Was einen Angriff der Türkei auf Griechenland wahrscheinlich macht – und was dagegen spricht

Wassilis Aswestopoulos

Bild: @TurkiyeDenizKuvvetleri

Erdoğan droht offen mit einem Angriff auf den Nachbarstaat. Vieles erinnert an die Tage und Wochen vor dem Ukraine-Krieg

Die Nachrichtensendungen und Talkshows in Griechenland und der Türkei werden von Kriegsrhetorik bestimmt. Das Klima zwischen den beiden Nato-Mitgliedsstaaten erinnert in Tonfall und Drohungen an die Spannungen zwischen Kiew und Moskau – bevor Russland den Nachbarstaat am 24. Februar angriff. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gibt – sehr zur Verärgerung der griechischen Politiker – indes den Türkei-Versteher.

Die Rolle der Nato und der USA im Konflikt zwischen Ankara und Athen zeigen, dass es um den viel beschworenen Zusammenhalt des Bündnisses schlecht bestellt ist. Klar ist: Auf Nato-Beistand können die Griechen keineswegs hoffen.

Die USA tun indes so, als hätten sie mit all dem nichts zu tun. Allein der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis weigert sich, dies anzuerkennen. Denn sein Narrativ, das zum Ausbau der US-amerikanischen Militärpräsenz in Griechenland geführt hat, wurde vom Versprechen getragen, dass die USA und die Nato Griechenland im Fall einer Eskalation beistehen würden.

Mitsotakis propagiert, dass Griechenland sicher sei, weil die Regierung sich an sämtlichen Sanktionen gegen Russland beteilige und weil Griechenland Waffen in die Ukraine schicke. Zudem wurden die diplomatischen Beziehungen zu Russland weitgehend gekappt.

Weil die Türkei eine gegenteilige Politik verfolgen, so Mitsotakis, stünde "Griechenland auf der richtigen Seite der Geschichte". Die neuen US-Militärbasen sowie der Ausbau der bestehenden Stützpunkte des US-Militärs würden – davon zeigt sich Mitsotakis überzeugt – Griechenland vor Angriffen schützen.

Die Realität aber holt den konservativen Regierungschef erneut ein. Denn Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat nicht nur Verständnis für das Veto der Türkei gegen einen Bündnisbeitritt Schwedens und Finnlands gezeigt. Er weigerte sich auch, die aktuellen Aktionen der Türkei als Aggression zu tadeln und rief stattdessen beide Staaten zum Dialog auf.

Nikos Androulakis, der Vorsitzende der sozialdemokratischen Pasok kritisierte, ebenso wie alle anderen Oppositionsparteien:

Leider ist dies nicht das erste Mal, dass Stoltenberg sich entschieden hat, das autoritäre Erdogan-Regime in Schutz zu nehmen, sogar die erpresserische Behandlung Schwedens und Finnlands durch die Türkei. (...) Er kann nicht gleichzeitig als Botschafter Erdoğans und als Nato-Generalsekretär fungieren.

Die Herausforderungen in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer, die Kriegsgefahr für Griechenland, die Infragestellung unserer nationalen Souveränität auf den Inseln der östlichen Ägäis und die neue Doktrin der türkischen Führung sind nicht nur Meinungsverschiedenheiten oder "Zwischenfälle", wie Nato-Generalsekretär Stoltenberg in seinem Interview (mit der staatlichen Nachrichtenagentur Amna) gesagt hat.

Erdoğan hat indes verlangt, dass die unlängst erst in Betrieb genommenen Militärbasen der USA in Griechenland wieder geschlossen werden. Sie stellten eine Gefahr für die Türkei dar.

Der türkische Präsident kann aber nicht erklären, wie dies mit dem Umstand zu vereinbaren ist, dass sein letztes Militärmanöver, Efes 2022, mit Beteiligung von aus dem griechischen Alexandroupolis angereisten US-Marines und mit französischen Streitkräften durchgeführt wurde.

Auch Mitsotakis kann nicht begründen, warum die USA, die er im griechischen Parlament als Sicherheitsgaranten feierte, zusammen mit den türkischen Streitkräften die Invasion von Inseln üben. Dass es bei Efes 2022 tatsächlich um die Eroberung griechischer Inseln ging, versicherte Erdoğan in einer seiner wenig freundlichen Botschaften an Athen.

Was die Franzosen, die Griechenland für mehrere Milliarden Euro Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge verkauft haben, beim Erdoğan-Manöver zu suchen hatten, kann Mitsotakis auch kaum erklären oder gar rechtfertigen.

Im Fall der USA ist ein Interessenkonflikt erkennbar. Der Kongress will am Waffenembargo gegen die Türkei wegen deren Rüstungsgeschäften mit Russland festhalten, während der Präsident Kampfflugzeuge an den Nato-Partner mit der zweitstärksten Armee des Bündnisses liefern möchte.

Ansprüche an Inseln und Forderung der Demilitarisierung

Die Forderungen der Türkei an Griechenland, die auch eine Abgabe von Inseln beinhalten, hat das griechische Außenministerium in einer Aufstellung mit sechzehn Landkarten zusammengefasst.

Vordergründig geht es bei dem Konflikt um die fossilen Energievorkommen in der Ägäis. Eine Rolle spielen aber auch Fischfangrechte.

Erdoğan schickt sich an, das Osmanische Reich wiederzubeleben und die Türkei zu vergrößern. In diesem Fall aber allein den türkischen Präsidenten als Buhmann darzustellen, wie es in der deutschen Presse oft geschieht, wäre kurzsichtig: Die türkischen Ansprüche werden querbeet von weiteren türkischen Parteien unterstützt.

Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu geht sogar weiter als der türkische Präsident, dem er hinsichtlich einer Invasion türkischer Streitkräfte auf griechische Inseln eine zögerliche Taktik vorwirft.

Die Praxis der griechischen Regierung, die Forderungen und Drohungen der Türkei zu "internationalisieren", also in internationalen Gremien oder im Austausch mit den Bündnispartner EU und NATO anzusprechen, erzürnt Erdoğan sichtlich. Er beruft sich auf ein Treffen mit Mitsotakis am 13. März, bei dem der griechische Ministerpräsident Erdoğan zugesagt haben soll, die Probleme beider Staaten bilateral und nicht auf internationaler Bühne zu lösen.

Erdoğan stört sich besonders daran, dass Mitsotakis sich bei seinem jüngsten Besuch in den USA vor dem Kongress mehrfach über das Verhalten der Türkei beschwerte.

Eine weitere Forderung der Türkei betrifft die Demilitarisierung der griechischen Grenzinseln, insbesondere der Dodekanes. Erdoğan beruft sich hierbei auf frühere Verträge, wie es auch, wenn auch im entscheidenden Punkt verkürzt, in einem Bericht der Tagesschau dargestellt wird.

Die Dodekanes, von Griechen bewohnte Ägäis-Inseln, hatte sich Italien beim Zerfall des Osmanischen Reiches unter den Nagel gerissen. Dabei wurde vereinbart, dass Italien auf den Inseln keine Militärbasen installiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Hoheitsrechte der Inseln von Italien, welches als Achsenmacht Griechenland angegriffen hatte, an Athen über.

Griechenland steht nun auf dem Standpunkt, dass die Demilitarisierung nur für Italien galt. Erdoğan wiederum argumentiert, dass Griechenland aufgrund der Einrichtung von Militärbasen die Hoheitsrechte verloren habe. Somit würden die Inseln, wie Rhodos, Kos, Karpathos und Kalymnos nun völkerrechtlich der Türkei gehören. Auch auf Lesbos und Chios erhebt Ankara Ansprüche.

Fernsehen und Presseberichten heizen Kriegsklima auf

Der über Reden und Meinungsäußerungen von Politikern und Militärs beider Länder als Fernduell ausgetragene Konflikt nimmt immer skurrilere Züge an. Wie es in solchen Fällen üblich ist, werden die Fernsehsendungen des jeweils anderen Landes dabei auf die besonders extremen Verbalattacken zusammengeschnitten und dem heimischen Publikum vorgeführt. Das heizt das Klima zusätzlich auf.

Erdoğan indes drohte mit auf Griechisch verfassten Tweets, inklusive Kriegsdrohung: "Wir warnen Griechenland erneut, besonnen zu sein und von Träumen, Rhetorik und Handlungen abzusehen, die es zu Ergebnissen führen könnten, die es bereuen wird – wie es vor einem Jahrhundert geschehen ist."

Erdoğan: Kriegsdrohung auf Twitter. Bild: @RTErdogan

Erdoğan spielt damit auf die sogenannte Kleinasiatische Katastrophe an. Damals war die griechische Staatsführung mit Hilfe der Alliierten des Ersten Weltkriegs von Großmachtideen – der "Megali Idea" – verblendet und meinte, das zerfallende Osmanische Reich im Hauruckverfahren einnehmen zu können.

Ziel war es, das Byzantinische Reich zu restaurieren. Gleichzeitig mit der Invasion des griechischen Heeres kam es zu Aufständen der im Osmanischen Reich lebenden Armenier und Pontos-Griechen.

Die Jungtürken unter Mustafa Kemal Atatürk konnten den totalen Zerfall des Vielvölkerstaats des Osmanischen Reiches verhindern, gründeten die Türkei und holten zum Gegenschlag aus.

Die Affäre endete im Abbruch der Unterstützung Griechenlands durch die Alliierten und einer verheerenden griechischen Niederlage. Armenier und Pontos-Griechen, die beim zwischenzeitlichen Friedensvertrag von Sevres einen gemeinsamen, autonomen Staat zugesprochen bekamen, wurden Opfer ethnischer Säuberungen, die genozidales Ausmaß annahmen.

Zwischen Griechenland und der Türkei fand ein Bevölkerungsaustausch statt. Das geschlagene Griechenland musste ein Drittel seiner Nachkriegsbevölkerung als Flüchtlinge aus der heutigen Türkei aufnehmen.

Dennoch gibt es auch heute noch in Griechenland "Falken". Einer von ihnen ist Konteradmiral a.D. Giannis Engolfopoulos. Im Fernsehen erklärte er, es würde ihn freuen, wenn die Türkei angreife, weil dies in einer massiven Niederlage Ankaras enden werde.

Das Klima hat sich also gefährlich aufgeheizt, beide Seiten stacheln sich immer weiter auf. Keiner der Bündnispartner beider Länder greift ein. Die Kriegsgefahr in der Ägäis steigt von Tag zu Tag.