Wer ist schuld? Ein Schwede rekonstruiert mit eigener Expedition Nord-Stream-Sabotage
Erik Andersson ging der Sache auf den Grund, wie The Intercept berichtet. Mit einer Unterwasser-Drohne erkundete er den Pipeline-Tatort. Was er herausfand, stellt einiges infrage.
Das Online-Medium in den USA The Intercept in Kooperation mit der Wochenzeitung Die Zeit und der ARD berichtete gestern über die Ermittlungen des 62-jährigen schwedischen Ingenieurs und Ex-Unternehmers Erik Andersson zu einem der bedeutendsten internationalen Verbrechen der jüngeren Geschichte: die Bombardierung der Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee in der Nähe der Insel Bornholm.
Die Pipelines verbinden Russland mit dem deutschen Festland. Durch sie flossen große Mengen an Erdgas und versorgten Deutschland und andere EU-Staaten mit dem fossilen Brennstoff. Am 26. September 2022 explodierten Sprengsätze an den Röhren von Nord-Stream 1 und 2.
Große Mengen an Erdgas und Methan wurden dabei freigesetzt und lösten auch eine ökologische Katastrophe aus. Seitdem sind die beschädigten Röhren nicht mehr funktionsfähig. Schon vor dem Sabotageakt wurde die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 aufgrund der gegen Russland verhängten Sanktionen im Zuge des Ukraine-Kriegs ausgesetzt.
Bis heute ist trotz staatlicher Untersuchungen von Schweden, Dänemark und Deutschland unklar, wer hinter dem Anschlag steckt.
Das ärgert den Schweden Erik Andersson bis heute. Schon früh nach dem Anschlag wollte er mehr über den Sabotageakt erfahren. Doch in den Medien, von den politisch Verantwortlichen, kam nichts.
Das Schweigen habe ihn misstrauisch werden lassen. "Die Mächtigen halten häufig Dinge verborgen, oft kommt die Wahrheit erst durch private Untersuchungen ans Licht", sagt er der Zeit.
Also forschte er im Internet, tauscht sich mit Experten wie Seismologen und Tauchern aus. Und schließlich organisierte er eine Expedition an den Tatort. 10.000 Dollar für das angeheuerte Schiff, noch mal so viel für eine Unterwasserdrohne zur Erkundung der zerstörten Röhren in 80 Meter Tiefe.
Andersson hatte bei Volvo und für Boeing als eigener Unternehmer gearbeitet. Seine Firma verkaufte er mit 56 Jahren für 100 Millionen Dollar. Sein Motiv für die Expedition: Die Beschuldigung von Russland überzeugte ihn nicht. Festlegungen ohne Belege liegen ihm nicht, sagt er.
Als der Journalist Seymour Hersh seine bahnbrechende Geschichte veröffentlichte, in der er behauptete, dass Präsident Joe Biden persönlich die Zerstörung der Pipelines angeordnet hatte, wurde er leidenschaftlich gepackt, dem Geheimnis selbst auf die Spur zu gehen, inklusive Expedition zum Ort der Bombardierung. Er wollte zeigen, dass Hersh richtig liegt.
Aber es kam etwas anders.
Aber bevor wir dazu kommen, noch kurz zur Person Andersson. Er sei einerseits jemand, so The Intercept, der intensiv Hypothesen mit einem scharfen analytischen und wissenschaftlichen Verstand prüfe, dabei alle Möglichkeiten ausschöpfe, um die Annahmen derart zu belegen oder zu falsifizieren. Er gebe auch bereitwillig zu, wenn er sich geirrt habe.
Gleichzeitig ist er von Trump und Teilen seiner Politik fasziniert, verunglimpft Klimaschützer:innen und verbreitet zweifelhafte Theorien über Covid und China.
Jeremy Scahill von The Intercept schreibt:
Vielleicht war es seine Faszination für solche Gegenerzählungen, die ihn dazu brachte, so fest an Hershs Darstellung des Nord Stream-Bombenanschlags zu glauben. Doch anders als viele Social-Media-Krieger änderte er seine Position, als er mit empirischen Beweisen konfrontiert wurde, die seine Hypothese widerlegten.
Für drei Tage untersuchte der aus Göteborg stammende Andersson den Tatort in der Ostsee mit der Drohne. Er filmte dabei die Umgebung rund um die gesprengten Röhren. Daraus ergeben sich interessante, von jetzigen Annahmen abweichende Schlussfolgerungen.
Die 50-Kilo-Sprengstoff-Frage
So wird bisher angenommen, dass der Sprengsatz 500 bis 900 Kilogramm schwer gewesen sein muss und eine "militärische Dimension" besessen habe. Das geht auf Kalkulationen zurück, die sich vor allem auf die seismisch messbare Detonation stützen.
Doch Anderssons Bilder und Video-Footage von den beschädigten Stellen an den Röhren und anschließender Berechnungen lassen den Schluss zu, dass die Gasexplosion tatsächlich viel größer war als die Explosion der Bomben selbst. Andersson geht daher von 50 Kilogramm pro Tatort aus, die gereicht hätten, um die Röhren zu beschädigen.
Das wurde von einem ehemaligen Experten der U.S. Navy nach Vorlage des Footage bestätigt. Dieser spricht aufgrund des enormen Gasdrucks sogar von zehn Kilogramm, die ausgereicht haben könnten.
Die Sprengstoffplatten seien zudem unprofessionell angebracht worden, betont Andersson aufgrund der Vor-Ort-Bilder. Sie seien oberflächlich in ein wenig Schlamm neben der Pipeline eingegraben worden.
Ich glaube, es handelt sich um einen Taucher, der es eilig hatte, der vielleicht ohne die Möglichkeit einer Dekompression an der Oberfläche tauchen musste und daher nur zehn bis 15 Minuten auf dem Grund verbringen konnte.
Die Frage der Sprengstoffmenge spielt eine entscheidende Rolle bei der Frage, ob das 15 Meter lange Segelboot Andromeda, von dem deutsche Ermittler annehmen, dass es die Taucher zum Tatort brachte, überhaupt für den Anschlag geeignet war. Bei einer halben Tonne Sprengstoff bzw. einer Dekompressionskammer an Bord wird das von Sachkundigen für kaum möglich gehalten.
Zudem folgert Andersson aus dem Material der Expedition, dass nur eine Bombe pro Röhre vorgesehen war, also zusammen genommen vier. Hersh vermutet hingegen, dass es zwei pro Röhre, also insgesamt acht, gewesen sein müssen.
Auch dafür, dass die zweite Röhre von Nord Stream 2 unbeschädigt blieb, hat Andersson eine Erklärung. Darauf verweisen oft jene, die Russland für die Sabotage verantwortlich machen. Moskau habe sich damit die Option offen gelassen, später weiter Gas zu liefern.
Doch Andersson hat eine andere Begründung. Denn er musste feststellen, dass der Drohnen-Kompass an den Röhren aufgrund magnetischer Anomalien verrücktspielte. Ein Kompass-Ausfall bei den Tauchern könnte sie also irritiert haben, sodass sie die gleiche Röhre von Nord Stream 2 zweimal sprengten.
Andersson hat das Geheimnis von Nord Stream mit seiner Expedition und seinen Nachforschungen zwar nicht lüften können, was auch niemals seine Erwartung gewesen sei. Aber er habe, so Scahill auf The Intercept, zusätzlich Anhaltspunkte hinsichtlich der Sabotage beitragen können. Andersson wünsche sich jetzt, dass Experten seine Ergebnisse einbeziehen.
Was die Schuldigen angeht, ist er nicht festgelegt. Es sei seiner Meinung nach letztlich nicht so entscheidend, wer die Aktion konkret durchgeführt habe – die Hersh-Story und die Segelboot-Geschichte seien hinsichtlich der Platzierung der Bomben und ihrer Größe auch ziemlich ähnlich.
Wichtiger seien die geopolitischen Beteiligungen im Hintergrund.
Andersson bezweifelt zwar inzwischen den Wahrheitsgehalt vieler Details in Hershs Bericht über die Nord-Stream-Bombenanschläge, ist aber noch nicht bereit, die Biden-Regierung zu entlasten. Gegenüber The Intercept sagte Andersson:
Selbst wenn die Ukraine die Operation geplant und durchgeführt hat, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die USA auf eine Weise daran beteiligt waren, die sie verantwortlich machen. … Zumindest muss sich die Ukraine sicher gewesen sein, dass die USA eine erfolgreiche Sabotage von Nord Stream begrüßen würden. Und genau das ist passiert. Antony Blinken sagte, es sei eine "großartige Chance", und Victoria Nuland jubelte, dass die Röhren zerstört worden seien. Wenn die Ukraine es also getan haben sollte, dann hat sie es für das ganze Team getan. Wenn sie dabei ihren Teamleiter, die USA, nicht über alle Details informierte, dann deshalb, weil das von ihr erwartet wurde.
In diese Richtung gehen auch jüngste Presse-Enthüllungen, die nach Andersson Expedition Schlagzeilen machten. So berichtete die Washington Post, dass die CIA drei Monate vor dem Sabotageakt von der Anschlagsplanung des ukrainischen Militärs mit sechs Tauchern gewusst haben soll. Alle Beteiligten hätten direkt an den ranghöchsten ukrainischen General Walerij Saluschnyj berichtet, während Präsident Selenskyj nicht informiert worden sei.
Die Zeit berichtete zudem, dass der CIA die Ukraine davor warnte, den Anschlag auszuführen.