Warum von Macrons harscher Ukraine-Rhetorik nichts geblieben ist – und was Deutschland damit zu tun hat
Frankreichs Präsident beharrt auf eine eigenständige Linie. Doch auch sein Handlungsspielraum ist beschränkt. Das merkt man nun schmerzlich in Kiew.
Im Februar hatte der französische Präsident Emmanuel Macron für Aufsehen gesorgt. Damals dachte er öffentlich darüber nach, französische Truppen in die Ukraine zu entsenden.
Diese bahnbrechende Ankündigung wurde von vielen Akteuren in den USA positiv aufgenommen. Endlich zeigte eine europäische Großmacht Führungsstärke bei der Wiederbelebung der liberalen internationalen Ordnung (LIO).
Auch in der belagerten Ukraine weckten Macrons Worte Hoffnung. Würden die Europäer die USA nun zumindest ein wenig dabei unterstützen, die regelbasierte Ordnung in ihrem eigenen Hinterhof zu retten.
Doch fast so plötzlich, wie er mit einem Krieg gegen Russland gedroht hatte, verschwand Macron wieder von der Bildfläche. Er hat nicht nur seine Rhetorik abgeschwächt, sondern es auch versäumt, der Ukraine zusätzliche substanzielle militärische und finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen, die Frankreichs Status als führende westliche Wirtschafts- und Militärmacht gerecht würde.
Ist es Macron ernst damit, der Ukraine zu helfen? Können die USA darauf vertrauen, dass Macron die LIO retten wird?
Kritik an US-"Hypermacht"
Zunächst ein Wort zu Macrons Einstellung zu internationalen Angelegenheiten. Entgegen allem Anschein geht es bei Macrons Außenpolitik um mehr als die Rettung der LIO.
Er hat das diplomatische Handwerk von Hubert Védrine gelernt, dem französischen Außenminister (1997–2002). Védrine prägte den Begriff der "Hypermacht", um die Dominanz der USA während des unipolaren Moments zu kritisieren, und der für eine Rückkehr zur Realpolitik eintrat.
Macron schätzt die Ansichten des ehemaligen Premierministers Dominique de Villepin (2005-2007), der für seine entschiedene Haltung gegen den Irak-Krieg und den westlichen Interventionismus bekannt ist.
Anlehnung an Sarkozy
Macron lässt sich auch vom ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy (2007-2012) inspirieren, der sich für die gleichzeitige Entwicklung der Europäischen Union, den Verbleib in der Nato und die Annäherung an Russland einsetzt. Macron respektiert das Bündnis mit den USA, weiß aber auch, dass die Interessen Frankreichs nicht immer mit denen Washingtons übereinstimmen.
Wie viele französische Staatschefs vor ihm möchte er, dass Frankreich seine eigene Rolle spielt, um auf der Weltbühne relevant zu bleiben. Dafür muss er mit Russland, China und dem "Globalen Süden" in Kontakt zu bleiben. "Unter mir wird die neokonservativen Ideologie, die vor zehn Jahren nach Frankreich importiert wurde, ihr Ende finden", sagte er 2017 in Le Figaro.
Vermittlungsversuch Macrons
Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, versuchte Macron zu vermitteln. Er glaubte, ein gutes persönliches Verhältnis zu Wladimir Putin zu haben. 2017 empfing er den russischen Staatschef im Schloss von Versailles, eine seltene Ehre für ein Staatsoberhaupt. 2019 besuchte Putin Fort Brégançon, den Urlaubsort des französischen Präsidenten, was darauf hindeutet, dass die Beziehung persönlicher geworden ist.
Macron selbst besuchte Putin Anfang Februar 2022 in Moskau, nur wenige Wochen vor der russischen Invasion. Noch am Vorabend dieses folgenschweren Schrittes glaubte Macron nach einem Telefonat mit dem Kreml, einen Krieg abgewendet zu haben.
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Doch am nächsten Tag rief Putin an, um ihm mitzuteilen, dass er die Unabhängigkeit des Donbass anerkennen werde. Einen Monat später duzte er Putin noch immer, was vor allem in der französischen Kultur ein Zeichen der Freundschaft und des Vertrauens ist. Im Juni warnte Macron den Westen vor jedem Versuch, Russland zu demütigen, scheinbar im Gegensatz zur harten Linie Londons und Washingtons.
Was hatte sich geändert?
Zunächst einmal die französische Einschätzung des Kräfteverhältnisses auf dem Schlachtfeld und des wahrscheinlichen Kriegsverlaufs. Ende 2023 und Anfang 2024 waren die französischen Geheimdienste zu dem Schluss gekommen, dass die Ukraine den Krieg hoffnungslos verlieren würde.
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Die fehlgeschlagene Gegenoffensive vom Sommer 2023 hatte einige der besten ukrainischen Einheiten vernichtet, Russland hatte neue Rekruten unter Vertrag genommen und seine ausgedünnten Streitkräfte schneller wieder aufgebaut als Kiew.
Und die Unterstützung des Westens würde wahrscheinlich nie wieder so groß sein wie in den ersten Monaten des Krieges. Ohne eine dramatische Wende der Ereignisse würde der Westen daher einen entscheidenden russischen Sieg akzeptieren müssen.
Macron schielte auf EU-Wahl
Zweitens standen für Macron die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni auf dem Programm. Alle Umfragen deuteten auf eine vernichtende Niederlage hin: Nach sieben Jahren im Amt hatte er wenig vorzuweisen.
Das umfassende Wirtschaftsreformprogramm, das er im Jahr 2017 auf den Weg gebracht hatte, wurde durch die Proteste der Gelbwesten im Jahr darauf 2018 eingehegt. Dann kam die Corona-Pandemie.
Mehrheit verloren
Obwohl er 2022 wiedergewählt wurde, verfügte der umstrittene Präsident nicht mehr über die frühere parlamentarische Mehrheit und musste Kompromisse mit der Opposition eingehen, um regieren zu können.
Er brauchte ein Wahlkampfthema für die Europawahlen. Bis zum 7. Juni, zwei Tage vor der Wahl, stellte er immer wieder eine direkte Beteiligung Frankreichs in Aussicht. Doch schon Ende Juni versprach er, auf absehbare Zeit keine französischen Truppen in die Ukraine zu schicken.
Ein dritter Faktor war Deutschland. In den ersten Kriegsmonaten hatte Berlin sowohl eine überraschend harte Haltung gegenüber Russland eingenommen als auch historische Investition in seine Verteidigung, die "Zeitenwende", angekündigt.
Letzteres löste in Frankreich ein gewisses Unbehagen aus, so dass einige Offiziere Macron aufforderten, gegenüber Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ihre Besorgnis über den militärischen Aufstieg Deutschlands zum Ausdruck zu bringen. "Wir können nicht sagen, dass [eine riesige deutsche Armee] im letzten Jahrhundert zu gut für uns gewesen ist", sagte ein Offizier. Ein wiedererstarkendes Deutschland könne Paris nicht gleichgültig lassen.
Vor diesem Hintergrund verfolgte Macron mit seiner Interventionsdrohung im Februar drei Ziele. Er hoffte, dass eine klare Drohung mit einer direkten Intervention das Kalkül des Kremls ändern würde. Angesichts der Aussicht auf eine direkte Konfrontation mit einem Natgo-Land glaubte Macron, dass Putin eher zu Verhandlungen bereit sein würde.
Innenpolitisch glaubte Macron, dass seine Drohung dazu beitragen könnte, ihn als effektiven Anführer der EU und des Westens gegen die russische Aggression zu etablieren und im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament einen "Rund-um-die-Fahne-Effekt" zu erzeugen.
Schließlich glaubte er, dass eine "Falkenb"-Haltung auch dazu dienen würde, die deutschen Aufrüstungsanreize zu neutralisieren. Mit Frankreich an der Spitze hätte Berlin weniger Bedarf, militärisch gegen Russland aufzurüsten. Wollte sich Deutschland stärker durchsetzen, würde es sich von Paris führen lassen.
Aber Macron hat nie wirklich ernsthaft in der Ukraine direkt intervenieren wollen, sondern nur gehofft, dass Putin durch harsche Rhetorik kalte Füße bekommt. In der Tat warnten französische Offiziere den Präsidenten, dass ihre Streitkräfte nicht in der Lage seien, es mit der viel größeren und kampferfahreneren russischen Armee aufzunehmen, und dass ein kleines Expeditionskorps wahrscheinlich dezimiert würde, ohne viel ausrichten zu können.
Über die Ukraine hinaus würde die Rolle des Retters Europas und der "freien Welt" jedoch Wahlkampfzwecken dienen und dazu beitragen, den von Deutschland befeuerten Trend zur Aufrüstung zu stoppen.
Bei den Europawahlen im Juni erlitt Macrons Partei jedoch eine herbe Niederlage. Im Juli verlor sie auch die Parlamentswahlen, wenngleich diese Niederlage weniger gravierend ausfiel als befürchtet.
Die große Mehrheit der Wähler sprach sich klar gegen die Entsendung von Truppen in die Ukraine aus. Macron, der ohnehin sehr unpopulär und isoliert ist, wird nicht bereit sein, Hunderte von Franzosen für einen so weit entfernten Krieg zu riskieren, den niemand will.
Zudem hat die Kriegsmüdigkeit der Deutschen und Amerikaner bereits zu einer starken Reduzierung der finanziellen und militärischen Unterstützung für Kiew geführt. Frankreich hat sich bisher nicht bereit gezeigt, diese weggebrochene Hilfe zu kompensieren.
Macrons diplomatischer Plan hat wenig gebracht, weil Moskau unbeeindruckt blieb. Darüber hinaus sollte sich niemand von den starken Worten des französischen Präsidenten täuschen lassen. Paris wird keinen Krieg mit Russland wegen der Ukraine riskieren, und Macrons außenpolitische Grundprinzipien stimmen nur teilweise mit der liberalen internationalen Ordnung überein, die die Regierung Biden anstrebt.
Macron weiß sehr wohl, was man in Washington gerne hört. Und er bedient sich der richtigen Rhetorik, um dort Unterstützung zu gewinnen. Aber wie immer bleibt Frankreich ein unabhängiger Verbündeter mit eigenen Interessen.
Dylan Motin ist promovierter Politikwissenschaftler. Er ist derzeit Kelly Fellow am Pacific Forum und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for International and Strategic Studies. Er ist Autor von Bandwagoning in International Relations: China, Russia, and Their Neighbors (Vernon Press, 2024).