Warum dürfen Ukraine und Israel den Kurs des US-Imperiums bestimmen?

Ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu bei den Vereinten Nationen am 19. September 2023. Bild: Ukrainische Regierung

Noch hält Biden daran fest, die Ukraine und Israel bedingungslos zu unterstützen. Doch in der Regierung wächst der Streit. Was folgt daraus? Gastbeitrag.

Das Bündnissystem der Vereinigten Staaten wird häufig als Imperium bezeichnet, und das aus gutem Grund. Aber es ist eine besondere Form des Imperiums, in dem das Metropolen-Zentrum von der Peripherie gelenkt und beherrscht zu werden scheint. In der klassischen Vorstellung eines Imperiums ging die Herrschaft von oben nach unten. Nicht so in diesem Reich.

David C. Hendrickson ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft in den USA und Präsident der John Quincy Adams Society.

Diese Umkehrung wird nirgendwo deutlicher als in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Israel. Biden reagierte auf die Anschläge vom 7. Oktober, indem er Israel volle Unterstützung für sein Ziel der Zerstörung der Hamas zusicherte.

Das gleiche Muster zeigt sich in der Politik gegenüber der Ukraine. 18 Monate lang wagte es die Biden-Regierung nicht, den Kriegszielen der Ukraine Grenzen zu setzen, obwohl diese absurderweise einen totalen Sieg über Russland vorsahen, an dessen Ende Wladimir Putin auf der Anklagebank sitzen würde.

Diese Gewissheiten sind jedoch ins Wanken geraten. Innerhalb der Regierung scheint in den letzten Wochen die Erkenntnis gereift zu sein, dass beide Wege nicht nachhaltig sind.

Der Tenor der jüngsten Berichterstattung ist folgender: Die Ukrainer verlieren den Krieg und müssen diese Tatsache anerkennen, besser jetzt als später. Die Israelis benehmen sich barbarisch und müssen in die Schranken gewiesen werden, sonst ist unser Ruf in der Welt ruiniert.

Was die Ukraine betrifft, so gab es zwei bahnbrechende Ereignisse. Die eine war ein NBC-Bericht, der ein düsteres Bild der militärischen Lage zeichnete und berichtete, dass US-amerikanische und europäische Diplomaten die Ukraine auf die Notwendigkeit hinwiesen, ihre Ziele zu reduzieren. Es sei zu spät, um noch auf etwas anderes als eine Pattsituation zu hoffen, sagte ein ehemaliger Regierungsbeamter: "Es ist Zeit für eine Einigung."

Der andere war ein langer Essay in der Time, in dem Selenskyj als messianische und fanatische Figur charakterisiert wurde, die mit den sich verschlechternden Aussichten der Ukraine nichts mehr zu tun hat. Die Korruption ist noch schlimmer als angenommen.

Der Westen versucht wichtige militärische Ausrüstung zusammenzukratzen. Das ukrainische Militär kann keine neuen Rekruten finden. Mehr Mittel aus dem Kongress, selbst die von der Regierung beantragten 61 Milliarden Dollar, können keines dieser Probleme lösen.

18 Monate lang hat die Biden-Regierung Biden darauf bestanden, dass die Ziele der Ukraine ausschließlich von ihr selbst bestimmt werden und dass die Vereinigten Staaten sie unabhängig davon unterstützen würden. Nachdem die Sommeroffensive der Ukraine fast vollständig gescheitert ist, scheint die Regierung kalte Füße zu bekommen.

Das findet im Geheimen statt, und hinter den Kulissen sollen "stille" Gespräche geführt werden. Wahrscheinlich sind Bidens Berater sogar gespalten. Obwohl sich die offizielle Politik kein bisschen geändert hat, sind die Anzeichen dazu eindeutig da.

Der Zwiespalt über Israel ist noch akuter. Weit verbreiteten Berichten zufolge sind Biden und seine Berater der Ansicht, dass Israel im Gazastreifen ein irrsinniges Projekt verfolgt. Sie sind der Ansicht, dass die Vereinigten Staaten – die Israel grünes Licht, einen Blankoscheck und tonnenweise Bomben gegeben haben – für die schrecklichen humanitären Folgen direkt verantwortlich gemacht werden können.

Sie glauben nicht, dass Israel ein kohärentes "Endgame", eine Zielperspektive definiert hat. Sie befürchten, dass die USA ihre schützende Hand über eine moralische Ungeheuerlichkeit halten. Sie sehen einen rapiden Einbruch der Unterstützung von anderer Seite.

Im vergangenen Monat hat Biden die Israelis davor gewarnt, als Vergeltung für den 7. Oktober aus Wut und Rache zu handeln. Er riet davon ab, eine Invasion mit Bodentruppen in Gaza zu starten. Er bestand darauf, dass Israel versucht, den Tod von Zivilisten so weit wie möglich zu vermeiden.

Setzen Sie kleinere Bomben ein, sagen Bidens Militärberater. Eine nachlassende Unterstützung, so Biden, "wird schwerwiegende strategische Folgen für die Operationen der israelischen Verteidigungskräfte gegen die Hamas haben".

Am vergangenen Wochenende wandte sich US-Außenminister Antony Blinken an den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu mit diesen Vorstellungen und der Bitte um eine "humanitäre Pause". Bibis Antwort: Das wird nicht passieren.

"Wer ist hier die verdammte Supermacht?"

Ich habe eine Idee. Die Vereinigten Staaten könnten damit drohen, die Militärlieferungen an Israel auszusetzen, wenn man einem Waffenstillstand nicht zustimmt. Das könnte einen Eindruck hinterlassen.

Israel zu trotzen, ist jedoch etwas, wozu kein Präsident seit George H.W. Bush bereit war. Die USA haben in den letzten 30 Jahren, wie auch jetzt, als unerschütterlicher Freund agiert: "Das ist wirklich zu eurem Besten, aber wir würden es nicht wagen, es von euch zu verlangen".

Die Israelis fest umarmen und ihnen unaufhörlich Ihr unermüdliches Engagement versichern: So ging man vor, um sie zu überzeugen.

Es gab einige israelische Führer, die auf diesen Ansatz reagierten, aber Benjamin Netanjahu gehörte nie dazu. Bill Clintons Kommentar nach dem ersten Treffen mit Netanjahu im Jahr 1996 – "Wer ist hier die verdammte Supermacht?" – spiegelt Bibis Einschätzung wider, dass er in den Vereinigten Staaten eine innenpolitische Opposition heraufbeschwören kann, die jede Bedrohung durch einen US-Präsidenten zunichtemachen wird.

Einer Umfrage zufolge wollen heute 66 Prozent der Amerikaner einen Waffenstillstand, aber weniger als fünf Prozent der Abgeordneten im Repräsentantenhaus. Also weiß Bibi vielleicht, wovon er spricht. Die AIPAC [israelische Lobbyorganisation in Washington D.C.] ist damit beschäftigt, die wenigen mutigen Kongressabgeordneten mit Anzeigen anzugreifen, die Israel kritisiert und einen Waffenstillstand gefordert haben.

Aber Biden muss sich um die größere Rolle der Vereinigten Staaten in der Welt sorgen und ist sich der Wahrscheinlichkeit bewusst, dass das, was in Gaza geschieht, Amerikas Legitimität zerstören wird.

Wer im Nicht-Westen könnte jemals wieder eine Belehrung der USA über ihr eifriges Engagement für die Menschenrechte ertragen? Was würde das für Amerikas Position gegenüber Russland bedeuten?

Angesichts der gegenwärtigen Entwicklung – kein Ausgang zum Sinai für die Masse der Bevölkerung des Gazastreifens, der völlige Zusammenbruch des Gesundheits- und Abwassersystems, der unerbittliche militärische Druck und die Wirtschaftsblockade Israels, 1,5 Millionen bereits Vertriebene – ist es schwer vorstellbar, zu verhindern, dass die Gesamtzahl der Todesopfer unter den Gaza-Bewohnern am Ende nicht in die Hunderttausende geht.

Wahrscheinlich werden viel mehr Menschen an Krankheiten und Epidemien sterben als durch Kugeln und Bomben. An diese Erfahrung wird man sich, wie Netanjahu sagte, "noch jahrzehntelang" erinnern. Was, wenn es in der Weltöffentlichkeit als historisches Verbrechen aufgenommen wird?

Erstaunlicherweise berufen sich die Befürworter eines totalen Krieges gegen die Hamas auf Dresden, Hiroshima und andere Gräueltaten, um ihren Kurs zu rechtfertigen, wobei sie übersehen, dass weder Deutschland noch Japan jemanden hatten, der nach dem Krieg um sie weinte, während die Palästinenser heute 1,8 Milliarden Muslime haben, die um sie weinen.

Es liegt auf der Hand, dass Israel sein Ziel, die Hamas zu vernichten, nicht bis zum Ende verfolgen kann, ohne dabei Tote in biblischem Ausmaß zu verursachen. Es gibt keinen Grund für die Vereinigten Staaten, sich diese Ziele zu eigen zu machen.

Biden hat die Wahl: Entweder er geht hart mit den Israelis ins Gericht oder er macht mit bei dem, was, wie er selbst befürchtet, zu einer gigantischen Katastrophe werden wird.

Es gibt Präzedenzfälle für ein entschlossenes Vorgehen, die aber zugegebenermaßen weit entfernt sind. Dwight Eisenhower tat das 1956 im Zusammenhang mit dem anglo-französisch-israelischen Suez-Abenteuer. Bush I. tat es 1991 angesichts der Kreditgarantien für Israel.

Das eindrucksvollste Beispiel ist jedoch das Jahr 1982, als Ronald Reagan den israelischen Premierminister Menachem Begin aufforderte, die israelische Bombardierung von Beirut einzustellen. "Menachem", sagte Reagan, "das ist ein Holocaust".

Zu Reagans Überraschung wirkte seine Drohung einer qualvollen Neubewertung. "Ich wusste nicht, dass ich diese Art von Macht habe", sagte er seinem Berater Mike Deaver. Zum Zeitpunkt von Reagans Drohung näherte sich die Zahl der Todesopfer des zweieinhalb Monate andauernden Krieges 20.000, von denen fast die Hälfte Zivilisten waren.

Kann Biden den Willen aufbringen, Netanjahu zu konfrontieren? Wird seine Regierung die Ukraine an den Verhandlungstisch zwingen?

In unserem seltsamen Imperium, in dem die Abhängigen das Sagen haben, diktieren tief verwurzelte Tendenzen eine negative Antwort auf beide Fragen, obwohl eine kluge Politik eine positive anraten würde. Vielleicht ist die Zeit reif für eine neue Politik, in der die USA ihre eigenen nationalen Interessen und nicht die der anderen verfolgen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.

David C. Hendrickson ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Colorado College und Präsident der John Quincy Adams Society. Er ist der Autor mehrerer Bücher, darunter "Republic in Peril: American Empire and the Liberal Tradition".