zurück zum Artikel

Weihnachtszeit, Lesezeit: "Indianerbücher" jenseits von Winnetou

Ausschnitt aus einem Plakat zur DEFA-Verfilmung von "Blauvogel" (1979) Quelle: DEFA-Stiftung

Zwei Sichtweisen in fast vergessenen Jugendromanen zur Geschichte der Native Americans: "Großer Jäger Little Fox" und "Blauvogel – Wahlsohn der Irokesen". (Teil 2 und Schluss)

Im ersten Teil dieses Essays [1] ging es darum, inwiefern Karl May ein Sohn seiner Zeit und ihr doch in manchen Punkten voraus war. Es ging um seine Bücher sowie das auf ein historisches Missverständnis zurückgehende Wort "Indianer" und die veränderte Wahrnehmung dieses Sprachgebrauchs.

Hier wird das Wort im Hinblick auf Bücher aus einer Zeit, in der es hierzulande noch nicht als diskriminierend galt, in Zitaten und Zusammenfassungen verwendet. "Indianerbücher" ist insofern historisch als Genrebezeichnung einzuordnen. Ansonsten verwende ich die Begriffe "Native Americans", "Ureinwohner" oder "Angehörige der First Nations". Aus dem Zusammenhang geht jeweils hervor, dass "Indianer" keine Verallgemeinerung ist.

Little Fox will den Respekt der Weißen

Hanns Radau, "Großer Jäger Little Fox", Trio Jugendtaschenbuch. Aufgenommen in die Auswahlliste zum Deutschen Jugendbuchpreis 1958

Der Ich-Erzähler "Little Fox" ist Waise und wächst bei seinem Großvater, einem ehemals berühmten Jäger auf: "Ich weiß noch, dass manchmal weiße Männer kamen, die meinen Großvater als Führer wollten, denn er kannte alle Flüsse, Berge, Seen und Wälder des Landes wie kein anderer." (S. 7) Nun ist er alt und geht kaum noch auf Pelzjagd.

Das ist ein Grund, warum Großvater und Enkel in einer schlechten Hütte leben und oft hungern. Aber es gibt noch andere Gründe. "Großer Jäger Little Fox" ist Ende der 1950er-Jahre erschienen und spiegelt in Teilen auch die Erwartungshaltung jener Zeit.

Ohne dass Weiße von ihrer Verantwortung für die Kolonisierung freigesprochen werden, gibt es hier Passagen, in denen mehr Eigenverantwortung und Sekundärtugenden von Weißen für Alaska Natives als plausibler Ausweg aus der Armut erscheinen.

Die damals in Deutschland noch nicht als Krankheit anerkannte Alkoholsucht [2] erscheint in diesen Passagen als Haupthindernis für den Aufstieg der Kolonisierten zu bescheidenem Wohlstand.

Auch die Männer meines Stammes lebten früher vom Pelztierfang und vom Fischen. Sie sagten: 'Je mehr weiße Männer ins Land kommen, ums so weniger Tiere gehen in unsere Fallen.' Heute weiß ich, dass der weiße Fallensteller fleißiger ist. Er fängt mehr und macht Dollars genug.

Ich sah die Schlitten mit den Pelzladungen beim Händler und glaube, dass man fleißig und geschickt sein soll und den Tieren folgen muss zu den Stellen, wo sie leben. Heute weiß ich, wie das gemacht wird, und dass das Trappen eine sehr schwere Arbeit ist. Wenn man aber in den schlechten Hütten bei der Stadt lebt und Whisky und Hootch trinkt, wird man keinen Fuchs fangen.


"Großer Jäger Little Fox", S. 7f

Alle Männer und viele Frauen seines Stammes trinken, der Junge trinkt bald mit – die Männer geben ihm Alkohol. Mit 15 ist er zum ersten Mal richtig betrunken. Eine indianische Kranken- und Gemeindeschwester findet ihn im Schneematsch liegen, trägt ihn nach Hause und schimpft mit dem Großvater und dessen Saufkumpanen – Männern und Frauen.

Dass die Weißen erst das "Feuerwasser" ins Land brachten, ist für die Schwester kein Grund, die Trinkerinnen und Trinker der eigenen Community aus der Verantwortung zu nehmen.

Sie schimpft auch mit dem Jungen, schlägt ihn – auch das würde eine Romanfigur, die zweifellos als Vorbild dienen soll, heute eher nicht mehr tun – und führt ihm den Verfall seines Großvaters vor Augen: Die Weißen verachteten ihn, weil er einer von vielen betrunkenen Indianern sei.

"Gleiche Rechte wie die Weißen wollen die Indianer in Alaska haben; aber sie sehen nur das Recht, sich zu betrinken." Der Junge versichert ihr, das nicht mehr tun zu wollen. Die Gemeindeschwester sagt, sie wäre "froh, wenn ein Indianer mehr da wäre, den die Weißen achten".

Einige Wochen später kommt sie mit dem Onkel des Jungen zurück, dem Schwiegersohn des Großvaters, einem Weißen. Der heißt Trapper-Fred, und beschimpft den Großvater; dieser wird wütend und will sich von einem "Sqawman" – einem Weißen, der eine Indianerin geheiratet hat, nichts sagen lassen. Er droht sogar, ihn zu töten – aber Trapper-Fred weist ihn darauf hin, dass er Gewehr, Hunde und Fallen versoffen und seinen Stamm verloren habe.

Offenbar geplant mit der Gemeindeschwester, bietet Trapper-Fred dem Jungen an, mit ihm zu kommen. Er lässt ihn neu einkleiden und ihm die Haare schneiden. Sie steigen in ein Flugzeug nach Fairbanks. Aber dort nimmt Trapper-Fred den Jungen nicht mit in die Wildnis, sondern schickt ihn zu einem Bekannten nach Juneau.

Dort verbringt er drei Jahre, arbeitet und geht zu Schule. Er fischt Lachse, lernt, in einem nach "weißen" Maßstäben ordentlichen Haushalt zu leben und spart mehr als 2.000 Dollar. Aber er ist einsam. Bei der Arbeit beschimpfen ihn Weiße, weil er sich nicht von ihnen zum Trinken verleiten lässt. Er wird sogar angegriffen, ein anderer (Weißer?) hilft ihm.

Die Natives wiederum arbeiten nicht gut, verspotten ihn, weil er gut arbeitet, gute Kleidung trägt und nicht trinkt, einmal verliert er deswegen sogar eine Arbeit.

Er will zu Trapper-Fred und schreibt ihm. Als keine Antwort kommt, macht er sich auf eigene Faust auf die Reise. Zuerst jedoch besucht er seinen Großvater. Der ist inzwischen noch mehr heruntergekommen und gesteht ihm, wie er sich von den Weißen vorführen lässt.

Der Junge bezahlt beim Händler Essen und verabredet, dass dieser seinem Großvater täglich eine Portion gibt, sodass der Alte das Geld nicht für Alkohol ausgeben kann. Außerdem hat er ihm einen warmen Parka mitgebracht und bitten ihn, diesen nicht zu versaufen.

Da gibt ihm der Großvater das letzte, was ihm geblieben ist, was er versteckt hat, um es nicht zu versaufen: Eine Lederkette mit Krallen und Zähnen eines Bären und Glasperlen. Eine Häuptlingskette. Der Enkel soll nach dem Tod des Großvaters ein Häuptling sein.

Danach fliegt der Junge weiter. Auf der Suche nach Trapper-Fred begegnet er einem Weißen. Der hilft ihm mit einem Hund und wichtigen Reiseutensilien aus. Der Erzähler gewinnt dessen Respekt: "Trinkt keinen Whisky, hat ein Konto bei der Bank und ist zu stolz, sich von einem weißen Mann etwas schenken zu lassen – wo kommt denn auf einmal solch ein Indianer her?" Seine Antwort: "Ich bin nicht zu stolz; aber ich dachte, du solltest wissen, dass ich sie bezahlen könnte."

Nach einem beschwerlichen Marsch schafft der Junge es zu Trapper-Fred, der ihn am Schluss des langen Weges noch aufliest – sonst wäre er gestorben. Er will ihn erst nicht aufnehmen, in einer guten Rede überzeugt Little Fox ihn aber von sich und darf bleiben.

Trapper-Fred lässt ihn die Hausarbeit machen, außerdem übt er mit ihm Lesen, schreiben und rechnen – der Trapper war einst Ingenieur gewesen. Und er lehrt ihn das Trapper-Handwerk.

Dazu gehört Respekt vor dem Tier: Der Junge darf anfangs kein Gewehr mitnehmen, weil er ein Tier so treffen könnte, dass es sich tagelang quält. Auch gehen beide täglich die Fallenstrecke ab, damit sich kein Tier unnötig lange quält.

Er stört nicht – "nicht sehr"

Trapper-Fred wollte ihn nur einen Winter behalten, aber Little Fox stellt sich gut an und darf bleiben – er stört Trapper-Fred "nicht, nicht sehr".

Der Junge wird so vom Lernenden zum Helfenden und schafft schließlich, was Trapper-Fred nicht schaffte: Er versorgt ihn, als der verletzt ist und ins Krankenhaus muss, er erlegt den Silbernen Wolf, hinter dem Trapper-Fred seit Jahren her ist. Trapper-Fred muss ein Fuß amputiert werden, er will daraufhin eine Fuchsfarm aufmachen und Little Fox als Partner.

Der aber will lieber in der Wildnis bleiben, Trapper-Fred bastelt sich eine Prothese – schließlich sind sie gleichberechtigte Partner. Halb im Spaß, aber eben auch halb im Ernst wird Little Fox von Trapper-Fred mit "Kleiner Häuptling" angesprochen.

Den Schluss des Buches bildet ein Anhang mit "Wissenswertes über die Heimat von 'Little Fox'", in dem auch das "Schicksal" der Ureinwohner problematisiert wird:

Eskimos und Indianer sitzen auch im Parlament und in der Verwaltung des neuen Bundesstaates. Durch eingeschleppte Krankheiten und Alkoholmissbrauch sind viele Tausende von Indianern und Eskimos zugrunde gegangen. […] Gute Schulen, Ärzte und Spitäler sollen dafür sorgen, dass die Kinder der früheren Herren des Landes sich auch in der modernen Welt körperlich und geistig behaupten können.


"Großer Jäger Little Fox" – Anhang

Ist dies Buch noch lesbar, vielleicht sogar aktuell? Obwohl der Autor das Wort "Indianer" verwendet, zeigt er mit seiner Recherche Respekt gegenüber den unterschiedlichen Stämmen Natives. In den ersten Sätzen stellt sich sein Ich-Erzähler als Sohn eines Häuptlings so vor:

"Ich bin ein Indianer vom Stamm der Natsit aus dem Tal der Koyukuk, und das Totemtier unserer Familie ist der Fuchs."

Der Roman hat mehrere Facetten und lässt sich unter verschiedenen Fragestellungen lesen: Es ist eine Coming-of-Age-Geschichte und schildert einen besonderen Wertewandel, es ist aber auch ein Buch über Kolonialisierung und Alkoholismus.

Wer es als simple Abenteuergeschichte lesen will, muss fast vorsätzlich blind sein. Radau hat Ureinwohner nicht benutzt, um etwas zu erzählen, was mit ihnen nichts zu tun hat. Er respektiert den Ich-Erzähler und seine Kultur, und das macht er von Anfang an klar, als der sich in den ersten Sätzen des Buches nicht als "irgendein" Indianer vorstellt, sondern durchaus historisch korrekt mit Stamm und Wohngebiet.

Auch die matrilineare Kultur wird deutlich, als Little Fox zu Trapper-Fred sagt, dass der zu seinem Stamm gehöre, weil er mit der Schwester seines Vaters verheiratet gewesen sei.

Keine heile Welt

Erstens erzählt Radau zwar sehr lebendig und nachvollziehbar von der Arbeit, von der Jagd, vom Lachsfischen, aber eben auch von der Härte der Arbeit, von Mücken, von Hunden: Er romantisiert nicht. Die Schönheit der Natur schildert er nicht abstrakt, sondern man nimmt sie durch die Augen von Little Fox wahr.

Zweitens nimmt der Alkoholismus eine wichtige Rolle im Buch ein. Das ist in der Tat eine verbreitete Krankheit unter den Natives, mit existentiellen Folgen. Auch Weiße trinken – einen nennt der Junge sogar "Mister Whisky".

Vieles sieht man heute klarer, auch was bedenklich ist an diesem Roman ist. Nicht zuletzt das Männer- und Frauenbild ist - zumindest für Mitteleuropäer - veraltet. Man muss kämpfen wie ein Mann. Immerhin: Frauen regieren zuhause; und die indianische Gemeindeschwester holt den Jungen aus dem Alkoholikerhaushalt heraus.

Die weiße Frau seines ersten Chefs veranlasst, dass er ein Bankkonto eröffnet und spart, und wenn er Kleidung braucht, geht sie mit einkaufen und lehrt ihn klug zu wirtschaften und warnt ihn vor Händlern, die gerne Indianer über den Tisch ziehen.

In einer Begegnung mit hier noch als Eskimos bezeichnet Inuit werden diese als schmutzig dargestellt. Andererseits haben sie es fertiggebracht, einen Vielfraß zu erlegen, dessen Pelz besonders wertvoll ist, weil er beim Atmen keinen Raureif annimmt und darum die beste Einfassung für eine Kapuze ist. Das haben weder Trapper-Fred noch Little Fox geschafft.

Dass aber die einzigen im Buch wirklich vorkommenden Inuit schmutzig sind, ist zumindest unglücklich. Eskimos ist eine Fremdbezeichnung und bedeutet "Rohfleischfresser" – was ich in der 5. oder 6. Klasse lernte, was aber dem Autor vielleicht nicht bewusst war.

Auch die Aussage "Weiße sind fleißiger als Indianer" findet sich in dem Buch – als Differenzierung ist wohl Trapper-Freds Aussage "Nicht alle weißen Männer sind klug, nicht alle Indianer sind dumm" gemeint.

Die Kolonialisierung wird in "Großer Jäger Little Fox" zwar problematisiert – vor allem in einer sehr wichtigen Rede von Trapper-Fred: "Dieses Land ist doch einmal euer Land gewesen." (S. 66) Und mit Blick auf den suchtkranken Großvater sagt er: "Wäre der weiße Mann nicht ins Land gekommen, wäre er kein Säufer geworden."

Aber, und das ist ein großes Aber: Der Autor schreibt aus der Sicht eines Angehörigen der dominierenden Kultur. Dass Weiße fleißiger sind, wird nicht bestritten, überhaupt wird der Wert von Fleiß als Tugend nicht bestritten.

Und der Satz: "Dieses Land ist doch einmal euer Land gewesen" enthält das mehr als verräterische Wort "gewesen". Dieses Wort signalisiert Einverständnis mit dem Wechsel der Herrscher. Die "moderne Welt" ist mit den Weißen in Alaska angekommen, die Umstände bedauert der Autor, aber die Ureinwohner müssen sich seiner Ansicht nach nun eben anpassen.

Dennoch gibt es Gründe, warum dieses Buch heute noch lesenswert ist: Erstens, um in der Entdeckung von und der Auseinandersetzung mit dem, was bedenklich ist, Kritikfähigkeit und historisches Denken zu lernen.

Zweitens müssen sich nach der Sichtweise des Autors die Natives zwar der modernen Welt anpassen. Aber dennoch ist der Autor auf der Seite der Trapper. Die Protagonisten der Geschichte sind ein Ureinwohner und ein Weißer, und sie leben nicht in der modernen Welt, sondern sie leben als Trapper in der Wildnis, und dies ist das Ideal von Little Fox.

Drittens und hauptsächlich aber ist das Buch lesenswert wegen der Geschichte, die es erzählt. In "Little Fox" vollzieht sich nämlich ein fundamentaler Wertewandel. Sein anfängliches erstes Ziel war, von den Weißen respektiert werden. Sie waren die moralische Instanz. Zwar ist auch die indianische Gemeindeschwester eine moralische Instanz.

Aber Little Fox identifiziert sich mit den Männern, beschrieben wird eine Männerwelt aus der Sicht eines Mannes. Mit der Zeit aber werden andere Werte immer wichtiger: Erstens die Freiheit und damit die Möglichkeit, sein eigener Häuptling zu sein.

Zweitens, Verantwortung zu tragen: Man "erwischt" kein schlechtes Jagdrevier, man sucht es sich aus. Auch wer sein eigener Herr ist, muss arbeiten. Aber es gibt auch Ferien, man hat ein Recht darauf. Dieser Wertewandel ist zutiefst emanzipatorisch.

Blauvogel – der weiße Adoptivsohn will nicht zu seiner Familie zurück

A.(nna) Jürgen, Blauvogel. Wahlsohn der Irokesen. Otto Maier Verlag Ravensburg, 1966

Anna Jürgen erzählt genau die entgegengesetzte Geschichte zum Roman von Hanns Radau: Little Fox wächst als Ureinwohner bei einem Weißen auf. Blauvogel dagegen wächst als Weißer bei Ureinwohnern auf.

Der Prolog bei "Blauvogel" entspricht dem Epilog bei "Little Fox"

Radau beschließt sein Buch mit einem Epilog über die Kolonialisierung. Jürgen beginnt ihr Buch mit einem Prolog darüber:

"Der Wald war von Anfang an da. Er entstand mit der Erde, lange vor den Menschen." Dann erschafft der Große Geist Bäche und Flüsse. Ein paar Menschen, die dort leben, stören sein Dasein nicht. "Doch eines Tages erschienen hellhäutige Menschen und schnitten mit eisernen Äxten Löcher in die grüne Decke des Waldes", die sich ausbreiten, dann läuft erst der Wald davon, dann die Indianer, Tiere, schließlich die Bäume.

"Aber lange, ehe auch sie fortwanderten, beginnt unsere Geschichte: im ersten Jahr des Krieges um Nordamerika, im Jahre 1755."

Die Autorin verortet ihre Geschichte in einem Schöpfungs- und Zerstörungsmythos. Auf diesen zeitlosen Mythos folgt sofort eine historisch verortete Szene: Ihre Geschichte spielt in Nordamerika, als der Krieg zwischen Engländern, Franzosen und Ureinwohnern beginnt. Georg ist neun Jahre alt und Sohn einer Grenzerfamilie.

Indianer rauben ihn und nehmen ihn anstelle eines verstorbenen Sohnes an, nennen ihn "Blauvogel" und erziehen ihn ihrem Wertesystem entsprechend. Nach vielen Jahren wird er befreit und zu seiner Ursprungsfamilie zurückgebracht – aber er empfindet es nicht als Befreiung, sondern reißt aus und kehrt zu seiner indianischen Familie zurück.

Diese Geschichte hat einen wahren historischen Hintergrund: Zahlreiche puritanische Siedler im 18. Jahrhundert hatten sich Ureinwohnern angeschlossen und wollten nicht in ihre Siedlungen zurückkehren, selbst wenn sie verschleppt worden waren. Dieser Teil der Einwanderungsgeschichte ist zahlreichen Amerikanern nicht bekannt. Mehr dazu findet sich in Sebastian Jungers Buch "Tribe: Das verlorene Wissen um Gemeinschaft und Menschlichkeit" (Blessing-Verlag, 2017)

Auch in "Blauvogel" genannte Personen wie General Braddock und Colonel Bouquet sind historisch, und der Krieg, der den Hintergrund für die Geschichte bildet, hat stattgefunden und war grausam [3].

Eine Herausforderung für kindliche Leser

Das Buch ist für Kinder ab elf Jahren empfohlen, und es mutet den kindlichen Lesern einiges zu. Es erzählt vom harten Leben der Grenzer, sie müssen Überfälle fürchten und arbeiten, schon der Neunjährige erlebt beides; er muss mit seinem älteren Bruder das Elternhaus zum Arbeiten verlassen, auf dieser Reise wird er von Ureinwohnern geraubt und in einem Hospital der Franzosen untergebracht.

Dort bekommt er mit, wie Ureinwohner und Franzosen gemeinsam die englische Armee vernichten, er sieht Skalps, er hört die Schreie der gefangenen Engländer, die verbrannt werden und merkt, dass die Franzosen nichts dagegen tun.

Er hat Angst, dass die Indianer ihn auch verbrennen wollen und bittet einen der Franzosen, im Hospital bleiben zu dürfen, aber der sagt, dass man seinetwegen nicht mit den verbündeten Stämmen Streit anfangen werde. Dann nehmen die Ureinwohner ihn mit.

Man plumpst nicht in eine heile Welt von "edlen Wilden"

Man erlebt mit dem Neunjährigen die fremde Kultur, die fremde Kleidung, die erste Schnitte Maisbrot mit Bärenschmalz, wie schwer ist es, Brei aus Maisgrieß und Fleisch zu essen, weil es keinen kleinen Löffel für ihn gibt, und bewundert mit ihm die handwerklichen Fertigkeiten der Ureinwohner.

Deren Mehrfamilienhaus besteht aus großen Rindenplatten, die man an einem Gerippe aus Stangen und Pfosten festgebunden hat. "Nirgendwo schimmerte ein Riss, anders als in der elterlichen Blockhütte, die trotz allen Verstopfens mit Moos niemals dicht wurde."

Der Junge kommt zur "Schildkrötenfamilie" aus der Nation der Irokesen, "wie die Weißen die Söhne des Langen Hauses nennen". In diesem Buch aus dem Jahr 1966 zeigt die Autorin schon eine Sensibilität bezüglich der Vereinnahmung durch Namensgebung seitens der Weißen gegenüber den Native Americans.

Der Junge bekommt seinerseits einen neuen Namen – Blauvogel – der sich erst im Laufe des Buches durchsetzt, anfangs nennt ihn die Autorin noch Georg, passend zu seinem eigenen Fremdheitsgefühl. Das Einfinden in die neue Welt wird nicht idealisiert, man plumpst nicht in eine Welt von lauter "edlen Wilden".

Stattdessen beschreibt die Autorin, wie der Junge Heimweh hat und seine Spielkameraden ihn anfangs auslachen, wie schwer es ihm fällt, die neue Sprache zu lernen, und wie selbst seine Adoptivschwester ihn oft genug Dummkopf nennt.

Die anderen Kinder sind bereits im Bogenschießen geschuld, können besser schwimmen, und besonders ein Junge piesackt ihn ständig. Es dauert Jahre, bis Georg allmählich ein Indianer namens Blauvogel wird.

Erst gewinnt er seinen Cousin Rehkalb als Freund - einer der wenigen Recherchefehler im Buch, in Amerika gibt es keine Rehe. Dem Jungen werden seine Fluchtgedanken gleichgültiger, er verändert sich, sein alter Name wird ihm fremd und der Ruf "Blauvogel" immer vertrauter.

Als er sich im Schnee verläuft, erst einen Tag später nach Hause findet und eine Lungenentzündung bekommt, ist er monatelang krank – so wird sein Verhältnis zu den Adoptiveltern, die sich um ihn kümmern, enger. Später weiß er, dass dieser Monate ihn zum Indianer gemacht haben.

Die "Indianerkriege" – und ihre Gründe

Die Irokesen ziehen jeden Herbst an einen Salzbach und sieden sich einen Vorrat. Der Vater ist gegen die nächste Tour, denn:

Die Langen Messer, die an der Grenze wohnen, schießen auf alles, was […] Mokassins trägt. Wir Irokesen haben uns bis jetzt still verhalten und das Kriegsbeil nicht aufgenommen, nicht einmal nach Braddocks Niederlage. Nur die Lenape kämpfen auf Seiten der Franzosen gegen die Engländer. Aber das kümmert die Engländer nicht, sie halten uns alle für Lenape.


Blauvogel. Wahlsohn der Irokesen, S. 87f

Der Junge weiß, dass die Lenape "die grimmigsten Feinde der Grenzer" sind und fragt den Vater, warum sie nicht ebenso friedlich wie die Irokesen blieben. Da fragt ihn der Vater: "Weiß mein Sohn […], dass die Lenape am östlichen Meer gewohnt haben?"

Der Vater erzählt ihm, dass nicht nur die Lenape, sondern "auch die Shawnee und noch viele weitere Stämme" dort gewohnt hätten. Die ersten Blassgesichter seien mit leeren Händen gekommen und die Lenape "haben ihnen gegeben, was sie brauchten, denn der Rote Mann teilt mit allen Notleidenden.

"Aber je mehr die Lenape gaben, umso mehr Schiffe landeten und umso mehr Weiße betraten ihr Land. Sie machten sich immer breiter, bauten große Dörfer und drängten die roten Menschen zurück. Mit ihren eisernen Äxten schlugen sie die Wälder, mit ihren Gewehren schossen sie die Tiere – und die Lenape mussten schließlich vor ihnen weichen und ihre alte Heimat verlassen."

Weiße Landnahme – die Perspektive der Ureinwohner

Die Autorin lässt einen Ureinwohner diese Geschichte erzählen, es ist keine weiße Autoritätsperson, sondern eine "rote". Und der weiße Junge lernt vom roten Mann.

Unsicherheit befiel den Jungen. Die Welt der Grenzer – für ihn so selbstverständlich – wandte ihn plötzlich ein anderes Gesicht zu. Er hatte mit einem Mal das dumpfe Gefühl, als wäre da irgendetwas nicht in Ordnung mit den [weißen] Leuten.


Blauvogel – Wahlsohn der Irokesen

Der Junge weißt auch zu schätzen, dass es in den indianischen Familien keine Schläge gibt für die Kinder: "Er dachte an die elterliche Blockhütte mit dem Lärm der Geschwister und den reichlichen Prügeln; er dachte an das Schildkrötenhaus, in dem dreimal so viel Kinder wohnten und in dem es doch ruhig herging – ohne Schläge."

Der Großvater erzählt ihm, wie die Angehörigen seiner Familie in drei Generationen zweimal von Weißen in eine andere Gegend vertrieben wurden.

"Aber auch dieses Land mussten wir verlassen, weil die Langen Messer kamen. Die Weißen nennen es jetzt das Juniatatal."

Bei diesem Stichwort schreckt der Junge auf – der ihm vertraute Name der alten Heimat verwandelt ihn. Plötzlich fühlt er sich wieder als Weißer und hat alles vergessen: die neuen Eltern, das Schildkrötenhaus, die Spielgefährten, auch die Ehrfurcht vor dem Großvater.

"Das ist doch unser Land", schreit er auf. "Was jenseits der Berge liegt, gehört den Engländern, den Rotröcken!"

Die leise Antwort des Großvaters fährt wie ein Schlag auf ihn herab. "Und wo liegt des Indianers Land?" Da will Blauvogel ausrufen: "Hier" – aber das Wort blieb ihm in der Kehle stecken.

Hier saßen die Franzosen und beanspruchten alles Land diesseits der Berge. Das hatte auch Kleinbär gesagt; jenseits des Gebirges die englischen Rotröcke, diesseits die Franzosen, und mitten dazwischen der Rote Mann, ohne Heimat.


Blauvogel – Wahlsohn der Irokesen, S.105

Der Lernprozess des Jungen ist schmerzhaft – intellektuell ebenso wie emotional.

Weiße Vorurteile und Gewalt – ein schmerzhafter Seitenwechsel

Bald nimmt die Autorin das Thema der Verdrängung der Natives durch die Weißen ein weiteres Mal auf. Diesmal geht es nicht bloß um die Landnahme, sondern der Junge erkennt, dass die Weißen die Stämme und deren Kultur gar nicht kennen, sie in Unkenntnis verurteilen, und daraus das Recht ableiten, sie zu töten.

Er geht mit den Frauen auf das Feld. Eigentlich ist das keine Männerarbeit – bei Anna Jürgen ist das Bild von Männern und Frauen deutlich offener, es gibt Regeln, aber sie dürfen gebrochen werden. Dem Jungen macht die Arbeit Freude, und er wundert sich, wie effizient die Arbeit vorwärts geht, der Boden ist gut und die Frauen arbeiten zusammen, alle Clans gemeinsam.

Es wirkt auch recht ökologisch, die Mutter sät immer Mais, Bohnen und Kürbisse zusammen, der Mais wächst heran, die Bohnen klettern daran empor und die Kürbisse ranken dazwischen und halten mit ihren breiten Blättern die Feuchtigkeit im Boden.

Währenddessen geht der Vater mit zwölf weiteren Männern auf eine Handelsreise. Als er zurückkehrt, erzählt er, wie die Weißen ihn betrogen und ihn als "indianischen Hund" beschimpft hätten.

Blauvogel schämt sich entsetzlich. Von "indianischen Hunden" haben auch seine Angehörigen gesprochen – und "jeder beliebige Besucher, sobald das Gespräch auf die roten Leute kam, wie oft hatte er früher selbst dieses Schimpfwort in den Mund genommen".

Blitzartig wird ihm klar, "dass er mehr von den roten Menschen wusste, dass er sie besser kannte, dass seine weißen Angehörigen Unsinn redeten, wenn sie von den Indianern sprachen".

Sein weißer Vater hatte behauptet, Indianer lebten nur von der Jagd und zögen dauernd herum, verstünden nichts von Ackerbau, und Blauvogel sieht, dass jeder einzelne Clan mehr Mais anbaut als die Grenzer.

Dann gehen sie zum Salzsieden, die Frauen, die Kinder, mit Packpferden und Gerätschaften, und fünf Kriegern als Schutz. Und da werden sie von Weißen überfallen, die mit ihren Gewehrkolben auf eine Tante und ihr Kleinkind einprügeln und sie wahrscheinlich töten. Auch drei Männer sind tot, die übrigen verwundet.Unter diesen Banditen hätten auch sein leiblicher Bruder oder der Vater sein können.

Der Gedanke tauchte so schnell unter, wie er kam, denn das Gehirn fasste ihn nicht. Dafür schnellte eine andere Vorstellung hoch, die immer wieder kehrte wie der Schwimmer einer Angel, an der ein Fisch reißt: Die Lenape hatten recht, sie vergalten nur, was sie zuerst tausendfach hinnehmen mussten. Die Weißen nahmen nicht nur das Land, sie mordeten auch. Er würde es den weißen Mördern heimzahlen.


Blauvogel – Wahlsohn der Irokesen, S. 116

Der Junge ist angeschossen und erholt sich lange nicht. Der Vater ist zu einem Rachefeldzug aufgebrochen, er erbeutete acht Packpferde, auch mit Salz. Aber sie haben kaum noch Pulver, die Vorräte sind zur Neige gegangen, und die Jagd bringt keinen Erfolg. Die Indianer hungern. Da geht der Junge heimlich mit einem Gewehr allein auf die Jagd.

Und es gelingt ihm, einen Bären, der seinen Winterschlaf hält, zu schießen. Von da an wendet sich das Blatt, auch andere Jäger haben Glück, und die Indianer besinnen sich auf ihre eigenen Fähigkeiten. Die Jahre vergehen, der Junge lernt immer mehr, er bekommt eine eigene Strecke mit fünf Fallen und erlegt einen Hirsch mit Pfeil und Bogen.

Wieder der Krieg

Das Fort du Quesne wird erobert, Quebec fällt, und die Franzosen, die Verbündeten der Lenape, werden verjagt. Der Krieg endet, die Handelsstationen fallen in englische Hand. Dann hört man immer mehr von einem indianischen Napoleon namens Pontiac, er sollte ein Ottawa Häuptling sein.

Er ruft die Indianer auf, sich mit den Franzosen zu verbünden und gegen die Engländer zu kämpfen. Die Lenape nehmen das Kriegsbeil auf, die Irokesen nicht.

Eines Tages kommen zwei englische Händler ins Dorf, sie sind dreckig und haben schlechte Manieren, und der eine fragt den blonden Jungen, "willst du mit uns gehen, weg von den indianischen Hunden?" Der Gefragte weist das entschieden zurück.

Dann nimmt der Vater Blauvogel und zwei andere große Jungen mit auf einen Jagdzug. Unterwegs gelangen sie ein verlassenes indianisches Dorf, die Einwohner haben sich vor Colonel Bouquet, dem neuen Anführer der Rotröcke, versteckt.

Die sind beim Eriesee eingefallen und Bouquet bietet eine zahlenmäßige Übermacht auf. Nun droht er den Indianern an, ihre Dörfer zu verbrennen, ihre Obstbäume zu fällen und ihre Vorräte zu vernichten. Es sei denn, die Häuptlinge erscheinen zu Verhandlungen.

Die Engländer unter Bouquet bieten den Indianern Frieden an, unter der Bedingung, dass diese alle Gefangenen, auch die adoptierten, die sich nicht mehr als Gefangene empfinden, ausliefern.

Der Junge muss zu den Weißen, zusammen mit sehr vielen anderen Kindern weißer Herkunft. In 17 Tagesmärschen bringen die Weißen die Kinder und Jugendlichen ins Fort du Quesne, inzwischen "Fort Pitt", wo die indianischen Eltern, die dem Zug noch gefolgt sind, umkehren müssen.

Die Autorin beschreibt, wie die Kinder und ihre indianischen Eltern sich nicht trennen möchten, wie schrecklich die Abschiede sind.

Dann geht es weiter in die Herkunftsstadt des Jungen, früher Raystown, dann Bedford. Die Namensänderungen schockieren den Jungen, er begreift, dass sich die Welt der Weißen sehr geändert hat, während er bei den Ureinwohnern lebte. Der Bruder holt Blauvogel ab.

Die beiden erkennen einander kaum wieder, und der Junge erfährt, dass seine Eltern inzwischen gestorben sind. Dann gehen sie in das alte neue Elternhaus des Jungen, der Bruder hat inzwischen ein neues Haus gebaut. Außerdem hat er sehr viel Wald gerodet und Äcker angelegt.

Hier schlägt die Autorin einen Bogen zum Schöpfungs- und Zerstörungsmythos am Anfang ihres Buches: Die Weißen dringen ins Land ein, zerstören den Wald und vertreiben die Ureinwohner.

Die Geschichte von Georg/Blauvogel hat mehrere Ebenen: Erstens ist die Geschichte dieses bestimmten Jungen. Zweitens ist sie eine typische Geschichte aus der Zeit, denn es kam häufiger vor, dass Indianer weiße Kinder entführten und aufzogen. Drittens wird sie Teil des Mythos, denn die weiße Familie gehört zu den Eindringlingen, und sie erobert auch das (eigene) Kind zurück.

Doch der Junge wird mit seiner Herkunftsfamilie nicht warm, seine Schwestern stellen Fragen und hören bei den Antworten nicht zu, das Essen schmeckt ihm nicht, und vom ersten Tag an muss er mit den anderen arbeiten, und diese Arbeit ist er nicht gewohnt. "Die Tage vergingen mit dringender Arbeit, eine ständige Hast schien allein zu regieren, und es konnte nichts schnell genug gehen."

All diese Erlebnisse stehen im Gegensatz zu seinen Erlebnissen bei den Ureinwohnern, wo man bei der Arbeit sang und sich Zeit ließ und vor allem gemeinsam arbeitete.

Er kommt mit dem Pastor ins Gespräch, der schockiert ist, dass der Junge nichts mehr weiß vom christlichen Glauben. Beim nächsten Gottesdienst betet er öffentlich für ihn: "Er ist in seinem Herzen ein Heide geworden; zeige ihm den rechten Weg und erleuchtet ihn mit deiner Gnade und Barmherzigkeit."

Damit macht er den Jungen zum Außenseiter. Eines Tages bekommt Georg alias Blauvogel mit, wie ein Pferdefuhrwerk in die Nähe seiner indianischen Eltern fahren will. Er nutzt die Gunst der Stunde, reißt aus, fährt mit, wird abgesetzt und findet zu seinen indianischen Eltern zurück. Die Familie ist glücklich. Hier darf sich der Junge nach den Strapazen ausruhen. Er ist wieder zu Hause. Und der Zerstörungsmythos ist durchbrochen.

Während Radau durchklingen lässt, dass der Alkoholismus unter Native Americans nicht nur weit verbreitet und Ursache für viele Probleme ist, sondern auch, dass man für sein Schicksal selber verantwortlich sei, ergreift Jürgen viel direkter Partei für die Ureinwohner.

Nur einmal betrinkt sich ein Indianer, und das, weil Weiße ihm ein Fell günstig abnehmen wollen – der Vater des Jungen ist dabei und macht den Betrug rückgängig, indem er den Weißen androht, gar nicht mit ihnen Handel zu treiben.

Vielleicht ist das Buch von Jürgen hart gegenüber den Weißen, aber angesichts des schreienden Unrechts, das Weiße an Ureinwohnern begangen haben, auch unter bewusstem Einsatz von Alkohol [4] ist diese Sichtweise zumindest nicht verwerflich.

Insgesamt zwei lesenswerte Bücher mit unterschiedlichen Sichtweisen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7441545

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Weihnachtszeit-Lesezeit-Heute-noch-Indianerbuecher-verschenken-7440459.html
[2] https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-bundessozialgericht-alkoholismus-krankheit-anerkennung-100.html
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Siebenj%C3%A4hriger_Krieg_in_Nordamerika
[4] https://www.nzz.ch/international/alkohol-die-waffe-der-siedler-gegen-die-indianer-ld.1416203