Warum wir einem Kollaps des russischen Staats nicht zujubeln sollten
Zerstörter russischer Panzer. Bild: АрміяInform
Trotz der rosigen Vorhersagen westlicher Denkfabriken wäre ein russisches Machtvakuum kein Grund zum Feiern. Sie beziehen verschiedene Faktoren nicht ein. Was vom Debakel im Irak gelernt werden sollte.
1998, inmitten einer jahrelangen US-Offensive zum Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein, stellte General Anthony Zinni fest, dass die Vereinigten Staaten keinen wirklichen Plan für die Zeit danach hätten.
Zinni ging daher ans Werk, indem er eine Reihe von Kriegsszenarien in Auftrag gab, die vorhersagten, dass ein Irak nach dem Sturz Saddams in ein blutiges Chaos stürzen würde. Die Analyse, die damals weitgehend ignoriert wurde, sollte sich in den darauffolgenden Jahren als prophetisch erweisen.
Es lohnt sich, jetzt daran zu erinnern, nachdem die seit Langem gehegten Hoffnungen, dass die Invasion der Ukraine das Ende der Herrschaft von Wladimir Putin bedeuten würde, am vorletzten Wochenende durch die Meuterei des Anführers der Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin, gegen den russischen Präsidenten realer geworden zu sein scheinen.
Das Ereignis wirft mehrere Fragen auf: Was genau ist der Plan der USA, sollte der russische Staat zusammenbrechen? Was würde auf ein Machtvakuum nach Putin folgen? Und welche Maßnahmen sollten die Vereinigten Staaten ergreifen, um ihre Beziehungen mit dem Land in einem solchen Szenario neu zu regeln?
Wir können uns einen Eindruck davon verschaffen, wie das außenpolitische Establishment über dieses Thema denkt, wenn wir uns ansehen, was einflussreiche Denkfabriken zu sagen haben.
Nehmen wir das Center for a New American Security, eine von Waffenherstellern finanzierte Denkfabrik, die eng mit der Demokratischen Partei verbunden ist und aus der die Biden-Regierung viele ihrer hochrangigen außenpolitischen Mitarbeiter rekrutiert hat.
Kurz vor Prigoschins Putschversuch verfasste Andrea Kendall-Taylor, Leiterin des Transatlantischen Sicherheitsprogramms, einen Artikel, in dem sie mehrere Szenarien für ein Russland nach Putin skizzierte und sich dabei stark auf ihre Aussage bei einer Senatsanhörung im Mai stützte.
In einem Szenario, schreibt Kendall-Taylor, bleibt Putin an der Macht und stirbt schließlich im Amt, gefolgt von einem schwachen Technokraten, der an der derzeitigen russischen Politik wenig ändert.
In einem anderen Szenario – das sie bevorzugt – löst ein ukrainischer Militärsieg eine "seismische Verschiebung" in der politischen Landschaft Russlands aus und ruft "eine Welle der Begeisterung hervor, die ihn stürzen könnte", was "die Möglichkeit einer hoffnungsvolleren Zukunft für Russland und für seine Beziehungen zu seinen Nachbarn und dem Westen" eröffnet.
Kendall-Taylor räumt ein, dass die Chancen für ein liberaleres, demokratischeres Russland gering sind, und verweist auf die ägyptische Revolution von 2011, die letztlich in die brutale Diktatur von Abdel Fattah El-Sisi mündete. Und sie räumt ein, dass im Falle einer Absetzung Putins durch einen bewaffneten Aufstand "nicht nur die Folgen gewalttätig wären, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, dass eine neue Diktatur an die Macht käme, groß wäre".
Doch trotz der Risiken "von Gewalt, Chaos und sogar der Chance, dass eine noch repressivere Regierung im Kreml entsteht", kommt Kendall-Taylor zu dem Schluss, dass "ein besseres Russland nur durch einen klaren und deutlichen ukrainischen Sieg entstehen kann", der …
die Russen in die Lage versetzen wird, ihre imperialistischen Ambitionen abzulegen und den künftigen Eliten des Landes eine wertvolle Lektion über die Grenzen militärischer Macht zu erteilen.
Unabhängig davon, welche Führungspersönlichkeit folgt, sollte der Westen es vermeiden, die Beziehungen voreilig zu stabilisieren, und stattdessen Russlands Rückzug aus der Ukraine, die Zahlung von Reparationen und die Verfolgung von Kriegsverbrechern fordern, während man darauf abzielen sollte, "Russland und seine Fähigkeit, Aggressionen jenseits seiner Grenzen zu führen, langfristig einzuschränken".
Obwohl Kendall-Taylor die Risiken dabei wie üblich nicht beachtet, ist sie jedoch einer der wenigen, der das Potenzial an Gewalt, Instabilität und einer härteren Gangart der russischen Regierung wahrnimmt.
Das Center for European Policy Analysis, eine weitere Hardliner-Denkfabrik, hat seit Beginn des Krieges mehrere Beiträge veröffentlicht, in denen es heißt, dass der mögliche Zusammenbruch und Zerfall Russlands "für alle gut sein wird" und dass das Ziel der USA "die Entkolonialisierung sein sollte", eine beliebte neue Abkürzung für die Förderung des Zerfalls Russlands.
Ebenso weigert sich Pavel K. Baev vom Brookings Institut ausdrücklich, die, wie er es nennt, "sehr reale Möglichkeit" eines "katastrophalen Zusammenbruchs von Russlands autokratischem Regime und des Zerfalls dieses zutiefst gestörten Staats" in Betracht zu ziehen, obwohl er darauf besteht, dass es "unerlässlich ist, sich auf einen Umsturz in Russland vorzubereiten".
Stattdessen behauptet er, die Hardliner um Putin hätten "weder eine wirtschaftliche Grundlage noch öffentliche Unterstützung" für eine Eskalation des Krieges, und wer auch immer an die Macht käme, würde sich ihrer einfach entledigen und nach "einem Ausweg aus der sich beschleunigenden Katastrophe" suchen.
Diese neue Führung, so prognostiziert Baev, würde eine "Reihe territorialer Zugeständnisse" machen, Moskaus Abhängigkeit von seinem Atomwaffenarsenal neu bewerten und die Gespräche mit den Vereinigten Staaten über Rüstungskontrolle und strategische Stabilität wieder aufnehmen.
Der weißrussische Autokrat Alexander Lukaschenko würde in der Folge durch eine "eindeutig proeuropäische Regierung" ersetzt, was wiederum Moskau dazu veranlassen würde, Putins Annexion vom September rückgängig zu machen und sich vollständig aus der Ukraine zurückzuziehen. Schließlich würde Russland ohne Putin weniger zur Konfrontation mit dem Westen neigen, was für China einen großen Rückschlag bedeuten würde.
Werden Hurra-Patrioten wirklich einen schweren Stand haben?
Ähnliche Vorhersagen gibt es zuhauf. Sollte Putins Herrschaft zusammenbrechen, so Carl Bildt, Co-Vorsitzender des Europäischen Rates für Auswärtige Beziehungen, "werden die Hurrapatrioten einen schweren Stand haben", während demokratische Forderungen an Kraft gewinnen werden.
Ein klarer ukrainischer Sieg könnte eine neue Führung herbeiführen, die "die Tür zu einer wiederbelebten wirtschaftlichen Partnerschaft mit dem Westen öffnet", so William Drozdiak vom Wilson Center, Gründungsdirektor vom Transatlantic Center des German Marshall Fund.
Andere haben ehrgeizigere Pläne. William Courtney, Senior Fellow bei der einflussreichen und vom Pentagon finanzierten Rand Corporation, schlägt vor, die Sanktionen nur dann zu lockern, wenn Russland seine Truppen sowohl aus der Ukraine als auch aus Weißrussland abzieht.
Anstatt wie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die US-Streitkräfte in Europa abzubauen, sollten die Vereinigten Staaten erwägen, "ihre Streitkräfte in Mittel- und Osteuropa zu verstärken" und die Tür für eine weitere Nato-Erweiterung offenzuhalten, während sie Russlands neue Führung zu demokratischen Reformen verpflichten.
Überraschenderweise ist das Center for Strategic and International Studies (CSIS), ein prominenter Think-Tank des Establishments, versöhnlicher gestimmt, erkennt dennoch die ernsten Risiken von Gewalt und Instabilität in einem russischen Machtvakuum an und fordert einen "vorsichtigen vertrauensbildenden Prozess" sowie die Aufrechterhaltung des Versprechens, Russland in Europa "wieder willkommen zu heißen", wenn es sich reformiert. (Eine weniger überraschende Wendung ist, dass CSIS nach wie vor auf der Aufrechterhaltung von Sanktionen, der Fortsetzung der Militärhilfe für die Ukraine und der Verfolgung russischer Kriegsverbrecher im Falle eines völligen Zusammenbruchs Russlands besteht.)
In einigen Fällen scheinen die Vorhersagen und politischen Vorschläge im Widerspruch zueinanderzustehen. Auf einer vom German Marshall Fund gesponserten Veranstaltung im vergangenen Jahr waren sich die Analysten wohl einig, dass "ein Russland nach Putin schlimmer wäre als heute", mit der Möglichkeit eines "noch stalinistischeren Staats", eines Bürgerkriegs und "des Zerfalls und der Zersplitterung Russlands mit von Milizen und Warlords kontrollierten Gebieten".
In jüngster Zeit hat Bart M. J. Szewczyk, der Senior Fellow des Fonds, argumentiert, dass die Nato-Regierungen in erster Linie "ihre Anstrengungen verstärken müssen, um der Ukraine zu helfen, den Krieg zu gewinnen", ohne diese auf der letztjährigen Veranstaltung ausgesprochenen düsteren Warnungen zu erwähnen.
Er hält es für einen "Irrtum" anzunehmen, dass gegenseitige Sicherheitsgarantien in Hinsicht auf einen tragfähigen Frieden für Russland unerlässlich sind, und fordert, eine militärische Niederlage Russlands zu nutzen, "den sogenannten eingefrorenen Konflikt in Moldau zu beenden, den russischen Marionettenstaat Transnistrien aufzulösen und Belarus bei der Demokratisierung zu helfen" sowie für die neue Generation einen Michail Gorbatschow zu finden, einen "russischen Nachfolger, mit dem sie Geschäfte machen können".
Einige gemeinsame Motive bei diesen Analysen fallen auf. Nur wenige denken daran, dass auf Putin nicht nur Gewalt und die Auflösung des Landes folgen könnten, wie mehrere Experten gewarnt haben, sondern eine noch härtere Regierung unter der Führung von Falken, die eher zu einer Eskalation des Krieges neigen und noch weniger für eine Annäherung an den Westen offen sind.
Und diejenigen, die diese Möglichkeit einbeziehen, befassen sich kaum mit ihr und betrachten die möglichen negativen Folgen manchmal als akzeptables Risiko.
Und das, obwohl fast alle russischen Kritiker Putins heute extremer, ja sogar ultranationalistisch sind, wie uns Prigoschins Meuterei eindringlich vor Augen geführt hat. Der Atlantic Council erwähnt diese Falken nur, um die russischen Eliten aufzufordern, "über den heutigen fehlgeleiteten Imperialismus hinauszugehen", als ob es schlicht eine Frage des Willens wäre.
Einige sehen den Zusammenbruch Russlands weniger als Risiko denn als Chance, entweder um Moskau Zugeständnisse zu entlocken, die über einen Rückzug aus der Ukraine hinausgehen, oder um Russland weiter zu schwächen und einzudämmen.
Man geht davon aus, dass jede Instabilität dem Westen zum Vorteil gereichen wird, sei es durch die Schaffung einer liberalen Demokratie in Belarus oder durch die Schwächung der chinesischen Regierung, die, so die Annahme, den Ereignissen einfach tatenlos zusehen würde.
Am auffälligsten ist vielleicht, dass nicht einmal erwähnt wird, wie der Westen versuchen könnte, die seit Langem schwelenden Missstände zu beseitigen, die zur gegenwärtigen russischen Aggression geführt haben. Man betont, dass dieser Weg nicht beschritten werden sollten.
Einige sprechen sich dafür aus, die russischen Bedenken gegen die Nato-Erweiterung weiterhin zu ignorieren. Es wird der Eindruck erweckt, dass diese Bedenken nur von Putin geäußert werden, obwohl CIA-Direktor William Burns ausdrücklich erklärt hat, dass die Nato-Erweiterung in Russland auf breite Ablehnung stößt. Auch haben Gorbatschow und andere russische Liberale viele von Putins Kritiken an der westlichen Außenpolitik aufgegriffen.
Man kann sich zu Recht fragen, ob die USA und Europa in ihrer Außenpolitik die Fehler im Irak wiederholen wollen, als sie aufgrund allzu rosiger Vorhersagen über die Folgen eines Regimewechsels von den tatsächlichen Auswirkungen nach Husseins Sturz überrascht wurden.
Dazu gehörten ein Bürgerkrieg und ein langanhaltender ethnischer Konflikt, die Wiederbelebung von korrupter, autoritärer Herrschaft, die Stärkung des regionalen Einflusses von US-Gegnerschaft sowie Gewalt und Instabilität, die sich innerhalb und außerhalb der Grenzen des Landes ausbreiteten, was ein unbefristetes militärisches Engagement erforderte, das Ansehen der USA in der Welt untergrub und hohe humanitäre und wirtschaftliche Kosten verursachte.
Im Falle Russlands, das um ein Vielfaches größer ist als der Irak, eine zentralere Rolle in der Weltwirtschaft spielt, über das größte Atomwaffenarsenal der Welt verfügt, vor den Toren Europas liegt und sich praktisch über ganz Eurasien erstreckt, wären die Folgen um ein Vielfaches katastrophaler.
Wir können nur hoffen, dass es im Pentagon ernsthaftere Analysen gibt als das, was in westlichen Denkfabriken entsteht.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.