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Wer soll denn nun Finanzminister werden?

Martin H. Strobel

Bild Christian Lindner: Sandro Halank / CC-BY-SA-4.0 / Grafik: TP

Sollten neoliberale Erzählungen politisch verfangen, sähe es für die Eurozone schlecht aus. Selbst ein Nobelpreisträger warnt jetzt vor Christian Lindner und der FDP

Selten war ein Inflationsschub so deutlich spürbar wie jetzt. Wir waren nun auch eine sehr lange Zeit verschont geblieben und an eher stabile Preise gewöhnt. Die Inflationsrate in Deutschland liegt bei 4,5 Prozent und im Rest der Eurozone meist deutlich niedriger.

Bei uns beruht ein Teil der Rate auf der Bemessung am Vorjahr, als die Umsatzsteuer gesenkt war. Hinzu kommen Effekte aufgrund der wirtschaftlichen Erholung, von der wir ansonsten vor allem mit dem Abbau der durch Corona bedingten Arbeitslosigkeit profitieren.

Bei Guthabenzinsen von Null oder gar einem negativen Zins wird auch unser Erspartes entwertet. Und die Menschen, die am ärgsten betroffen sind, werden mit der Erhöhung des ALG-II-Regelsatzes ab Jahreswechsel um ganze drei Euro, also fernab der Inflationsrate, voraussichtlich zusätzlich verhöhnt werden.

Dies alles geschieht vor dem Hintergrund der Diskussion über die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik der neuen deutschen Regierung, die sich mit der Besetzung des Postens des Finanzministers allgemein sichtbar entscheiden wird.

Jetzt wird vor einer Forderung nach höheren Löhnen durch maßlose Gewerkschaften gewarnt, um vorgeblich eine Lohn-Preis-Spirale zu verhindern. Die Ursache der Inflation sei eine ultra- lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), die massenhaft Geld in die Märkte pumpe.

Das ist zwar falsch, aber ökonomistisch verpackte Propaganda maskiert sich derart pseudo- fachmännisch, dass viele die manipulative Absicht hinter hohlen Argumenten nicht erkennen. Der deutsche Inflationsschub, der wegen der aufgestauten Nachfrage ja erwartbar war, kommt rechten Ideologen wie gerufen.

Ein entsprechender Artikel [1] findet sich auch auf Telepolis. Hier tritt als Kronzeuge ausgerechnet ein ökonomischer Außenseiter und sozialdarwinistischer Radikaler auf, der sich zum Anarchokapitalismus bekennt, und sonst auf dem Blog eigentümlich frei und in der rechten Jungen Freiheit publiziert: der Chefvolkswirt der "Degussa Sonne/Mond Goldhandel GmbH", die als Finanzier hinter dem Aufstieg der AfD verdächtigt wird [2].

Alle Kritik an der Geldpolitik der EZB ignoriert die technischen Erfordernisse der Kreditgeldschöpfung. Besonders augenscheinlich wird dies in einem Urteil des Bundesgerichtshofes [3], das leider als ethisch verwerflich bezeichnet werden muss.

Jeder muss sich darüber im Klaren sein, dass Arbeitslosigkeit und vermeidbare Not in vielen Peripherieländern der Eurozone verursacht werden, falls, wie es dieses Urteil ermöglichen soll, der Bundestag der EZB Staatsanleihenkäufe verwehrt. Daraus würde Deutschland, dem stattdessen jederzeit ein allerdings verlustreicher Ausstieg aus dem Euro freistünde, neben einer gelungenen Prinzipienreiterei im übrigem nicht den geringsten Vorteil ziehen.

Und Bundestagsabgeordnete sind wohl kaum befähigt, besser über europäische Geldpolitik Bescheid zu wissen als vollkommen informierte Volkswirte der EZB, deren Unabhängigkeit Deutschland mit einem Skandalurteil angreift, das von Euro-Feinden erstritten wurde.

Die EZB wird wohl weiter an der Niedrigzinspolitik festhalten

In der Eurozone wird viel gespart, und per Saldo sind sowohl Privathaushalte wie Unternehmen Sparer, keine Schuldner. Die Staaten sind noch aufgrund von früheren Bankenrettungen und aktuell der Corona-Krise so hoch verschuldet, dass sie nicht weitere Schulden aufnehmen können, was außerdem gründlich gegen die Maastricht-Kriterien verstieße. Da alles Geld aus Krediten geschöpft wird [4], entsteht damit eine Zwickmühle für die EZB, die für die Versorgung der Bürger mit Geld zuständig ist.

Lange genügte allein die Kreditgewährung der Geschäftsbanken bei wachsender Wirtschaft, um auch das notwendige Wachstum der Geldmenge zu gewährleisten. Die EZB musste aber schließlich dazu übergehen, Staatsanleihen und Unternehmensanleihen zu kaufen, so wie einst auch die Bundesbank in der Wirtschaftskrise von 1967.

Weil die Eurozone aus neunzehn Ländern besteht und Deutschland mit seinen Exportüberschüssen, für die die EU-Kommission im übrigen bereits vereinbarungsgemäß Strafzahlungen von Deutschland verlangen könnte, den Außenwert des Euro in eine Höhe treibt, die zwar für Deutschland unterbewertet ist, für die übrigen Euroländer, die ihre Waren exportieren wollen, aber viel zu hoch liegt, dürfte die EZB deutschen Wünschen nach einer Zinserhöhung nicht so bald nachkommen.

So wird langsam ein Ausgleich geschaffen zwischen den Partnerländern. Ein entsprechender Ausgleich wurde zuvor sonst stets als "interne Abwertung", also Deflation, von den übrigen Ländern verlangt, denen eine Politik auferlegt wurde, deren fatale Folgen sowohl die EZB, wie der Internationale Währungsfonds IWF und die EU-Kommission, also die "Griechenland-Troika", grob unterschätzten.

Für viele wohl überraschend äußerte sich mittlerweile sogar Prof. Hans Werner Sinn [5], der die Troika-Politik mitverantwortet, dahingehend, dass statt "interner Abwertung" eine Angleichung mittels Inflation in Deutschland in Betracht gezogen werden muss.

Insofern hilft die EZB-Geldpolitik mit Staatsanleihenkäufen auch Deutschland, die Kosten dieser Anpassung gering zu halten. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass es zu einer länger anhaltenden Inflation, noch gar zu einer Stagflation in Deutschland kommt - so: keep calm and carry on!

Die Situation, an deren Entstehen gerade die rigide deutsche Austeritätspolitik maßgeblich mitwirkte, zeitigt weitere unangenehme Nebeneffekte. Bei Nullzins oder gar negativem Guthabenzins flüchten Geldbesitzer in Aktien, Gold, Immobilien, und die Börse boomt.

Der Boom ist ein Krisensymptom. Wenn Unternehmen ihre Gewinne nicht länger gewinnbringend im eigenem Geschäft (re-)investieren können, parken sie Geld an der Börse. Sind diese Unternehmen Aktiengesellschaften, kaufen sie eigene Aktien auf, um deren Kurs zu pushen und schaffen sich damit selbst eine zusätzliche Kreditsicherheit und Bonität, die reichlich dubios ist.

Die Gewinnmöglichkeiten an der Börse konkurrieren schließlich "erfolgreich" mit den eher mageren Kapitalrenditen der Realwirtschaft, die dadurch weiter erodiert.

Der neue Block der Besserverdienenden

Der Moloch wird jetzt zusätzlich vom Steuerzahler mit frischen Opfern gefüttert, und das bekannte Problem der Finanzialisierung der Wirtschaft verstärkt werden. Dabei ähneln die Kurs-Gewinn-Verhältnisse und insbesondere das Shiller-KGV bereits denen kurz vorm Platzen der Internetblase im Jahr 2000.

Für die Aktienrente sollen zehn Milliarden Euro an der Börse geparkt [6] und damit dem Geldkreislauf entzogen werden. Zum Zeitpunkt, da dieses Geld zurückgeholt werden soll, wird ein Betrag X dann abermals (!) dem Geldkreislauf entzogen, dessen Höhe davon abhängig ist, ob der Aktienkurs zwischenzeitlich gesunken oder gestiegen ist.

Zum Betrag X wäre als ein Gewinn immer lediglich ein etwaiger Zufluss aus dem Ausland zu addieren, falls Ausländer Aktien kaufen - tatsächlich besteht aber tendenziell ein Nettoabfluss [7]. In der Zwischenzeit fehlen unserer Volkswirtschaft zehn Milliarden Euro, die ihr wachsendes Einkommen brächten, das so verloren geht.

Die Aktienrente ist eben nichts weiter ein indirektes Umlageverfahren, das teurer ist als das etablierte Verfahren, weil sie dem Geldkreislauf der Volkswirtschaft und damit dem jeweiligem Volkseinkommen Mittel gleich zweimal entzieht und darüber hinaus das Wachstum beeinträchtigt. Volkswirtschaften sind im Gegensatz zu Individuen schlicht nicht in Lage, im Inland Ersparnisse zu bilden.

Mit diesem Unfug haben sich FDP und Grüne bereits gegenüber der SPD durchgesetzt. Nach der Wahl sprachen beide Parteien nicht erst mit dem Wahlsieger oder der Union. Christian Lindner lud die Grünen zu Gesprächen, bei denen die beiden Besserverdienenden-Parteien einen Block für die kommenden Verhandlungen mit der SPD bildeten - ein offener Affront der grünen Parteispitze gegenüber der SPD.

Kleinigkeiten wie ein Tempolimit auf Autobahnen störten nur und wurden geknickt. Das so genannte Zugeständnis eines Mindeststundenlohns von zwölf Euro durch die FDP ist keines, denn die EU-Kommission strebt eine verbindliche Regelung an, die den Mindestlohn auf 60 Prozent des Medianlohns der jeweiligen Länder festschreibt - das entspricht in etwa jenen zwölf Euro.

Zur Durchsetzung der Aktienrente brauchte es nicht einmal den ehemaligen Blackrock-Lobbyisten Friedrich Merz, das schafften Lindner, Habeck und Baerbock im Alleingang. Blackrock und andere Aktionäre profitieren nun erst einmal bis zur nächsten periodischen Wertkorrektur am Aktienmarkt durch staatlich alimentierte Aktienkurse.

Mit der Aktienrente begibt sich der Staat freiwillig in eine Geiselnahme. Er dürfte künftig nicht nur Banken retten, sondern voraussichtlich auch Börsenkurse stützen. Und dies alles geschieht auf Betreiben von Neoliberalen, die sonst gern etwas von "Zombie-Unternehmen" unken...

Die Glaubwürdigkeit der Grünen ist ramponiert, und der vernünftige Teil der Jugend, der wohl eher nicht FDP wählte, geht freitags wieder auf die Straße.

Die neue rot-grün-gelbe Regierung, so sie denn gebildet wird, wird in einer Zeit regieren, in der vieles zu meistern ist. Zum einen müssen Weichen gestellt werden, um die irreversible Klimakatastrophe abzumildern, was nur in der Gemeinsamkeit der Nationen geschafft werden kann, zum Anderem muss ein Auseinanderbrechen der EU vermieden werden, die durch deutsche Wirtschaftspolitik gefährdet ist, ohne dass diese Gefahr im deutschen Bewusstsein überhaupt angekommen ist.

Von außerhalb scheint die Gefahr klarer erkennbar. So wird eine Intervention eines Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaft verständlich, der auch zeitweise Chefökonom der Weltbank war. Der US-Amerikaner Joseph Stiglitz veröffentlichte gemeinsam mit dem britischem Volkswirt Adam Tooze einen Artikel [8] in der Wochenzeitung Die Zeit, mit dem sie davor warnen, Christian Lindner das Finanzministerium anzuvertrauen.

Sie sprechen sich gegen die klischeehafte neoliberale Politik aus, die noch in den Neunzigern verharre und blind für die veränderte ökonomische Entwicklung in der Eurozone sei. Lindner verfolge obsolete ökonomische Ansätze, die Deutschland schaden und die EU gefährden:

Diese Art Crashtest kann sich weder Deutschland noch Europa erlauben.

Joseph E. Stiglitz und Adam Tooze

Christian Lindner wird in das Amt eines neu zu bestallenden Bundesministers für Digitalisierung und Modernisierung weggelobt. Wie auch seiner Partei wird ihm jegliche ökonomische Kompetenz abgesprochen.

Die Autoren lehren an der Columbia University in New York, Adam Tooze arbeitet auch zur deutschen Wirtschaftsgeschichte, beide sind glaubwürdig. Der Artikel enthält zudem einiges Lob für den derzeitigen Finanzminister, den Juristen Olaf Scholz.

Die SPD könnte gemeinsam mit den Grünen versuchen eine Minderheitsregierung zu bilden

Es ist in Deutschland heute fast Usus, dass Finanzminister Juristen sind und keine Volkswirte. Früher war das einmal anders. Unter Bundeskanzler Willy Brandt war der Professor der Volkswirtschaftslehre Karl Schiller [9] Wirtschafts- und Finanzminister.

Auf Schiller folgte der Volkswirt Helmut Schmidt, der selber später Bundeskanzler wurde und den Volkswirt Hans Apel mit dem Amt betraute. Auch dessen Nachfolger Manfred Lahnstein und später Hans Matthöfer waren studierte Volkswirte.

Heute gilt es gleich zwei entscheidende Ämter zu besetzen, das des Bundesbankpräsidenten und das des Finanzministers. Sollte die SPD keinen Kandidaten in den Koalitionsverhandlungen durchsetzen können, der für eine Fortführung der Finanzpolitik von Olaf Scholz steht, könnte sie gemeinsam mit den Grünen versuchen eine Minderheitsregierung zu bilden [10] und Olaf Scholz notfalls erst im dritten Wahlgang zum Kanzler wählen zu lassen.

Die Kandidaten müssen keine Politiker sein. Damit würde sich die SPD in eine Tradition stellen, die auf Willy Brandt zurückgreift. Als Finanzminister kommt Prof. Marcel Fratzscher in Betracht und als Bundesbankpräsidentin vielleicht Prof. Isabel Schnabel, sofern beide sich denn zur Verfügung stellten. Eine professorale Besetzung des Ministerposten ließe Christian Lindner das Gesicht bewahren und würde den Streit um das Amt zwischen Robert Habeck und ihm zufriedenstellend beenden.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Das-Gespenst-der-Stagflation-ist-zurueck-6233337.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/AfD-Die-Masken-fallen-3830717.html?seite=all
[3] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-032.html;jsessionid=4C7170E36D50E20F88167242BC7E9221.2_cid386
[4] https://www.bundesbank.de/de/publikationen/berichte/monatsberichte/monatsbericht-april-2017-665284
[5] https://www.youtube.com/watch?v=L-dCADYr2AM
[6] https://www.heise.de/tp/features/Ampel-Sondierer-stellen-die-Aktienrente-auf-gruen-6227210.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Wahlkampf-mit-Defiziten-6206712.html
[8] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-10/christian-lindner-finance-minister-traffic-light-coalition-koalition-critics-englisch
[9] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftswissen/karl-schiller-der-erste-superminister-1624190.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/Bitte-keine-Ampel-6220900.html