Wenn zwei Weltmächte streiten

Bild: Jernej Furman, CC BY 2.0

Plädoyer für einen nüchternen Blick auf den Krieg in der Ukraine

Die Empörung Deutschlands, der EU und der USA über den Angriff der russischen Armee auf die Ukraine ist erwartungsgemäß und verständlicherweise groß. Auf breiter Front fühlen sich Politik und Leitmedien in ihrem Vorwurf bestätigt, Russland respektiere keine Grenzen und stelle damit die "Sicherheitsordnung" in Europa in Frage.

Mit massiven Sanktionen reagiert der Westen, die Nato geht in den "Krisenmodus", Deutschland schickt der Ukraine nun doch Waffen und legt ein 100 Milliarden Euro-Rüstungsprogramm auf. Einige Medien zweifeln, ob das genügt, den Angriff zu stoppen. Sie fordern härtere Maßnahmen – die in einer direkten militärischen Konfrontation münden könnten.

Die Beweggründe Russlands interessieren nun hierzulande noch viel weniger als vor dem Angriff. Die Zeit für Diplomatie und ein Minimum an Respekt vor dem Staat im Osten ist endgültig vorbei. Dessen Chef Wladimir Putin gilt nun definitiv als durchgedrehter, unberechenbarer, eiskalter Bösewicht. Damit sind alle Bürger aufgerufen, sich gegen diesen "Diktator" zu stellen und die armen Ukrainer gegen ihn zu unterstützen.

Das heißt zunächst, den Aktionen der Bundesregierung gegen Russland beizupflichten. Das kann aber in weiteren Schritten heißen, enorm erhöhte Öl- und Gaspreise bezahlen zu müssen, weil es keine Energielieferungen mehr aus Russland gibt. Und dass bald einige deutsche Soldaten im Rahmen der Nato-Präsenz an den russischen Grenzen zu einem lebensgefährlichen Einsatz kommen. Von einem Atomkrieg auf dem Kontinent ganz zu schweigen.

Gute Abtrünnige, schlechte Abtrünnige

Es herrscht Kriegsstimmung in Europa, und die Schuldfrage gilt als eindeutig geklärt. Tatsächlich hat Russland die abtrünnigen Regionen im Osten der Ukraine als "Volksrepubliken" und damit als reguläre Staatsgebilde anerkannt. Schon zuvor hatten russische Einheiten die Abtrünnigen dabei unterstützt, sich gegen die Angriffe der regulären ukrainischen Armee zu verteidigen.

Damit stellt sich Moskau hinter die Sezession von Donezk und Luhansk, bestreitet Kiew die Souveränität über diese Gebiete. Das kommt einer Kriegserklärung gleich: Denn die bisherige Anerkennung der Ukraine durch Russland basierte schließlich darauf, dass dieser Staat die volle Gewalt besitzt über sein gesamtes Gebiet einschließlich der Bevölkerung in den akzeptierten Grenzen. Das ist der Inhalt jeder Anerkennung zwischen Staaten.

Wem jetzt dabei die Anerkennung der abtrünnigen Jugoslawien-Republiken Kroatien und Slowenien durch Deutschland in den 1990er-Jahren einfällt oder später der Nato-Krieg gegen Serbien, um das abtrünnige Kosovo zu behaupten, liegt richtig: Ja, vor noch nicht allzu langer Zeit wurden in Europa bereits die Grenzen neu gezogen.

Und ja, es waren jene europäischen Führungsnationen und die USA, die dies mit Gewalt durchgesetzt haben, die heute ihr damaliges Verhalten schlicht vergessen und es nun Russland umso mehr vorhalten. Die heute viel beschworene "Sicherheitsordnung" wurde damals neu definiert, unter schwachem Protest des Serbien-Partners Russland, aber ohne ernsthaften Widerstand.

Es war auch der Auftakt zur Ausdehnung der Nato in die ehemaligen Bündnisländer der UdSSR – entgegen der Beteuerungen vor der deutschen Wiedervereinigung 1990, dies gerade nicht tun zu wollen.

"Rote Linie" für USA & Co.: Ukraine bleibt unser!

Nüchtern betrachtet, geschieht demnach gerade der Versuch einer Weltmacht, eine zusehends für sie militärstrategisch immer schlechter gewordene Lage nicht noch schlechter werden zu lassen. Die "rote Linie" gilt für Russland als überschritten, wenn auch noch die Ukraine zum Aufmarschgebiet der Nato wird – nach Bulgarien, Rumänien, Polen, dem Baltikum, der Slowakei etc.

Denn die Ukraine grenzt auf tausenden Kilometern direkt an Russland, eignet sich damit noch viel besser als die bereits integrierten Ost-Staaten zur Stationierung von nach Moskau ausgerichteten Raketen. Damit dies nicht passiert, lässt Putin seine Armee in der Ukraine Fakten schaffen.

Die Invasion ist die Antwort auf das monatelang vom Westen wiederholte "Nein!" auf die Forderung, die Ukraine nicht in die Nato aufzunehmen, dort keine Einheiten zu stationieren. So sah und sieht die "rote Linie" aus hiesiger Sicht aus.

Diese Option gegen den Feind im Osten will man sich nicht nehmen lassen. Die Ukraine "neutral", zumindest militärisch? Das geht für USA & Co. gar nicht. Zu verlockend offenbar für die Weltmacht Nr.1 und ihre Verbündeten, die östliche Weltmacht noch mehr unter Druck setzen zu können.

Staaten sind sich grundsätzlich spinnefeind

Beide Konfliktparteien reklamieren in diesem Zusammenhang ihren Bedarf nach "Sicherheit". Ein merkwürdiger Begriff, zumal doch jeder gestandene Staatslenker immer betont, mit allen anderen Kollegen Frieden halten zu wollen.

Der wird seltsamerweise aber notorisch "bedroht", so dass sich jeder Staat trotz Friedensliebe allenthalben mit wehrhafter Rüstung ausstattet. Es muss demnach in den Beziehungen der Staaten untereinander häufig und wiederkehrend Anlässe geben, die nur mit Gewalt oder wenigstens der glaubhaften Androhung derselben zu bewältigen sind.

Staaten verstehen nun einmal keinen Spaß, wenn es um ihre Souveränität geht – also wie viel Gebiet, Kapital und Volk sie in ihrer Gewalt haben. Denn das ist die Quelle von Reichtum und Macht. Entsprechend hart reagieren sie, wenn diese Quelle von anderen Staaten in Frage gestellt wird.

Umgekehrt ist der betroffene Staat selbst interessiert daran, Herrschaft und Einfluss auszudehnen auf Kosten anderer Staaten – sei es durch einfache Erweiterung seines Landes, sei es durch Verträge, die die vorteilhafte Benutzung oder Ausbeutung von Ressourcen anderer Nationen ermöglichen.

Ohne eine ernstzunehmende Streitmacht sind solche Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Die einträglichen Geschäfte und Gewinne müssen abgesichert werden gegen Überlegungen des ins Hintertreffen geratenen Staates, dieses mit Gewalt zu korrigieren. Nicht von ungefähr unterhalten die auf der Welt kapitalistisch erfolgreichen Nationen die stärksten Armeen. Und die erfolgreichste, die USA, hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit Abstand die meisten Kriege geführt und die meisten Umstürze angezettelt.

Russische Raketen relativieren US-amerikanische Weltmacht

"Sicherheit" beschreibt so gesehen den prinzipiellen Anspruch eines jeden Staates, in seinem Agieren auf der Welt sich gegen die Staaten behaupten zu können, die ihm dabei in die Quere kommen. Insofern bedroht tatsächlich Russland die "Sicherheit" der Vereinigten Staaten von Amerika. Denn mit der immer noch bestehenden Fähigkeit, mit Atomraketen die USA anzugreifen, gefährdet diese Nation die Sicherheit der US-Amerikaner, unangefochten als Weltmacht Nr. 1 auf dem ganzen Globus ihre Interessen durchzusetzen.

Umgekehrt bedroht die USA die Sicherheit Russlands. Die einstigen Partnerländer zu Sowjetzeiten sind im westlichen Lager gelandet. Wirtschafts- und Militärbündnisse wie EU und Nato gibt es auf russischer Seite nicht.

Moskau ist auf sich allein gestellt und sieht sich einer Front von feindlich gesonnenen hochgerüsteten Staaten an seinen Grenzen gegenüber. Sein Ansinnen: keine weitere Ausdehnung der Nato in Richtung Ukraine und anderer ehemaliger Sowjetrepubliken. Verhandelt werden sollte darüber hinaus über einen Rückzug des Militärbündnisses aus den seit 1999 hinzugekommenen östlichen Mitgliedsstaaten.

Wenn die jeweiligen Ansprüche an "Sicherheit" zwischen Staaten nicht erfüllt werden, diese sich nicht auf einen Status der jeweils wechselseitig zugestandenen Rüstung einigen können, droht eine kriegerische Entscheidung, wessen "Sicherheit" in Zukunft Vorrang hat oder zumindest von der Gegenseite respektiert werden muss.

Da die Verhandlungen über die Wünsche Russlands nach "Sicherheitsgarantien" nie zustande kamen, weil sie der Westen von Beginn an kategorisch ablehnte, blieben Moskau nur zwei Möglichkeiten: Klein beigeben und der Nato auch die Ukraine überlassen – oder mit Gewalt dem einen Riegel vorzuschieben. Wie bekannt, entschied man sich für Letzteres.

"Sicherheit" Marke Moskau: keine Aufrüstung der Ukraine

Wohlgemerkt, damit wird nicht der Angriffskrieg Russlands verkannt. Wenn ein Staat, noch dazu eine atomare Weltmacht, so militärisch in die Enge gedrängt wird, wie es der Westen Richtung Moskau seit gut zwei Jahrzehnten praktiziert und dies nun mit der Ukraine verstärken möchte, bleiben zwei Alternativen übrig: Auch noch dies zuzulassen oder es zu unterbinden.

Aus russischer Sicht ist die staatliche "Sicherheit" mit der Aufrüstung der Ukraine essenziell gefährdet. Also entschied man sich für das Unterbinden. Dass sich die Nato darüber keine Illusionen gemacht hat, dürfte angesichts der dortigen strategischen Profis anzunehmen sein.

Im ersten, unwahrscheinlichen Fall hätte man die eigene Rüstung entlang der ukrainischen Grenze mit Moskau in Reichweite platzieren können. Im anderen, eingetretenen Fall zahlt der Angreifer einen hohen Preis. Und die Angegriffenen umso mehr – die Ukraine wird verwüstet, Menschen sterben, erleiden schlimme Verluste, fliehen aus ihrer Heimat.

Es fällt angesichts dessen schwer, die Lage nüchtern zu beschreiben. Aber es hilft nichts. Hier prallen die gegensätzlichen Interessen von zwei Weltmächten aufeinander, USA und Russland. Beide "verteidigen" ihren jeweiligen unversöhnlichen Standpunkt gegen den anderen. Beide gehen mit Waffen vor, um sich durchzusetzen. Eine zwischen Staaten leider übliche Vorgehensweise, wenn die Diplomatie "versagt" – also wenn die Drohung mit gewaltigen Nachteilen oder mit Gewalt nicht verfängt.

Propaganda hüben wie drüben – für "gerechte" Gewalt

Jetzt "sprechen" die Waffen, und wie in jedem Krieg zählt der beteiligte Staat, zu dessen Volk man gezählt wird, zu den "Guten". Die Hetze gegen den ausgemachten Feind, den "Bösen", kennt keine Grenzen – wohlgemerkt, in beiden Lagern. So wird den Bürgern "erklärt", dass das Vorgehen des eigenen Staates über alle Zweifel erhaben ist, ja sogar unbedingt nötig.

Politik und die Leitmedien von ARD, ZDF, Süddeutsche, FAZ, Spiegel bis hin zur Bild befeuern ihre Kampagne für vermeintlich gerechte Gegengewalt täglich auf allen Kanälen; ebenso, spiegelbildlich, rechtfertigen die russischen Politiker und Medien den Einmarsch ihrer Einheiten in den nationalen Zeitungen und Rundfunkanstalten.

Das Ziel scheint – bei aller Unterschiede der Medienlandschaften – das gleiche: Das Volk hinter die Regierung zu versammeln, auf dass jeder Bürger das kriegerische Vorgehen mit bestem Gewissen unterstützt. Was mit einigem Leid verbunden ist und im schlimmsten Fall unter Verlust des Lebens stattfindet – des eigenen und das der Untertanen des zu hassenden feindlichen Staates.

Ein sehr hoher Preis, den Staaten von ihren Bürgern fordern. Und wofür? Normalerweise damit der eigene Staat sich gegen seinesgleichen auf der Welt durchsetzen kann – für schlicht mehr erfolgreiches Geschäft und den hierfür nötigen machtvollen Einfluss. Im Fall Ukraine geht es um Grundsätzlicheres: die Existenz einer Weltmacht. Was den Konflikt umso gefährlicher macht.