zurück zum Artikel

Welt ohne Geld, Ampeln und Moral

Bild: ©Emilio Pereda / Moviestar+

Wenn die Sonne zweimal hustet: Die Science-Fiction-Dystopie Apagón beim Filmfestival in San Sebastián zeigt Sonnensturm und Krisenhandwerk.

Die Sonne war schuld.
Albert Camus, Der Fremde

Es ist das Szenario, das die Versicherungen dieser Welt am meisten fürchten: Ein magnetischer Sturm. Oder, populärer ausgedrückt, ein Sonnensturm. Sollte dieser eine gewisse Heftigkeit überschreiten und Teile der zivilisierten Welt direkt treffen, so hätte das massive Folgen, sogenannte Dominoeffekte und Wasserfalleffekte zur Folge.

Ein solcher Sonnensturm ist nun genau das Szenario der dystopischen Science-Fiction-Miniserie Apagón, die an diesem Freitag in San Sebastián ihre Premiere feierte, und bald auf Moviestar+ Premiere haben wird.

Fünf der besten Regisseure Spaniens, dabei aber so unterschiedlich wie der sozialrealistische Menschenfreund und Regisseur Inaki Lacuesta, der poetische Realist Rodrigo Sorogoyen und der harte Oldschool-Thriller-Meister Alberto Rodriguez sind beteiligt.

Jeder von ihnen hat eine der fünf Episoden gedreht, die in sich geschlossene 45-Minuten-Filme darstellen. Während Sorogoyen seine Folge zu einer Art Geschwindigkeitssthriller macht, erzählt Rodriguez eine Art Western und Lacuesta klassisches Melo-Beziehungs-Kino.

Gefährliche Unvorhersehbarkeit

Bei einem Sonnensturm wird die ständige Strahlung der Sonne deutlich stärker als sonst. Bei einer solchen Sonneneruption entstehen heftige wellenartige magnetische Schwankungen. Sie breiten sich mit Lichtgeschwindigkeit aus. Was Sonnenstürme besonders gefährlich macht, ist ihre Unvorhersehbarkeit. Sie lassen sich kaum berechnen, und wenn es zu einem Sonnensturm kommt, der die Erde trifft, dann gibt es nur sehr wenige Stunden Vorwarnzeit.

Bild: ©Emilio Pereda / Moviestar+

Ein solcher Fall ist zwar wenig wahrscheinlich. Aber etwas alle 500 Jahre kommt es zu einem sehr schweren Sonnensturm auf der Erde. Je abhängiger eine Gesellschaft von Elektronik ist, um so gefährlicher sind die Folgen. Als Inspiration für die Serie diente ein Podcast mit dem Titel "Der große Blackout".

Die Menschen haben keine Zeit, das Schlimmste zu verhindern

In der Serie erleben wir alles das im ersten, von Rodrigo Sorogoyen inszenierten Teil aus der Perspektive des spanischen Katastrophenzentrums in Madrid.

Die Katastrophenschützer können es zunächst kaum glauben: Sie sprechen über das "Carrington-Ereignis" von 1859, über den großen Stromausfall in Kanada 1989. Als die Politiker gebrieft werden, ist die Szene offenkundig von den Reaktionen auf Corona inspiriert. Eine zweiprozentige Wahrscheinlichkeit ist den Politikern nicht genug, um Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.

"Das potenzielle Risiko ist keine Grundlage von Entscheidungen diese Tragweite", sagt die zuständige Ministerin. Man begreift: Die Menschen haben keine Zeit, das Schlimmste zu verhindern.

Was passiert, wenn es passiert?

Apagón ist im Prinzip eine coole Serie. Sie spekuliert darüber, was passiert dann, wenn es passiert? Im Fall eines Strom-Totalausfalls gibt es keine Geldautomaten mehr, keine Cash-Maschinen, aber man braucht auch kein Geld mehr. Finanzoperationen verschwinden. Keine Ampel mehr, allein deswegen schon ein Verkehrschaos.

Das Telefonnetz bricht zusammen. Das Internet. Alle Kraftwerke, alle Maschinen. Eine schnelle Panik bricht aus – zu Recht! Denn "es wird Jahre dauern" bis die alte Wirklichkeit zurückkehrt, sagt eine Figur hier sehr früh.

Bild: ©Emilio Pereda / Moviestar+

Im Katastrophenschutzzentrum könnte alles auch weitergehen. In der zweiten Episode spielt dann aber die Serie mit neuen Figuren in einem Krankenhaus, wo die Triage bald ab dem 60. Lebensjahr beginnt. Benzin gibt es genug, aber Batterien sind knapp, Gasflaschen. Ohne Strom gibt es auch keine Müllabfuhr mehr, keine Pension.

Zwischendurch heißt es mal, Marokko habe Energie, aber man komme nicht hinein. Es gibt keine Einreisegenehmigung. Mehr und mehr zerfällt die Zivilisation. In der dritten Folge sieht man, wie Kinder ohne Eltern in den Monaten danach überleben – kleine räuberische Zombies, auf die die Gesellschaft mit militanten Selbstschutzbünden und Gewalt reagiert.

Gewalt spielt auch im vierten Teil eine Rolle: Alberto Rodriguez erzählt von einem Ziegenhirten, der seine Ziege gegen Hungernde verteidigt, die zu aller Gewalt bereit sind. Es kommt zu einem Shootout in einem Ski-Resort, mit guten klaren Genremomenten.

Isaki Lacuesta erzählt im letzten Teil von einer bürgerlichen Frau, die aus der Begegnung mit den einfachen Leuten und Flüchtlingen Lektionen fürs Leben lernt. Beim Zusammenleben gibt es keinerlei Probleme zwischen den Kulturen, keiner ist böse, sondern alles eher ein kleines Paradies, eine Idylle. Die Moral dieser Utopie lautet: Besser Bauer sein als Katastrophenschützer. Seine Episode ist ein Film voller niedlicher Zivilisationsfeindschaft.

Insgesamt wird die Serie immer langsamer und "normaler", sie wird auch intimer. Die Leute haben Angst vor allem. Man hat Angst vor Ruhe, Angst vor Fremden, Angst vor Infektionen. Alles wird archaischer. Eine unausgesprochene Aussage dieser Serie lautet: Alle brauchen Führung.

In gewissen Sinn ist diese Serie auch ein Tribut an diejenigen, die öffentlich für Katastrophenschutz verantwortlich sind. Ohne die Institutionen, so wird nahegelegt, würde die Gesellschaft nicht funktionieren und die Menschheit in Barbarei versinken. Viele Erfahrungen während der zurückliegenden Pandemie sprechen tatsächlich für diesen Befund.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7275334