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Was bei der Debatte über die Nord-Stream-Lecks falsch läuft

Themen des Tages: Schwierige Suche nach Verantwortlichen der Havarie. Warum ein Sieg von Lula in Brasilien für Berlin peinlich wäre. Und warum Sie die Ägäis gerade eher meiden sollten.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. Nach dem massiven Leck bei den Nord-Stream-Pipelines muss nur noch Russlands Verantwortung belegt werden. Oder?

2. Warum sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Brasilien bald schwierig gestalten könnte.

3. Telepolis heute: Spannungen in der Ägäis, Wahlen in Lettland, Energie- und Industriekrise in Ostdeutschland.

Doch der Reihe nach.

Russland und die Nord-Stream-Lecks

Erst strömte das Gas aus den offenbar sabotierten Nord-Stream-Pipelines, dann wieder nicht, nun anscheinend doch wieder. So unstet das Gasleck ist, so klar schien die Schuldfrage von Beginn an geklärt. Mit "Operation Seebeben [1]" titelte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, und flankierte online: "Was für Russland als Täter spricht – und was dagegen [2]."

Szenenwechsel. Sie sind auf einer Party. In der Nachbarschaft gibt es Unruhe wegen irgendwelcher Straftaten. Am Tisch sitzt – warum auch immer – auch der unbeliebte Herr Müller. Nun steht ein Nachbar auf und setzt mit den Worten an: "Was für Herrn Müller als Täter spricht – und was dagegen." Das würde sicher Ärger geben – sollte aber, moderaten Alkoholkonsum vorausgesetzt, so nicht stattfinden, wenn ein gesundes Maß an sozialer Kontrolle greift.

Eine solche (Selbst-)Regulierung scheint in der Debatte über die Pipeline-Lecks zu fehlen. Denn nüchtern betrachtet hätten mindestens drei Akteure Interesse an der Sabotage:

LNG-Terminals und -Tanker (0 Bilder) [4]

[5]

Die Liste könnte erweitert werden um Polen, die Nato, russische Hardliner, ukrainische Nationalisten.

Notwendig gewesen wäre also von Beginn eine sachliche Debatte, die sich auf rein technische Fragen beschränkt: Wie konnte die mutmaßliche Sprengung stattgefunden haben? Wer verfügt über die Mittel, eine solche Operation durchzuführen?

Die mediale Debatte ist aber kaum so verlaufen, sondern war von Beginn an auf Russland fokussiert. Und noch einmal: Das hat durchaus Berechtigung, weil Moskau unter den Hauptverdächtigen ist. Es lässt aber einiges außen vor.

Bevor Russland am 24. Februar in die Ukraine einmarschierte, sagte US-Präsident Joe Biden am 7. Februar, die USA würden der Nord-Stream-2-Pipeline "ein Ende bereiten" [6]. Auszug aus der Pressekonferenz:

Joe Biden: Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert (...) dann wird es Nord Stream 2 nicht mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.
Aber wie wollen Sie das genau machen, da (...) das Projekt unter deutscher Kontrolle ist?
Joe Biden: "Ich verspreche Ihnen, wir werden es schaffen."

Schon Ende Januar hatte die stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland erklärt: "Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, wird Nord Stream 2 auf die eine oder andere Weise nicht vorankommen [7]."

Und selbst in einer Analyse des Redaktionsnetzwerks Deutschland hieß es, Insider seien sind einig, dass die USA das Projekt "bei Achtung von Recht und Gesetz gar nicht" aufhalten könnten [8]. Der entscheidende juristische Hebel liege beim Energierecht der EU – und da blieben die USA außen vor. Ergo: "Entweder müsste die Pipeline mit Gewalt zerstört werden oder der politische Druck auf Deutschland müsste so stark sein, dass die Bundesregierung die Pipeline stilllegt."

Das muss alles nichts heißen. Es sollte in der Debatte aber Berücksichtigung finden.

Artikel zum Thema:

Bernd Müller: Leck in Nord-Stream-Pipelines: Wer sprengte die Gasleitungen? [9]
Harald Neuber: Gaskrieg eskaliert, Nato schaltet sich ein [10]
Bernd Müller: Nord-Stream-Pipelines: Es entweicht kein Gas mehr [11]

Brasilien: Warum die Rückkehr von Lula für Berlin peinlich wäre

In Brasilien hat Luiz Inácio Lula da Silva die erste Runde der Präsidentenwahl knapp für sich entscheiden können. Der linke Ex-Staatschef (2003-2011) kam auf 47,97 Prozent. Der amtierende ultrarechte Präsident Jair Bolsonaro konnte 43,60 Prozent der Stimmen auf sich vereinen – was an sich schon krass ist.

Dennoch ist es eine Klatsche für den umstrittenen Bolsonaro. Aber Lula kann nicht triumphieren: Er hatte darauf gebaut, die 50-Prozent-Marke zu knacken und nach der ersten Runde schon wieder in den Präsidentenpalast einzuziehen.

Bis zur Stichwahl droht der südamerikanischen Regionalmacht nun eine Schlammschlacht. Das Bolsonaro-Lager ist dafür berüchtigt, über soziale Netzwerke und Messengerdienste Fake-News zu verbreiten, die bei vielen Wählern verfangen.

Dennoch erscheint gut ein Jahrzehnt nach seinem Abtritt die Rückkehr Lulas an die Regierung möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich. Dabei hatte die brasilianische Rechte alles versucht, das zu verhindern. Ein international massiv kritisierter Prozess brachte den ehemaligen Präsidenten mehrere Jahre hinter Gitter. Dabei war die Beweisführung schwammig, der Prozess offensichtlich politisch motiviert.

Die damalige Bundesregierung hatte den politischen Prozess gegen Lula und damit auch seine politische Inhaftierung trotz massiver Kritik von Beginn aber an stets verteidigt. "Nach Einschätzung der Bundesregierung gibt es keine Anhaltspunkte, das Verfahren gegen den ehemaligen brasilianischen Präsidenten Lula da Silva als politisch motiviert oder rechtsstaatswidrig anzusehen", antwortete sie auf eine parlamentarische Anfrage [12]. Das war entweder unintelligent oder mangelndem Mut geschuldet.

Nun steht Lula vor der Rückkehr an die Macht. Irgendwie blöd für die Referate 330-332, die im Auswärtigen Amt für Lateinamerika und die Karibik verantwortlich sind. Denn hinzu kommt: Zugleich wurde die venezolanische Regierung von Präsident Nicolás Maduro, die die Bundesregierung durch die Anerkennung eines selbsternannten und also demokratisch nicht legitimierten Gegenpräsidenten zu stürzen trachtete, von Washington wieder als (energiepolitischer) Partner rehabilitert.

Der US-Regierung, die in Südamerika politisch und wirtschaftlich von jeher einen großen Einfluss hat, verzeiht man dort solche Volten notgedrungen. Kanzler Scholz wird den Subkontinent bei seinem Erdöl- und Erdgas-Betteltouren in großen Teilen aber aussparen können. Oder er wird für die Fehler der deutschen Diplomatie einen kräftigen Aufschlag bezahlen müssen.

Artikel zum Thema:

Harald Neuber: Brasilien: Lula da Silva war offenbar nach Justizmanipulation inhaftiert worden [13]
Harald Neuber: Bundestagsgutachten: Gegenpräsident in Venezuela ohne Legitimation [14]
Harald Neuber: Kolumbien: Warum Olaf Scholz nun wohl auf "Blutkohle" verzichten muss [15]

Kurz vor dem Knall: Grenzstreit in der Ägäis

Die Zeichen zwischen der Türkei und Griechenland stehen auf Sturm. Warum, das beschreibt Telepolis-Korrespondent Wassilis Aswestopoulos heute:

Die Türkei droht ihrem Nato-Partner Griechenland bereits seit Jahren mit dem Casus Belli, sollten die Hellenen in der Ägäis – wie international üblich – die Zwölf-Meilen-Zone rund um ihre Küsten zum Hoheitsgebiet erklären. In den vergangenen Monaten sind weitere Forderungen der Türkei dazu gekommen. So zweifelt die türkische Regierung offen an den Hoheitsrechten der Griechen über die Ägäisinseln. Sollten diese nicht demilitarisiert werden, droht die Türkei mit einer Invasion.

Im Zeichen des Krieges: Wahlen in Lettland

Lettland wird, wie Telepolis-Autor Jens Mattern heute schreibt, weiter von einer Koalition unter Amtsinhaber Krisjanis Karins regiert werden, während russlandnahe Kräfte abgestraft wurden. Bei den Parlamentswahlen am Samstag erreichte Karins konservativ-liberale Partei "Neue Einigkeit" nach abschließender Auszählung mit knapp 19 Prozent die meisten Stimmen:

Karins‘ Mitte-Rechts-Regierung hatte nach einer Reihe von Geldwäscheskandalen und Bankenpleiten darum ringen müssen, das Vertrauen in Staat und Demokratie wieder herzustellen. Angesichts der russischen Aggression in der Ukraine verschärfte sich der Umgang gegenüber der russischsprachigen Minderheit, die in dem Land mit knapp zwei Millionen Menschen mehr als ein Viertel der Bevölkerung ausmacht.

Realitätsschock in Ostdeutschland

Gerade erst wurde die Deutsche Einheit vor 32 Jahren gefeiert, da kommt für viele Ostdeutsche der Realitätsschock. Telepolis-Autor Bernd Müller schreibt heute:

Die chemische Industrie in Ostdeutschland ist in Bedrängnis, steigende Gaspreise und der freiwillige Verzicht auf russisches Erdöl setzen ihr zu. Im Chemiepark Leuna haben die Betriebe ihre Produktion um die Hälfte gekürzt. Und in Schwedt bangen die Menschen immer noch um ihre Zukunft, da niemand weiß, wie die PCK-Raffinerie ab Januar ausreichend mit Erdöl versorgt werden soll.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2022-40.html
[2] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/nord-stream-anschlag-operation-seebeben-a-2525d727-a892-4781-89b7-34cd5d1ecae3
[3] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2022/02/22/remarks-by-president-biden-announcing-response-to-russian-actions-in-ukraine/
[4] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_6528323.html?back=7282983;back=7282983
[5] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_6528323.html?back=7282983;back=7282983
[6] https://twitter.com/ABC/status/1490792461979078662
[7] https://twitter.com/statedept/status/1486818088016355336
[8] https://www.rnd.de/politik/nord-stream-2-bundesregierung-stoppt-zertifizierung-wer-bei-einem-pipeline-aus-geld-verliert-5NOI52UIMREJNJTW3DV3I7ZDHE.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/Leck-in-Nord-Stream-Pipelines-Wer-sprengte-die-Gasleitungen-7277723.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/Gaskrieg-eskaliert-Nato-schaltet-sich-ein-7277789.html
[11] https://www.heise.de/tp/features/Nord-Stream-Pipelines-Es-entweicht-kein-Gas-mehr-7282363.html
[12] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/009/1900948.pdf
[13] https://www.heise.de/tp/features/Brasilien-Lula-da-Silva-war-offenbar-nach-Justizmanipulation-inhaftiert-worden-4444312.html
[14] https://www.heise.de/tp/features/Bundestagsgutachten-Gegenpraesident-in-Venezuela-ohne-Legitimation-5061010.html
[15] https://www.heise.de/tp/features/Kolumbien-Warum-Olaf-Scholz-nun-wohl-auf-Blutkohle-verzichten-muss-7146883.html?seite=all