Warum zensiert Facebook den Nord-Stream-Bericht von Hersh?
Der Social-Media-Gigant sagt, dass der Hersh-Artikel über die US-Sprengung der Pipeline falsch ist – und droht Nutzern. Die Gegenthesen mit nachweislich zweifelhaften Behauptungen werden jedoch zugelassen. Ein alarmierendes Signal.
Seit dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine hat sich die US-Politik in Bezug auf den Konflikt auf beunruhigende Weise mit der zunehmenden Einflussnahme der US-Regierung auf Social-Media-Plattformen verzahnt, die heute den digitalen öffentlichen Raum dominieren.
Technologieunternehmen haben das Verbot von Gewalt- und Hassreden selektiv gelockert, um die Kriegsanstrengungen der Ukraine zu unterstützen. Zudem haben sie die Konten von Medien geschlossen, die gegenüber dem Krieg und der US-Politik eine kritische Einstellung einnehmen. Zugleich verbreitet eine Armee von Bots Inhalte zur Unterstützung der Ukraine und ihrer Nato-Partner.
Und jetzt zensiert und bestraft Facebook aktiv diejenigen, die die Berichterstattung von Seymour Hersh über die angebliche Rolle der USA bei dem Angriff auf die Nord-Stream-Pipelines teilen.
Seit Donnerstag wird jeder, der den Substack-Post von Hersh vom 8. Februar teilt, in dem er erstmals über anonyme Anschuldigung berichtete, umgehend darüber informiert, dass "zusätzliche Berichte" der norwegischen Faktencheck-Website Faktisk vorliegen. Zudem wird davor gewarnt, dass "Seiten und Websites, die wiederholt falsche Nachrichten veröffentlichen oder teilen, in ihrer Reichweite eingeschränkt bzw. auf andere Weise restriktiv behandelt werden".
Wenn Sie sich entscheiden, den Artikel trotzdem zu teilen, wird er zwar gepostet, aber nur in Unschärfe präsentiert und von der Social-Media-Plattform als "falsche Information" gekennzeichnet. (Inzwischen wurde er wieder sichtbar gemacht und als "teilweise falsche Information" gekennzeichnet). Auf dieses Phänomen hat zuerst Michael Shellenberger hingewiesen. Der Vorgang wurde seitdem von anderen, darunter auch von mir, beobachtet.
Facebook bezeichnete den Hersh-Beitrag nicht nur als falsch, sondern schickte mir etwa zehn Stunden später zudem eine Benachrichtigung, in der man mich über den von Facebook hinzugefügten Hinweis informierte. Man wies zugleich darauf hin, dass ich etwas geteilt habe, das "Informationen enthält, die laut unabhängigen Faktenprüfern teilweise falsch sind".
Facebook warnt dabei, dass "Beiträge von Personen, die wiederholt falsche Informationen teilen, in den News Feeds nach unten verschoben werden könnten", und deutet an, dass ich, wenn ich weitere Berichte teile, die von Faktenprüfern infrage gestellt wurden, bestraft werde, indem die Reichweite meines Kontos gedrosselt wird.
Der fragliche Faktencheck von Faktisk – norwegisch für "tatsächlich" – stützt sich jedoch in hohem Maße auf Informationen aus offenen Quellen, deren Zuverlässigkeit in letzter Zeit selbst infrage gestellt wurde. Hersh hat zudem auf die Kritik reagiert, dass seine Berichterstattung nicht mit öffentlichen Daten über Schiffsbewegungen übereinstimmt, indem er argumentiert, dass solche Daten manipuliert werden können.
In der Tat hat die New York Times in einem Artikel, in dem sie ihre eigene, zu Hershs Theorie alternative Theorie aufstellte, selbst angemerkt, dass die Pipelines weder von kommerziellen noch von staatlichen Beobachtungsstationen genau überwacht wurden und dass es etwa 45 "Geisterschiffe" gegeben habe, deren Ortungstransponder nicht eingeschaltet waren.
Bedrohung der Pressefreiheit und Demokratie
Natürlich muss Hershs Geschichte erst noch bestätigt werden, und es ist durchaus möglich, dass sie, selbst wenn sie sich im Großen und Ganzen als wahr erweisen sollte, in bestimmten Details falsch ist.
Aber auch wenn der Wahrheitsgehalt der Geschichte alles andere als sicher ist, kann man sie kaum für eindeutig "falsch" erklären – bis hin zu der Drohung, die Konten derjenigen zu drosseln, die sie verbreiten –, angesichts der eingestandenen Fehlerhaftigkeiten von offenen Quellen und in Hinsicht auf Indizien, die die zentrale Behauptung von Hershs hochrangiger anonymer Quelle stützen, dass der Angriff eine US-Operation war.
Westliche Beamte haben der Presse nun mitgeteilt, dass sie wenig Interesse daran haben, die Wahrheit herauszufinden, weil sie befürchten, dass es sich um eine befreundete Regierung handeln könnte.
Es gibt auch einen großen Unterschied, wie Facebook Theorien behandelt, die mindestens genauso zweifelhaft sind, jedoch über die etablierten Nachrichtenkanäle statt über Substack verbreitet werden.
Die alternative Ansicht der New York Times, wonach eine "pro-ukrainische Gruppe", die mit keiner Regierung in Verbindung steht, hinter dem Anschlag steckt, kann ohne Probleme auf Facebook gepostet werden, ebenso wie der Bericht des deutschen Wochenmagazins Die Zeit, wonach diese pro-ukrainische Gruppe aus sechs Personen bestand, die eine gemietete Jacht benutzten.
Beide Berichte wurden jedoch seit ihrer Veröffentlichung infrage gestellt. Schwedische Ermittler haben bekräftigt, dass sie einen staatlichen Akteur für den wahrscheinlichsten Täter halten, und Beamte der Strafverfolgungsbehörden sagten der Washington Post, sie seien skeptisch, was den Wahrheitsgehalt des deutschen Berichts angeht, und bezweifeln sowohl die Behauptung, dass eine Jacht benutzt wurde, als auch die Behauptung, dass eine sechsköpfige Crew die Operation hätte durchführen können, einschließlich der Verlegung des Sprengstoffs von Hand.
Die Theorie der Times war von Anfang an zweifelhaft, da die US-Beamten, die sie verbreiteten, sie mit Einschränkungen versahen und betonten, dass es "keine klaren Schlussfolgerungen" gebe, während sie sich weigerten, die Beweise zu nennen, auf die sie sich stützten.
Mainstream-Storys, in denen behauptet wird, Russland habe seine eigene Pipeline zerstört, werden von der Facebook-Plattform ebenfalls nicht zurückgewiesen. Dazu gehören der Bloomberg-Artikel über einen deutschen Beamten, der Moskau die Schuld gibt, ein Insider-Artikel, der "Russland-Experten" zitiert, die behaupten, der Angriff sei ein "Warnschuss" des russischen Präsidenten Wladimir Putin an den Westen gewesen, und ein Telegraph-Artikel, der zu erklären vorgibt, "warum Putin Nord Stream 2 in die Luft jagen will und welche Vorteile ihm das verschafft", während behauptet wird, die Pläne entstammten "direkt [seiner] Strategie von Panik, Eskalation und Irreführung".
Die Unterstellungen kursieren, obwohl die Anschuldigungen mit der inzwischen offiziellen Darstellung einer pro-ukrainischen, nicht staatlichen Gruppe kollidieren und selbst westliche Beamte inzwischen offen die Schuld Russlands am Angriff auf seine eigene Pipeline anzweifeln, deren Reparatur nach einer Schätzung eine halbe Milliarde Dollar kosten könnte.
Der Versuch, die Verbreitung von Hershs Geschichte auf Facebook zu behindern, ist ein kleiner Vorgeschmack auf die alarmierenden Folgen, die entstehen, wenn sich die Zensur der Tech-Branche mit staatlichem Druck verbindet. Es zeigt, wie leicht eine unabhängige Berichterstattung abgewürgt werden kann, während gleichzeitig offizielle Fehlinformationen weiter verbreitet werden.
Die Unterdrückung einer offenen öffentlichen Debatte über ein Thema von so großer Bedeutung und Dringlichkeit ist nicht nur eine Bedrohung für die Pressefreiheit, sondern auch für die US-amerikanische Demokratie im Allgemeinen.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.