Werte und Krise: Europas groteske Rolle im Ukraine-Krieg

Europa kämpft mit einer Identitätskrise. Geopolitisch wirken indes obskure Akteure. Gedanken über die Weltlage und wie im Ukraine-Krieg Interessen durch Werte kaschiert werden.

Joe Biden1:

Amerikanische Führungsstärke ist das, was die Welt zusammenhält (…) Amerika ist immer noch ein Leuchtturm für die Welt. Immer noch.

Jochen Scholz2:

Freiheit ist die Einsicht in die amerikanische Notwendigkeit.

Zbigniew Brzezinski3:

Die Ukraine (…) ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt

In einem Kölner Bistro in der Südstadt werde ich Zeuge eines Gesprächs am Nebentisch. Drei Männer leicht fortgeschrittenen Alters diskutieren die Nachrichten des Tages. Die Ukraine ist Thema, die Kriege, die Weltlage, das politische Establishment.

Dann wird Unmut laut: "Offiziell dreht sich alles zwanghaft um Werte!" Die Runde ist sich einig. "Wir werden ständig mit Werten konfrontiert. Egal, was passiert, man fühlt sich gedrängt!"

"Immer gleich alles werten! Man kann auch erst mal nachdenken."

Ein guter Impuls, wie ich finde.

Herbstlicher Totentanz

Schlachtfeld Ukraine, Herbst 2023: Kratzt man am Lack der liberal-demokratischen Legendenbildung, kommen die verstörenden Wahrheiten zum Vorschein, die mit dem blutigen Streit um die "Weltinsel" verbunden sind. Nackte, höchst profane Wahrheiten.

Zum Begriff "Weltinsel" später noch ein Wort.

Einstweilen halten wir fest: Wir sind Zuschauer (und Zeugen) eines Marionetten- und Verpuppungstheaters, in dem Uncle Sam (der greise Hegemon) die Fäden zieht, Old Europe (das deutsche Wort des Jahres 2003) sich in die Komparsenrolle fügt; beredt (und omnipräsent) der fabelhafte Mr. Selenskyj, Apostel des Lichts, ein Hochstapler wie er im Buche steht, wie er wortgewaltig und unermüdlich mit Gloriolen aus dem neoliberalen Setzkasten (Demokratie, Freiheit, Rechtsstaat etc.) die Finsternis des Bösen attackiert und, seiner Mission folgend, zugleich zu erhellen sucht.

Und nicht zu vergessen – wie so oft – die unzähligen jungen Männer, die auf dieser schäbigen Bühne den eigentlichen Totentanz aufführen: Elende Frontschweine, Freiheitskämpfer nur der Lüge nach, trostlose Beweise der Unfreiheit, Menschenmaterial, Kanonenfutter, auf ihr nacktes Leben reduziert, Entwirklichte auf blutgetränkten Feldern, in lehmigen Schlammlöchern, im Morast der Zivilisation.

Sie halten den Kopf hin. Tun sie das "für uns"? Sagen wir so: Ihr gestundetes Leben zuckt an der Nabelschnur der westlichen Werteordnung und deren praktischer Manifestation in Eisen und Stahl: Panzer, Haubitzen, Artilleriegeschosse, Ausrüstung und Logistik in Milliardenhöhe (5,4 Milliarden Euro für das Jahr 2023 nach zwei Milliarden Euro im Jahr 2022), gepriesen als (bundesdeutscher) Beistand zur Freiheit. Wortführer der abendlichen Talkrunden wollen uns die hehren Absichten glauben machen. Es geht ja um "Werte".

"Sein Bein für die Freiheit"

Mir geht das Schicksal des ukrainischen Rekruten Kostja Kaschula nicht aus dem Sinn, der bei Kämpfen um Bachmut ein Bein verlor, ein Beispiel, das für viele spricht. Kostja wurde Anfang August im Hinterland der Ukraine operiert, er ist 34, verheiratet und Vater zweier Kinder, in einer Klinik in Lwiw lernt er wieder zu gehen.

Interviewt wurde er nach der Amputation seines Beins, zusammen mit weiteren Kameraden, für das ZDF-Auslandsjournal.

Die Kommentatorin des Beitrags (in der Filmsequenz sieht man den Verstümmelten, wie er unter großer Anspannung, aber auch demonstrativ-schwungvoll seine Krücken handhabt): "Er hat sein Bein gegeben für die Freiheit." Sie sagt es mit großer Selbstverständlichkeit. Mit Beinprothese, so erfährt der Zuschauer, will Kostja zurück an die Front.4

Hinter den Reha-Maßnahmen steht eine US-amerikanische Stiftung, die Superhumans. Recherchiert man dieses Aushängeschild, so erfährt man: Mit Hilfe der US-Superhumans erhalten die Schwerstgeschädigten mechanische und elektronische Ersatzglieder (hauptsächlich Beine, Arme).

Übersetzungsprogramme schlagen für den Ausdruck Superhumans unter anderem "Übermenschen" vor.

Übermenschen und Nichtmenschen

Die Überlebenden werden zu "Übermenschen". Diejenigen, die es nicht geschafft haben, werden zu Nichtmenschen, ausgelöschte Menschen.

Das Konstrukt einer "wertegeleiteten Außenpolitik" berührt nur die Oberfläche einer Weltwirklichkeit, zu der das Täuschungsmanöver "Die Ukraine muss siegen" gehört. Was gern unausgesprochen bleibt: Westliche Staaten stehen mit ihrer imperialen (anachronistischen) Denkweise und ihrem vorgelebten (zerstörerischen) Postkapitalismus an der ukrainischen Front.

Soweit das leitende ökonomische Prinzip, zusammen mit dem präferierten Lebensstil, unsrem Western Way of Life.

Das meint diejenige Lebensform, die maßgeblich zuständig ist für die Übernutzung des Planeten, unersättliche Lebensgier, gemeinsam akzeptiertes Unrecht, Missbrauch der technischen Macht, humanitäre Katastrophen, die Ausrottung der Arten, den Kollaps der Ökosysteme.

Mackinders Heartland-Theorie

Das ist an der Stelle aber bisher nicht alles. Zur Führerschaft gehört die Beherrschung der "Weltinsel". Was ist darunter zu verstehen? Der britische Geograph Harold Mackinder (1861 bis 1947) gilt als Entwickler der geopolitischen "Heartland"-Theorie. Mackinder unterschied die Begriffe eurasische Zentralregion (die ganz Sibirien und einen Großteil Zentralasiens umfasste) und ostmitteleuropäisches Herzland (Heartland). Jede dieser Regionen sah er als Sprungbrett zur Erlangung der Herrschaft über den Kontinent.5

Im Text liest sich das so6:

Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland.
Wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel.
Wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.

Halford Mackinder, Democratic Ideals and Reality, 1919

Die Beherrschung der "Weltinsel" Eurasien sieht auch das Strategiepapier "U.S. Role in the World: Background and Issues for Congress" (Congressional Research Service, Jan 2021) als Schlüssel zu globaler Dominanz. Keine Frage, dazu bedarf es der militärischen Superiorität.

Divide et impera!

Auf den Seiten der wissenschaftlichen Vorlage für den US-Kongress werden die einzelnen Aspekte der Global Leadership aufgelistet und bewertet sowie die Rolle Eurasiens näher bestimmt: Auf diesem Terrain entscheidet sich, wer in Zukunft das Sagen hat.

Schon lange geht es ehrgeizigen US-Analysten darum, die wichtigen geopolitischen Dreh- und Angelpunkte Eurasiens nach dem Ende des Kalten Krieges zu bestimmen; einer von ihnen ist der Politstratege und Buchautor Zbigniew Brzezinski (1928–2017), Sicherheitsberater unter Präsident Jimmy Carter.

In seinem Buch Die einzige Weltmacht7 stellte Brzezinski unter anderem die Frage, wer dem US-Hegemon auf dem riesigen Gebiet Eurasiens in die Quere kommen könnte – etwa eine Regionalmacht oder ein Zusammenschluss unliebsamer Akteure, die in der Lage wären, eine eurasische Machtkonzentration darzustellen, die groß genug wäre, um "lebenswichtige Interessen" der USA zu bedrohen?

Brzezinski nannte schon vor 25 Jahren das Gegengift8:

Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und (…) die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten". Divide et impera! Zu deutsch: Teile und herrsche! Entsprechend empfiehlt er, dafür Sorge zu tragen, "dass die 'Barbaren'völker sich nicht zusammenschließen.

Zbigniew Brzezinski

Ein stark vergröbertes Echo der eurasischen Lehre à la Mackinder erkennt Brzezinski übrigens in den Reden und Verlautbarungen Hitlers, in denen er den für das deutsche Volk notwendigen Lebensraum im Osten beschwor.9