Wer tötete Ahmad Schah Massoud?

Ahmad Shah Massoud (2001). Bild: warmfoundation.org

Afghanistan jenseits von 9/11

Zwei Tage vor dem 11. September, am 9.9.2001, starb der aussichtsreichste Kandidat auf das Präsidentenamt in einem geeinten Afghanistan, Ahmad Schah Massoud, der Löwe des Pandschschir, Führer der Nordallianz. Fatal, wie die falschen Reaktionen auf 9/11 sich als fatal erwiesen, war es, dieses Faktum zu übersehen.

Inkompetenz und Diskursmacht

Man wünschte sich angesichts des Desasters in Afghanistan, von den jetzt überraschten Politikern hätte einmal eine(r) am Friedensratschlag in Kassel teilgenommen, dem - vor der Corona-Krise - jährlich stattfindenden Treffen der Friedensbewegung Deutschlands. Dort gehört es zum Programm, Fachvorträge von Experten zu den Themen Geopolitik, Konversion, gewaltfreie Konfliktlösung, Medienmanipulation und Kriegspropaganda anzubieten.

Dort wurde der strategische Aufbau der afghanischen Kämpfer gegen die Sowjetunion frühzeitig kritisiert, ebenso die Militäraktion unter fadenscheinigen Argumenten im Nachgang zu den Anschlägen vom 11. September 2001, die zudem ohne UNO-Mandat begonnen wurde. Auch für die Leserschaft von Fachzeitschriften, wie etwa das inzwischen eingestellte Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten (Inamo), ist die aktuelle Lage vor Ort keine Überraschung; nur traurige Bestätigung.

In den Debatten um den Abzug, der erst den vorläufigen Endpunkt einer Reihe von Fehlentwicklungen darstellt, sollte man sich erinnern, dass 15 der 19 mutmaßlichen Attentäter aus Saudi-Arabien stammten.

"Mutmaßlich" korrekterweise darum, weil es in der Berichterstattung ansonsten üblich ist, Verdächtige so zu bezeichnen, bis ein Gerichtsprozess (und nicht Foltergeständnisse) die Schuld geklärt hat. Einen solchen Prozess gab es nie und einen Haftbefehl für Osama Bin Laden für die Anschläge von 9/11 auch nicht.

Zum zwanzigsten Jahrestag der Anschläge, die drei Türme des World Trade Centers zu Fall brachten und 3000 Menschen das Leben kosteten, lehnt nun eine Initiative der Opferfamilien in den USA die Präsenz von Joe Biden bei Gedenkveranstaltungen ab und kritisiert die Instrumentalisierung der traumatischen Ereignisse – gleichzeitig fordern die Hinterbliebenen eine unabhängige Untersuchung der Beteiligung Saudi-Arabiens.

Warum Afghanistan? Diese Frage bleibt eine offene Wunde, die immer noch nicht zufriedenstellend beantwortet ist. Auch wenn junge Journalisten heute ein Narrativ vom Afghanistankrieg pflegen, das vor allem durch Weglassen bestimmter - äußerst relevanter - Fakten entstehen konnte und einem strategischen Framing vermeintlicher Menschenfreundlichkeit unterliegt, das Versagen der Medien ist das Ergebnis von über 20 Jahren Kriegs-PR.

Zu den ausgeblendeten Fakten gehört ganz wesentlich ein Akteur, der zentral ist für die Geschichte Afghanistans war bzw. gewesen wäre und bis heute dort verehrt wird.

Ahmad Schah Massoud – der Löwe des Pandschschir

Wer erinnert sich noch an Ahmad Schah Massoud? Er war nicht einer von unzähligen Mudschaheddin der Nordallianz Afghanistans, sondern der designierte Führer einer geeinten afghanischen Nation - wenn es denn jemals eine hätte geben sollen in diesem heterogenen Land.

Als langjähriger Kämpfer gegen die Soldaten der Sowjetunion und später gegen die Taliban hat er sich in Afghanistan und international einen Namen gemacht. Ausländische Delegationen besuchten den charismatischen Mann, der in der Lage war, die zerstrittenen Gruppen des Landes an einen Tisch zu bringen – wie u.a. die französische TV-Dokumentation Massoud, le lion du Panjshir schildert.

Selbst Gulbuddin Hekmatyar zählte zu seinen Gesprächspartnern und bei Massoud trafen sich einst alle Führer der am heftigsten zerstrittenen Clans. Während er in deutschen Medien kaum eine Rolle spielte, thematisierte ihn die New York Times regelmäßig.

Massoud starb am 9. September 2001 – genau zwei Tage vor dem weltberühmt gewordenen 11. September und im Schatten desselben.

Eine lesenswerte Erinnerung an ihn fand sich zum fünfzehnten Todestag, am 9. September 2016, im Cicero. Lesenswert auch darum, weil die Schilderung des Anschlags auf Massoud durch eine bestimmte Faktenauswahl glänzt, die das gängige Narrativ stützen kann:

Ein arabisches Fernsehteam hat im nordafghanischen Tachar ein Interview mit Ahmad Schah Massoud verabredet, dem Anführer der afghanischen Nordallianz. Massoud, seine Begleiter und sein Dolmetscher betreten den Raum. Plötzlich explodieren die Kameras, Massoud wird in Fetzen gerissen. Der Raum füllt sich mit Blut, Körperteile fliegen umher. Die arabischen Reporter waren Al-Qaida-Agenten, die von Osama bin Laden geschickt worden waren, um dessen größten Widersacher zu beseitigen.

Cicero

Das klingt nur plausibel, wenn man nicht erwähnt, dass es sich um zwei tunesische Journalisten handelte. Warum aber sollte Al-Qaida, das ja angeblich in Afghanistan residierte, zwei Tunesier einfliegen, um Massoud zu töten? Die faktizierende Darstellung im Indikativ täuscht, auch dieser Mord wurde bis heute nicht endgültig aufgeklärt.

Ohne diesen Mord wäre Massoud wohl der Kopf Afghanistans geworden, wenn die Taliban - einst von den Gegnern der Sowjetunion hofiert und protegiert - erst vertrieben sein würden.

Das war das gemeinsame Ziel Massouds und seiner Wegbegleiter. Aus heutiger Sicht erscheint das naiv, aber man hätte ihm auch die Integration einzelner Akteure und ihrer Anhänger zugetraut. Jedenfalls wäre man an ihm so leicht nicht vorbeigekommen.

Wie es geworden wäre, wenn ... bleibt spekulativ, denn Massoud wurde nach Jahrzehnten gefährlichsten Kampfes in den Bergen Afghanistans just in time ermordet – überblendet von dem traumatisierenden Ereignis in den USA.

Kurz vor 9/11 starb die Hoffnung Afghanistans. Kurz vor dem Ereignis, das das Schicksal des Landes so massiv beeinflussen würde.

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