zurück zum Artikel

Wenn es ums Geld geht

Was sind psychische Störungen? Teil 2

Im ersten Teil der Serie haben wir die amtliche Sichtweise auf psychische Störungen [1] untersucht, nämlich die Definition in der fünften Auflage des Diagnosehandbuchs der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA), genannt DSM-5. Dabei kam heraus, dass Normen und Werturteile eine wichtige Rolle bei der Unterscheidung "normaler" Erlebnisse, Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen von "Störungen" spielen.

In unserem Denken über psychische Gesundheit spiegelt sich also unsere Kultur wieder. Oder genauer gesagt: Die Kultur der Vereinigten Staaten sowie die Interessen der psychiatrischen Fachleute, die an dem Handbuch mitarbeiten. Dass deren Kultur und Interessen auch für andere Länder von Bedeutung sind, liegt an zwei Gründen: Erstens ist die wissenschaftliche Forschung stark amerikanisch und britisch geprägt. Wer eine akademische Laufbahn anstrebt, kommt kaum an Publikationen in angloamerikanischen Fachzeitschriften vorbei und muss sich dann auch an deren Regeln halten.

Zweitens wird sich der Abschnitt für psychische Störungen des von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen und für 2018 erwarteten Klassifikationssystems ICD-11 wohl stärker an der nordamerikanischen Vorlage orientieren. Das ICD wird meistens in den Ländern verwendet, die nicht das DSM eingeführt haben. Dabei ist auffällig, dass die amerikanische Psychiatrie überhaupt aus dem internationalen System ausbricht und ihr eigenes Handbuch herausgibt.

Das ist zwar nicht die einzige Ausnahme im gesamten Bereich der Medizin, doch eine von wenigen. Wie schon im ersten Teil berichtet, verdient die Vereinigung Millionen mit den Urheber- und Lizenzrechten; und ihr kommt eine besondere Definitionsmacht zu. Wer jedoch denkt, bei der Alternative der Weltgesundheitsorganisation seien alle Länder gleichmäßiger vertreten, der wird leider enttäuscht: Auch bei der Vorbereitung des ICD-11 dominieren Fachleute aus Großbritannien und den USA [2].

Verbindungen zur Pharmaindustrie

Auf dem psychischen Gesundheitsmarkt insgesamt geht es aber sogar um Milliarden. Deshalb ist ein genauerer Blick auf die Fachleute, die die Regeln festlegen, der Mühe wert. So untersuchten beispielsweise Lisa Cosgrove von der Harvard University und Sheldon Krimsky von der Tufts University in Medford, Massachusetts, deren finanzielle Verbindungen zur Pharmaindustrie. Die Ergebnisse [3] sind deutlich: In vielen Arbeitsgruppen für das DSM-5 hatte mehr als die Hälfte der Beteiligten einen solchen Interessenkonflikt. Bei den Aufmerksamkeitsstörungen waren es 78%, bei Schizophrenie 83% und bei Schlafstörungen gar 100%.

Kooperationen zwischen Wissenschaft und freier Wirtschaft sind dabei nicht an sich verwerflich. Außerdem zwingt die herrschende Wissenschaftspolitik Forscherinnen und Forscher zum Einwerben von Mitteln, die in Zeiten der öffentlichen Kürzungen weiter aus der Pharmaindustrie sprudeln. Wenn die finanziellen Interessen und Einflüsse zu groß werden, droht jedoch der wissenschaftlichen Unabhängigkeit und schließlich auch Patientinnen und Patienten großer Schaden.

Der Kritiker Allen Frances, emeritierter Psychiatrieprofessor und federführender Herausgeber des DSM-IV von 1994, nennt [4] hierfür ein paar Zahlen: Mit Stimulanzien, die vor allem gegen Aufmerksamkeitsstörungen verschrieben werden, würden allein in den USA jährlich 7 Milliarden Dollar umgesetzt; mit Antidepressiva 12 Milliarden; und schließlich mit Antipsychotika, also Mitteln gegen Schizophrenie und Wahnzustände, gar 18 Milliarden.

Diesen Umsätzen geht voraus, dass die Medikamente von den Regulierungsbehörden und Krankenversicherungen als nützliche Behandlungen anerkannt werden. Dafür sind wiederum wissenschaftliche Belege erforderlich. Und wer liefert diese Belege? In vielen Fällen sind das eben jene Forscher, die Gelder von der Pharmaindustrie erhalten. Es scheint fast zu schön, um wahr zu sein: Die Wissenschaftler brauchen Geld, das die Industrie bereitstellt; und die Industrie braucht Wirksamkeitsnachweise, die die Forscher erbringen. Die Behörden sind dann fein raus aus der Verantwortung: Immerhin haben wissenschaftliche Studien doch ergeben, dass ...

Interessenkonflikte und Marktlogik

Es bedarf keiner großen Denkbemühungen, um hier einen Interessenkonflikt zu erkennen. Zudem haben investigative Recherchen der letzten Jahre immer wieder ergeben, dass die Industrie Einfluss auf die wissenschaftlichen Publikationen nimmt: sei es durch "Ghostwriter" (Prof. Dr. Plagiat [5]), Kommunikationsexperten, die selbst negative Befunde in einem guten Licht präsentieren, das Unterschlagen von Nebenwirkungen oder gar das Zurückhalten ganzer Studien, wenn diese keine positiven Ergebnisse erbringen.

Das ist alles nicht überraschend, sondern wird schlicht durch die Marktlogik diktiert: Forscherinnen und Forscher können oft ohne das Geld keine Karriere machen. Wenn sie nicht genügend publizieren, verlieren sie schlimmstenfalls ihre Stelle (Warum die Wissenschaft nicht frei ist [6]). Zeitschriften akzeptieren in der Regel aber nur positive Befunde. Und für die börsennotierten Firmen kommt, in Abwandlung eines berühmten Zitats Berthold Brechts, erst der Gewinn und dann die Moral - wenn diese überhaupt irgendwann folgt.

Wissenschaft bleibt Menschenwerk

Solche Markt- und Wettbewerbsfaktoren sind aber nicht die einzigen Aspekte, die das Forschen von Psychiatern und Psychologen beeinflussen. Auch deren Experimente und Instrumente setzen bestimmte Definitionen und Annahmen voraus, etwa darüber, was ein Störungsbild ausmacht und wie man dessen Vorliegen feststellt. Es ist ein allgemeiner Punkt der Wissenschaftstheorie, dass Denkmodelle, Theorien oder genauer gesagt: Begriffe die Arbeit und damit auch die Erkenntnis von Wissenschaftlern prägen und beeinflussen. Diese Feststellung relativiert die verbreitete Vorstellung von einer "harten" oder "objektiven" Wissenschaft.

Nun haben wir gesehen, dass die Mehrheit der Fachleute, die über die Definitionen und Kriterien des DSM-5 entscheidet, Gelder von der Pharmaindustrie erhält und/oder in diese Richtung forscht. Der Entscheidungsspielraum dieser Experten ist nicht völlig beliebig - doch haben sie eine bestimmte Freiheit darin, welche Entscheidungen sie treffen, welche Forschung sie durchführen, welche Verfahren sie dafür verwenden und wie sie ihre Ergebnisse interpretieren. Wissenschaft bleibt, selbst unter günstigsten Bedingungen, Menschenwerk.

Steigerung der Diagnosen

Kommt es schließlich zu der Ausweitung der Kriterien, bei denen eine psychische Störung vorliegt, dann geht das mit einer Steigerung der Diagnosen einher. Unter der Annahme, dass diese Störungen Gehirnstörungen sind, liegt eine steigende Verschreibung von Psychopharmaka auf der Hand. Ein Puzzlestück fügt sich nahtlos an das andere. Genau diesen Trend sehen wir seit Jahrzehnten bei den Angst- und Aufmerksamkeitsstörungen sowie Depressionen. Die heutigen Milliardenumsätze der Pharmaindustrie, die Allan Frances angesprochen hat, beruhen darauf. Das Geld fließt im Wesentlichen aus dem Gesundheitssystem und füllt die Taschen von Psychologen, Psychiatern, Pharmakologen, Managern, Lobbyisten und Anteilseignern.

Manchen Menschen helfen diese Mittel tatsächlich. Diejenigen Patienten, die sie nicht wirklich nötig hätten, riskieren aber mitunter gravierende Nebenwirkungen. Zumindest die Tatsache, dass Generationen vor uns ohne diese Mengen an Psychopharmaka auskamen und deren Gesellschaft auch funktionierte, sollte uns stutzig machen. Mehrere Studien zeigen zudem, dass diejenigen, die am meisten Hilfe nötig haben, zu schlecht versorgt werden, während diejenigen, die nur leichte Probleme haben, eine Überversorgung bekommen. Das Markt- und Effizienzdenken entscheidet sich für die gut behandelbaren Fälle ("Es gibt keine Schizophrenie" [7])

Es greift aber zu kurz, bei finanziellen Interessenkonflikten im Bereich der psychischen Gesundheit nur auf die Pharmaindustrie zu schauen. Denn auch zahlreiche Forscherinnen und Forscher bedienen sich der kapitalistischen Mechanismen und orientieren sich an der vorherrschenden Wissenschaftspolitik. Beide zielen auf Nutzen- und Effizienzmaximierung durch Wettbewerb ab.

Angebliche Kosten psychischer Störungen

So rechnen uns Fachleute Jahr für Jahr vor, wie viele Milliarden psychische Störungen die Gesellschaft angeblich kosten (Verursachen psychisch Kranke finanziellen Schaden? [8]). Eine mit solchen Kostenrechnern verbundene Lobbyorganisation, der sogenannte European Brain Council [9], hat dafür auf ihrer Internetseite sogar einen Ticker programmiert: Dieser erhört sich pro Sekunde um rund 25.000 Euro. Diese Zahl bezieht sich auf die Europäische Union und ergibt, aufs Jahr hochgerechnet, "Kosten" in Höhe von knapp 800 Milliarden Euro. Das wäre ein Drittel des Bruttoinlandprodukts Deutschlands! Die Lobbyisten schreiben [10] darüber:

165 Millionen Europäer leben mit einer Gehirnstörung [im Original: "brain disorder", d. A.]. Das verursacht globale Kosten (direkt und indirekt) in Höhe von mehr als 800 Milliarden Euro für die nationalen Gesundheitssysteme.

European Brain Council, Übers. d. A.

Abgesehen davon, dass sie sich hier um ein paar Milliarden Euro vertun - was spielt das bei solchen Größen noch für eine Rolle? -, sollten wir dieser Aussage aus zweierlei Gründen auf den Zahn fühlen: Erstens, wieso steht da auf einmal "Gehirnstörung"? Zweitens, wie werden diese Zahlen berechnet?

Wieso "Gehirnstörungen"?

Wie wir im ersten Teil gesehen haben, lautet die amtliche Fassung psychischer Störungen keinesfalls, dass diese Gehirnstörungen sind. Vielmehr hieß es dort, sie reflektierten "eine Dysfunktion in den psychologischen, biologischen oder entwicklungsbedingten Prozessen, die dem geistigen Funktionieren unterliegen". Das Gehirn ist für unser Seelenleben zwar von zentraler Bedeutung. Es befindet sich aber in einem Nervensystem in einem Körper einer Person mit einem Netzwerk zwischenmenschlicher Beziehungen in einer bestimmten Gesellschaft und Biosphäre.

Davon abgesehen sind psychische Störungen auf Werturteilen und Normen basierende Definitionen. Diese liegen - sowohl in der Theorie als auch in der Praxis - im Auge des Betrachters. Es handelt sich hier also mitnichten um natürliche Kategorien. Dass einige Forscher psychische Störungen zusammen mit neurologischen Störungen salopp als "Gehirnstörungen" definieren, dürfte vor allem Karrierezielen geschuldet sein: Seit den 1990ern Jahren - der sogenannten "Dekade des Gehirns" - gibt es nun einmal sehr viel Geld für Hirnforschung.

Auf kritische Nachfrage schrieb mir dann auch einer der führenden Forscher Europas auf diesem Gebiet: "Brain Disorders. Ein ganz blöder Begriff, der nur eine politische, finanzstrategische Bedeutung hat. Psychische Störungen sind psychische Störungen und keine Hirnerkrankungen." Warum schreiben Wissenschaftler etwas in wissenschaftliche Publikationen, obwohl sie wissen, dass es nicht stimmt? Der Experte gab die Antwort selbst: aus strategischen Gründen.

Wie man die Kosten errechnet

Welche Bedeutung das sowohl für die Wissenschaft als auch für die Patientinnen und Patienten hat - und laut European Brain Council sind das ja allein in der EU rund 165 Millionen Menschen -, werden wir im letzten Teil der Serie sehen. Hier erst noch eine Bemerkung über die Berechnung der Kosten: Die angeblichen 800 Milliarden setzen sich aus direkten und indirekten Kosten [11] zusammen. Erstere sind diejenigen Kosten, die eine Erkrankung im Gesundheitssystem verursacht. Diese schätzen Expertinnen und Experten auf 35% der Gesamtkosten.

Anders betrachtet ist das aber der Umsatz der Heilberufe und -Industrie: etwa Kosten für Krankenhausaufenthalte, Medikamente und ambulante Versorgung. Wehe den Ärzten, Apothekern, Krankenpflegern und Therapeuten, wenn es auf einmal keine Krankheitskosten mehr gäbe! Gesamtgesellschaftlich handelt es sich also um ein Nullsummenspiel. Wer die Gelder anders verteilen will, wird es jedenfalls mit der Gesundheitslobby zu tun bekommen. Inklusive ist allerdings ein - in den meisten europäischen Ländern - noch relativ humanes Gesundheitssystem. Das hat auch einen Wert, den wir nicht vergessen sollten.

Von Kosten zum Menschenbild

Zu diesen direkten Kosten kommen Zahlungen außerhalb des Gesundheitssystems, etwa für Sozialleistungen (13%), und andere kleine Kostenpunkte. Der Großteil (46%) der genannten 800 Milliarden ergibt sich allerdings aus indirekten Kosten - und das sind Kosten, die es vor allem auf dem Papier gibt: Hierfür wird nämlich schlicht angenommen, dass eine wegen Krankheit ausgefallene Arbeitsstunde, ein Vorruhestand oder vorzeitiger Tod Geld kostet - eben den Betrag, der ansonsten erwirtschaftet worden wäre. So kann man ökonomisch natürlich denken. Was kosten dann aber etwa Schlaf, Urlaub und andere Freizeitbeschäftigung, die ein Mensch nicht mit produktiver Arbeit verbringt? Wahrscheinlich sehr viel mehr als alle Erkrankungen zusammengenommen.

Es geht also schlicht um eine Sichtweise auf den Menschen, um ein Menschenbild. Die hier berechneten indirekten Kosten gibt es nur dann, wenn man davon ausgeht, dass der Mensch auch wirklich 100% seiner vertraglich vereinbarten Arbeitszeit arbeitet. Diese Annahme ist aber unrealistisch, ja naiv.

Ein Recht auf Krankheit

Genauso wie man einkalkuliert, dass Menschen Schlaf, Urlaub und andere Freizeit brauchen, muss man auch einkalkulieren, dass Menschen manchmal krank sind: der eine mehr, die andere weniger. Man erwirtschaftet mit seiner Arbeit also auch ein historisch errungenes Recht, krank zu sein, schlicht weil das natürlich und menschenwürdig ist. Beispielsweise von einem 90-Prozent-Modell aus gedacht, sowohl individuell als gesamtgesellschaftlich, verschwinden die indirekten Kosten dann von selbst. Ohne Kosten lässt sich aber schlechter für Forschungsgelder argumentieren. Deshalb macht das keiner.

Wer aber wirklich diese "Kosten" reduzieren wollte, der müsste konsequenterweise auch Urlaub, Rente und andere Freizeit minimieren. Stellen wir uns vor, wie produktiv das wäre, an sieben Tagen die Woche 24 Stunden zu arbeiten, das ganze Jahr hindurch! Bloß wären nach rund zwei solcher Wochen die meisten von uns schon tot, wenn sie nicht bereits vorher bei Unfällen ums Leben kämen.

Das wäre, zugegeben, ein besonders radikales Beispiel - wenn wir aufgrund von Stress und Überarbeitung aber "nur" ein paar Jahre früher sterben, sei es, weil der Körper verbraucht ist oder weil sich jemand aus Verzweiflung das Leben nimmt, dann würde das sogar die Sozial- und Rentenkassen entlasten. Das ist erst einmal nur ein provokanter Gedanke, den man aber durchaus im Hinterkopf behalten sollte.

Gesundes Maß an Krankheit

Von der Frage nach den Kosten der "Gehirnstörungen" kommen wir also auf die Frage nach der Organisation einer gesunden Gesellschaft; und diese Gesellschaft leistet sich selbstverständlich ein Maß an Krankheit. Wenigstens ein Teil Krankheitskosten, die manche Forscherinnen und Forscher berechnen und Lobbyorganisationen wie der European Brain Council verbreiten, ist bei näherer Betrachtung also gar keine.

Es gibt aber noch einen weiteren wichtigen Grund, die Rede von den jährlich 165 Millionen von "Gehirnstörungen" betroffenen Menschen in der EU nicht einfach so zu akzeptieren. Die entsprechenden Forscherinnen und Forscher haben sich für die Schätzung dieser Größe zwar sehr viel Mühe gegeben: So seien rund 40% der Menschen jährlich von so einer Störung betroffen (Beinahe jede(r) Zweite gilt als psychisch gestört [12]). Angeführt wird die Liste von Angststörungen (14%), Schlafstörungen und Depressionen (jeweils 7%) sowie Demenz und Aufmerksamkeitsstörungen (jeweils 5%). Für diese Zahlen wurden jedoch vor allem Symptome gezählt.

Der wesentliche Unterschied im Gegensatz zur amtlichen Fassung ist, dass damit nichts über die klinische Signifikanz gesagt ist. Wie wir gesehen haben, ist das aber eine notwendige Bedingung für das Vorliegen einer psychischen Störung. Wer etwa mit den Symptomen einer Angst- oder Aufmerksamkeitsstörung - damit kommt man schon auf fast die Hälfte der genannten 40% - gut leben kann, der ist auch nicht psychisch krank.

Systematische Zwänge

Der Grund, warum man von jährlich 165 Millionen Gehirnkranken in der EU spricht, die jährlich Kosten in Höhe von 800 Milliarden Euro verursachen würden, ist schlicht ein pragmatisch-opportunistischer: Diese Geschichte eignet sich hervorragend zum Einwerben von Forschungsgeldern; und um in die Medien zu kommen. Das kann sich wiederum in Forschungsgeldern auszahlen. Bloß stimmt an der Geschichte so gut wie nichts: Weder sind es 165 Millionen Menschen mit einem Hilfsbedürfnis, noch Hirnkranke, noch wirkliche Kosten in Höhe von 800 Milliarden Euro.

Anstatt mit dem Finger auf Individuen zu zeigen, geht es mir um das Aufdecken systematischer Zwänge. Aus der Sportwelt sind wir es inzwischen gewohnt, dass alle paar Jahre Betrügereien großangelegten Dopings aufgedeckt werden. Auch aus der Wirtschaft erfuhren wir von Korruptionsskandalen und sogar gezielten Testfälschungen für Produkte "Made in Germany". Auch dort ist der Konkurrenzkampf, der Effizienz- und Profitmaximierungsdruck inzwischen offenbar so groß, dass immer mehr Akteure "dopen", das heißt die Regeln brechen, um erfolgreicher zu sein.

Bei Wissenschaft und Medizin scheinen viele nach wie vor zu denken, dass sie im interessenfreien Raum stattfinden. Als ginge es dort schlicht um Erkenntnis oder Gesundheit und nicht auch um Einfluss, Macht, Karriere und Geld! Dabei kritisieren selbst namhafte Forscherinnen und Forscher korrumpierende Tendenzen [13] oder die zerstörerischen Folgen eines "Hyperwettbewerbs" [14] und trug 2014 etwa die Zeit den Hilferuf "Rettet die Wissenschaft!" [15] aus der internationalen Diskussion in den deutschsprachigen Raum.

Alternative Möglichkeiten

Man könnte nun an der Schlechtigkeit der Welt verzweifeln. Das ist aber nicht notwendig. Erstens geht es bei all diesen Vorgängen nicht um Naturkatastrophen, sondern um menschliches Handeln; die Menschen könnten sich also zumindest theoretisch anders entscheiden - dass sie es praktisch nicht tun, dürfte an den erwähnten Zwängen liegen. Diese sind aber wiederum keine Naturgesetze, sondern von Menschen gemacht. Ebenso können sie auch von Menschen wieder verändert werden.

Zweitens und in Konkretisierung des ersten Punktes wäre es sowohl für die Wissenschaft als auch für die Medizin ohne weiteres möglich, das Streben nicht mehr am Optimieren von Output- und Gewinnzahlen auszurichten, sondern an Erkenntnis und am Wohl der Menschen. Genauso wie das betriebswirtschaftliche Denken in viele Bereiche Einzug gehalten hat, in die es nicht gehört, kann es sich von dort auch wieder verabschieden. Natürlich wird das den Widerstand derjenigen provozieren, die vom Status quo profitieren - doch das ist nur eine kleine Minderheit.

Was die Philosophie beiträgt

Der Beitrag eines Philosophen oder Wissenschaftstheoretikers kann es sein, vergessene Möglichkeiten aufzuzeigen; oder überhaupt aufzuzeigen, dass es Alternativen und Möglichkeiten gibt, die idealerweise einen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess unterstützen. Diese Disziplinen haben den Vorteil, vom Gewinnstreben tendenziell unabhängig zu sein, schlicht weil damit wenig Geld zu verdienen ist. Dass bedeutet leider nicht, dass das Nutzen- und Effizienzdenken zusammen mit einem Rückzug in die abstrakte Welt des Elfenbeinturms dort nicht auch einen großen Schaden angerichtet hätte.

Dennoch lohnt ein orientierender, wissenschaftstheoretischer Blick auf psychische Störungen, der die verschiedenen Ansätze miteinander vergleicht und deren Folgen analysiert. Genau darum geht es im dritten Teil, bevor sich der vierte Teil der Serie abschließend mit dem herrschenden Paradigma der molekularbiologischen Psychiatrie auseinandersetzt.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3936036

Links in diesem Artikel:
[1] https://heise.de/-3935301
[2] http://www.who.int/classifications/docs/RSGMembership.pdf
[3] http://journals.plos.org/plosmedicine/article?id=10.1371/journal.pmed.1001190
[4] http://www.youtube.com/watch?v=-AMvrcBvYWk
[5] http://www.heise.de/tp/features/Prof-Dr-Plagiat-3382758.html
[6] http://www.heise.de/tp/features/Warum-die-Wissenschaft-nicht-frei-ist-3848840.html
[7] http://www.heise.de/tp/features/Es-gibt-keine-Schizophrenie-3825681.html
[8] http://www.heise.de/tp/features/Verursachen-psychisch-Kranke-finanziellen-Schaden-3599853.html
[9] http://www.braincouncil.eu/
[10] http://www.braincouncil.eu/about-us/presentation-2/
[11] http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1468-1331.2005.01202.x/abstract
[12] http://www.heise.de/tp/features/Beinahe-jede-r-Zweite-gilt-als-psychisch-gestoert-3396727.html
[13] http://www.pnas.org/content/107/50/21233.full
[14] http://www.pnas.org/content/111/16/5773
[15] http://www.zeit.de/2014/01/wissenschaft-forschung-rettung