Was Russlands im März 2022 in Istanbul vorgeschlagen hat
Moskau wohl für Verhandlungen offen. Doch die liefen auf Gebietsverluste für Kiew hinaus. Doch was ist die Alternative? Ein Plädoyer (Teil 2 und Schluss)
Im ersten Teil dieses Artikels schreibt Jeffrey Sachs über die verschiedenen Versuche, den Ukraine-Krieg zu beenden. Nach Ansicht dieses Autors hat Russland verschiedene Vorschläge unterbreitet. Sachs ist bekannter Kritiker der US-Politik in dieser Frage, seine Thesen werden kontrovers diskutiert.
Lesen Sie hier Teil 1:
Ukraine-Krieg: Warum wollen die USA keinen Verhandlungsfrieden?
Sachs schreibt, Russland habe zum fünften Mal seit 2008 vorgeschlagen, mit den USA über Sicherheitsvereinbarungen zu verhandeln. Die Nato, angeführt von den USA, habe ihr Bündnis stetig nach Osten ausgedehnt, was zur aktuellen Krise in der Ukraine beigetragen habe. Nun der zweite Teil seiner Analyse.
Das vierte Verhandlungsangebot Putins kam im März 2022, der dazu führte, dass Russland und die Ukraine nur wenige Wochen nach Beginn der russischen Militäroperation, die am 24. Februar 2022 begann, beinahe ein Friedensabkommen geschlossen hätten.
Russland schlug erneut vor: Neutralität der Ukraine, d. h. keine Nato-Mitgliedschaft und keine Stationierung von US-Raketen an der russischen Grenze.
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Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskyj akzeptierte die Neutralität der Ukraine, und die Ukraine und Russland tauschten unter kompetenter Vermittlung des türkischen Außenministeriums die erarbeiteten Dokumente aus. Dann, Ende März, brach die Ukraine jedoch plötzlich die Verhandlungen ab.
Der britische Premierminister Boris Johnson, der wohl unter dem Einfluss der britischen antirussischen Kriegstreiberei während der Zeit des Krimkrieges (1853-1856) stand, flog nach Kiew, um Selenskyj vor einer Akzeptanz der Neutralität der Ukraine zu warnen und ihn davon zu überzeugen, dass ein Sieg der Ukraine über Russland auf dem Schlachtfeld erreicht werden kann.
Seitdem hat die Ukraine rund 500.000 tote Soldaten verloren und befindet sich auf dem Schlachtfeld auf der Verliererseite.
Russlands fünftes Verhandlungsangebot vom 14. Juni 2024
Jetzt hat Russland ein fünftes Verhandlungsangebot unterbreitet, das Putin selbst in seiner Rede vor Diplomaten im russischen Außenministerium am 14. Juni erläutert hat. Darin legte Putin die von Russland vorgeschlagenen Bedingungen zur Beendigung des Krieges in der Ukraine dar.
"Die Ukraine sollte einen neutralen, blockfreien Status annehmen, atomwaffenfrei sein und sich einer Entmilitarisierung und Entnazifizierung unterziehen", sagte Putin.
Weitgehende Einigung in Istanbul
Über diese Bestimmungen sei man sich während der Istanbuler Verhandlungen im Jahr 2022 weitgehend einig gewesen, einschließlich spezifischer Details zur Entmilitarisierung wie der vereinbarten Anzahl von Panzern und anderer militärischer Ausrüstungen. Es sei damals in allen Punkten einen Konsens erzielt worden.
"Natürlich müssen die Rechte, Freiheiten und Interessen der russischsprachigen Bürger in der Ukraine vollständig geschützt werden", fuhr Putin fort.
Die umstrittenen Gebiete
Weiterhin sollten die neuen territorialen Realitäten, einschließlich des Status der Volksrepubliken Krim, Sewastopol, Donezk und Lugansk und der Regionen Cherson und Saporischschja als Teile der Russischen Föderation, anerkannt werden.
Diese Grundprinzipien müssten in Zukunft durch grundlegende internationale Abkommen festgelegt werden. Das bedeute auch die Aufhebung aller westlichen Sanktionen gegen Russland.
Worum geht es in den anstehenden Verhandlungen?
Lassen Sie mich abschließend noch ein paar grundsätzliche Worte zum Verhandeln an sich und zu diesen Vorschlägen sagen, die auf dem Verhandlungstisch liegen. Als Erstes müssen Russlands Vorschläge mit Vorschlägen der USA und der Ukraine beantwortet werden.
Das Weiße Haus liegt völlig falsch, wenn es sich Verhandlungen verweigert, nur weil es mit den Vorschlägen Russlands nicht einverstanden ist. Es sollte die eigenen Vorschläge unterbreiten und sich an die Arbeit machen, über ein Ende des Krieges zu verhandeln.
Die Kernthemen
Für Russland gibt es drei Kernthemen: die Neutralität der Ukraine (keine Nato-Erweiterung), den Verbleib der Krim in russischer Hand und Grenzänderungen in der Ost- und Südukraine.
Die ersten beiden genannten Kernthemen dürften mit ziemlicher Sicherheit für Russland nicht verhandelbar sein.
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Die angestrebte Nato-Erweiterung um die Ukraine (und Georgien) ist der grundlegende Casus belli und deshalb ist ein Ende dieser Zielsetzung für Russland unverzichtbar. Die Krim ist für Russland ebenfalls von zentraler Bedeutung, da die russische Schwarzmeerflotte dort seit 1783 stationiert ist und für die nationale Sicherheit Russlands von grundlegender Bedeutung ist.
Die Grenzen im Süden und Osten
Das dritte Kernthema, die Grenzen in der Ost- und Südukraine, wird jedoch ein zentraler Punkt von Verhandlungen sein können.
Nachdem die Nato 1999 Serbien bombardiert hatte, um das Kosovo von Jugoslawien abzuspalten, und nachdem die USA die sudanesische Regierung unter Druck gesetzt hatten, den Südsudan aufzugeben, sollten die USA bei den anstehenden Verhandlungen nicht so tun, als ob Grenzen immer unantastbar seien.
Vielmehr müssen die Grenzen der Ukraine als Ergebnis des 10-jährigen Krieges dort, der Situation auf dem Schlachtfeld, der Entscheidungen der lokalen Bevölkerung und der am Verhandlungstisch getroffenen Kompromisse neu gezogen werden.
Verweigerung von Verhandlungen bis zum nuklearen Armageddon?
Präsident Biden sollte auch akzeptieren, dass Verhandlungen kein Zeichen von Schwäche sind. Wie Kennedy es ausdrückte: "Verhandle niemals aus Angst, aber habe niemals Angst zu verhandeln".
Ronald Reagan umschrieb seine eigene Verhandlungsstrategie mit einem russischen Sprichwort: "Vertraue, aber überprüfe".
Die neokonservative Herangehensweise an Russland, die von Anfang an wahnhaft und anmaßend gewesen ist, liegt jetzt in Trümmern.
Die Trugschlüsse
Die Nato wird sich niemals auf die Ukraine und Georgien ausdehnen können.
Russlands Präsident wird nicht durch eine verdeckte CIA-Operation gestürzt werden können.
Die Ukraine hat auf dem Schlachtfeld oft 1.000 oder mehr Tote und Verwundete an einem einzigen Tag zu betrauern. Und der gescheiterte neokonservative Spielplan bringt uns dem nuklearen Armageddon immer näher.
Dennoch weigert sich Biden immer noch, zu verhandeln. Nach Putins jüngster Rede lehnten die USA, die Nato und die Ukraine Verhandlungen erneut entschieden ab.
Russland besiegen?
Biden und sein Team haben die neokonservative Fantasie, Russland zu besiegen und die Nato auf die Ukraine auszudehnen, immer noch nicht aufgegeben.
Das ukrainische Volk wurde immer wieder von Selenskyj, Biden und anderen Staats- und Regierungschefs der Nato-Länder belogen, die ihm fälschlicherweise und wiederholt gesagt haben, dass die Ukraine auf dem Schlachtfeld siegen könne und dass es keine Verhandlungsmöglichkeiten gebe.
Die Ukraine steht jetzt unter Kriegsrecht und die ukrainische Öffentlichkeit dort hat kein Mitspracherecht über das Gemetzel, dem sie weiter ausgesetzt ist.
Um des Überlebens der Ukraine willen und um einen Atomkrieg zu verhindern, hat der Präsident der Vereinigten Staaten heute nur eine vorrangige Verpflichtung: zu verhandeln.
Der vorliegende Artikel von Jeffrey D. Sachs mit dem Titel "Why Won't the US Help Negotiate a Peaceful End to the War in Ukraine? For goodness' sake, negotiate!" (deutsch: "Warum führen die USA keine Verhandlungen über ein friedliches Ende des Krieges in der Ukraine? Um Himmels willen, verhandelt!") erschien am 19. Juni 2024 auf der US-Website Common Dreams. Dieser Text wurde mit Erlaubnis des Autors von Klaus-Dieter Kolenda ins Deutsche übertragen und mit einigen Zwischenüberschriften versehen.
Weitere Texte und Informationen zu Jeffrey Sachs finden Sie auf seiner Autorenseite bei Telepolis.
Übersetzer: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de