Wer ist eigentlich "die Mitte"?
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Neusprech oder nicht? CDU/CSU und FDP im Kontext von Steuerpolitik und Großspenden
Unter den politischen Parteien scheint es fast alle in die Mitte zu drängen: Mit dem wohl schon vergessenen Schröder-Blair-Papier wollten die führenden Sozialdemokraten Europas anno 1999 eine neue Ära beginnen. Das Schlagwort "Neue Mitte" sollte für einen Schlussstrich unter den Thatcherismus oder die Ära Helmut Kohls stehen.
Traditionell machen CDU und CSU Wahlkampf mit dem Slogan, "die Mitte" zu sein. Erst während der konstituierenden Sitzung des 20. Bundestags, also am 26. Oktober, erklärte Fraktionschef Ralph Brinkhaus, die Unionsfraktion bleibe dort, wo sie sei, nämlich "in der Mitte der Gesellschaft". Dabei grenzte er sich ausdrücklich von AfD und den Linken ab.
Die im Widerstand gegen Merkels Flüchtlingspolitik laut gewordene Pegida-Protestbewegung skandierte, "Wir sind das Volk!" Damit wird für sich beansprucht, die Mehrheit und damit auch in einem gewissen Sinne die Mitte der Gesellschaft zu repräsentieren.
Die ihr inhaltlich nahestehende AfD sieht sich meines Wissens zwar nicht als Mitte. (Angesichts der Wahlergebnisse in manchen neuen Bundesländern könnte sie es wohl.) Doch sie will gerne eine "bürgerlichen Partei" sein.
Im Wahlkampf, während der Sondierungen und jetzt den Koalitionsverhandlungen wurde es aber vor allem FDP-Chef Christian Lindner nicht müde, seine Partei als die Mitte der Gesellschaft darzustellen. Das meint man sogar räumlich: Die Liberalen wollen im neuen Bundestag nicht länger neben der AfD sitzen und mit der CDU/CSU tauschen, um in der Mitte des Parlaments zu sitzen. Darüber diskutiert nun der Ältestenrat.
Macht von Sprache
In der Diskussion um sogenannte gendergerechte Sprache wird behauptet, sprachliche Muster würden das Denken und schließlich auch Entscheiden der Menschen prägen. Sprachliche Gewohnheiten wie die Rede von "der Sekretärin" und "dem Chef" würden demnach ans Geschlecht gekoppelte hierarchische Strukturen in der Gesellschaft verfestigen (Gendersternchen: Gerechte Sprache, gerechte Welt?).
Was macht es aber wohl mit den Wählerinnen und Wählern, wenn bestimmte Parteien sich als "die Mitte" darstellen und die anderen als extreme Alternativen? Je näher der Wahlsonntag im September 2021 rückte, desto vehementer schienen FDP und Unionsparteien die Gesellschaft vor einem Linksruck zu warnen.
Dabei hat das Schüren der Angst vor "den Roten" eine lange Tradition: Schon Ende des 19. Jahrhunderts bekämpfte man so in den USA die Anarchisten und erließ man in Deutschland die Sozialistengesetze. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung "überschwemmte" man dann nach dem Ersten Weltkrieg den öffentlichen Raum mit der "Furcht vor der 'Roten Flut'".
Tatsächlich zettelten aber weder Sozialisten noch Kommunisten zwei Weltkriege an. Das taten erst die Kaiserlichen, gefolgt von den Braunen. Rot floss vor allem das Blut ihrer Opfer, als sie gleich noch den größten Völkermord des 20. Jahrhunderts organisierten. (Womit nicht geleugnet wird, dass auch - zumindest dem Namen nach - kommunistische Regimes mordeten und Zwangslager errichteten.)
Dennoch schien den Westmächten schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die "rote Bedrohung" so groß, dass man lieber mit ehemaligen Nationalsozialisten zusammenarbeitete. Man kam in die McCarthy-Ära mit Denunzierungen (angeblicher oder tatsächlicher) Kommunisten.
In Ländern, die sich diesem Freund-Feind-Schema widersetzten, forcierte man einen Regimewechsel. Zur Not unterstützte oder führte man auch Krieg (z.B. Korea, Vietnam, Afghanistan).
Die politische Führung in Deutschland verständigten sich Anfang 1972 auf den sogenannten Radikalenerlass. Dieser sollte Verfassungsfeinde aus dem öffentlichen Dienst halten - und richtete sich in der Praxis, wer hätte das gedacht, vor allem gegen "die Roten".
Im Wahlkampf
Nun herrschten im bundesdeutschen Wahlkampf 2021 zwar keine Kriegszustände. Man kämpft aber mitunter mit harten Bandagen. Noch in der konstituierenden Sitzung des 20. Bundestags am 26. Oktober kritisierte beispielsweise der AfD-Redner Bernd Bauman die Entscheidung für Wolfgang Schäuble als Alterspräsidenten (hier auf YouTube, ab ca. 31 Minuten).
Dabei zog er einen Vergleich zwischen der Entscheidung der anderen heutigen Parteien und einer Praxis des damaligen Reichstagspräsidenten und Nazis Hermann Göring im Jahr 1933. Für Die Linke wetterte später Jan Korte gegen die AfD und stellte sie in die Tradition der Nationalsozialisten (hier auf YouTube, ab ca. 1:38 Stunden). Dies wiederum rügte Schäuble als "unparlamentarisch".
In der politischen Auseinandersetzung fassen Gerichte die Grenzen der freien Meinungsäußerung regelmäßig sehr weit. Insbesondere müssen auch diejenigen, die hart gegen andere austeilen, sich selbst mehr gefallen lassen.
Inwieweit nun das Schüren vor der Angst vor einem Linksrutsch im Jahr 2021 wahlentscheidend war, bleibt Spekulation. Man kann allerdings die Identifikation der Parteien - hier insbesondere von CDU/CSU und FDP - mit "der Mitte" auf den Prüfstand stellen.
Übrigens kann es einen wundern, dass es bei all dem Kampf um "die Mitte" noch keine Partei mit diesem Namen gibt. (Nun ja, mit Ausnahme der Schweiz,) Dieser wäre der Platz in der Mitte des Plenarsaals wohl garantiert.
Sicher wissen wir zudem seit dem Wahlabend, dass der angebliche Linksruck verhindert werden konnte. Zwar fuhren auch die Unionsparteien ihr historisch schlechtestes Ergebnis ein. Doch Die Linke schaffte es überhaupt nur dank einer Ausnahmeregelung über die Direktmandate noch in den 20. Bundestag (Nato: Der Weltfrieden ist ein nobles Ziel).
Trotzdem verpasste eine mögliche rot-grün-rote Koalition die Parlamentsmehrheit. Und auch wenn SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz nicht realistischerweise an eine gemeinsame Bundesregierung mit der Linkspartei gedacht haben mag, verlor er so an Verhandlungsmacht.
Zudem wollten diese drei Parteien größere Einkommen stärker belasten. Unionsparteien und FDP machten demgegenüber klar, dass es mit ihnen keine höheren Steuern geben würde. Betrachten wir also die Steuervorstellungen der angeblichen "Mitte" und werfen wir danach noch einen überraschenden Blick auf große Parteispenden.
Finanz- und Steuerpolitik
Wenn Wahlen anstehen, bietet es sich an, mit Änderungsversprechen um Stimmen zu werben. Dabei sind die (alten) Regierungsparteien in der paradoxen Situation, Verbesserungen anzukündigen, die sie selbst jahrelang verhindert haben. Dies sah man dieses Jahr vor allem beim Thema "erneuerbare Energien". In einer Koalition kann man aber immer noch dem Partner die Schuld zuschieben.
Den Parteien der zurzeit laufenden Ampel-Koalitionsverhandlungen ist gemein, die Innovation, die Neuerung, bis hin zu einem neuen Politikstil zu versprechen. Das wirft natürlich auch die Frage nach der Finanzierung der neuen Ideen auf.
Vor den Wahlen hat das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) die Auswirkungen der Steuerpläne auf den Bundeshaushalt ausgerechnet. Da waren die Parteien aber auch noch nicht in der Verlegenheit, ihre Gedanken in die Praxis umsetzen zu müssen. Im Ergebnis gab es einen deutlichen Unterschied zwischen FDP, AfD und Unionsparteien auf der einen und der SPD, den Grünen und den Linken auf der anderen Seite:
Das hängt stark mit der Entlastung beziehungsweise Belastung bestimmter Einkommensgruppen ab. Deshalb verglich das ZEW zwei Szenarien: Im ersten werden die Auswirkungen der Steuerpläne je Partei auf eine alleinstehende Person mit einem eher durchschnittlichen Bruttojahreseinkommen in Höhe von 40.000 Euro verglichen:
Am auffälligsten ist nach dieser Berechnung, dass sich mit den Plänen der AfD für die "kleinen Leute" gar nichts verbessern würde. Dabei versteht sich diese Partei gerne als Vertreter derjenigen, die sich vom abgehobenen Berlin vergessen fühlen. Zum Vergleich nun die Auswirkungen für einen alleinstehenden Großverdiener mit einem Bruttojahreseinkommen in Höhe von 300.000 Euro:
Demnach wären FDP und CDU/CSU keine spezifischen Parteien der "Mitte", sondern allgemeiner Steuersenkungsparteien. Diejenigen mit außergewöhnlich hohen Einkommen würden von den Plänen sehr viel stärker profitieren.
Bei der Linken würde jemand mit Durchschnittseinkommen stark profitieren, bei SPD und Grünen leicht. Da diese drei Parteien umgekehrt die Großverdiener belasten würden, passt am spezifischsten zur "Mitte".
"Steuerentlastungen für alle" mag ein guter Werbeslogan sein, weil man damit niemandem auf die Füße tritt. Wenn die dadurch entstehenden Haushaltslöcher aber mit Einsparungen im öffentlichen Bereich einhergingen, beispielsweise bei Infrastruktur, Bildung und Gesundheit, würden hier ärmere Menschen und auch noch diejenigen mit einem Durchschnittseinkommen unterm Strich benachteiligt:
Wer es sich leisten kann, der bezahlt dann eben Maut für die Privatstraße, Gebühren für die Privatschule und Kosten für die private Krankenversicherung. Der Großteil der Gesellschaft müsste dann aber mit chronisch unterfinanzierten Institutionen vorliebnehmen. Kommt das jemandem bekannt vor? Nach einer Politik für "die Mitte" klingt das eher nicht.