch nun überstieg offenbar der befürchtete Schaden den zu erwartenden Gewinn.
So bleiben vom Fall Lindemann bisher nur viele Behauptungen; Frauen, die mutmaßlich Opfer sexueller Übergriffe geworden sind und nun an die Öffentlichkeit gezerrt werden; Skandalberichte, die Klicks generieren sollen. Und eine entweder unprofessionelle oder feige Verlegerin.
Aber nichts Greifbares, nichts Bewiesenes. Das alles erinnert sehr an den Fall Julian Assange, bei dem sich entsprechende Vorwürfe in Luft aufgelöst haben.
Bei den Linken in Rheinland-Pfalz wurde kürzlich ein Politiker ausgeschlossen, weil er die damalige Landesvorsitzende nach deren Aussage als "Wixxvorlage" bezeichnet haben soll – während die Staatsanwaltschaft Trier nach einer Gegenanzeige des Mannes noch prüft, ob der Vorwurf beweisbar ist oder selbst einen Straftatbestand erfüllt.
Und natürlich schwebt über allem die Causa Jörg Kachelmanns, der nachweislich Opfer einer kriminellen Falschbeschuldigung geworden ist, dem aber bis heute das Stigma des Vergewaltigers anhaftet – woran Medien einen erheblichen Anteil haben.
Offenbar hat man bei NDR und SZ aus solchen Fehltritten nichts gelernt. Und wenn sich die Vorwürfe im Fall Lindemann nicht erhärten? Dann wird man sich in Hamburg und München darauf berufen, man habe ja nur über "Vorwürfe" berichtet und alles schön im Konjunktiv gehalten.
Einen in der Sache wenig beachteten, aber bemerkenswerten Akzent setzte die Band Rammstein übrigens selbst. Sie wehrte sich in einer Stellungnahme gegen Vorverurteilung, bat aber ihre Fans vorab: "Beteiligt euch nicht an öffentlichen Vorverurteilungen jeglicher Art denen gegenüber, die Anschuldigungen erhoben haben. Sie haben ein Recht auf ihre Sicht der Dinge."