Werte und Krise: Europas groteske Rolle im Ukraine-Krieg

Seite 2: Am Zipfel des Black Rock

Die Beschwörungen nehmen unterdes kein Ende: In der Ukraine werden "westliche Werte verteidigt".

Im Hintergrund formieren sich die Zeremonienmeister der Zunft, die Hüter der Werteordnung: Seit September 2022 fungiert BlackRock, "der größte Kapitalorganisator der westlichen Welt" (mit drei Managern in der US-Regierung) offiziell als Hauptberater der ukrainischen Regierung.

Das Problem der Demokratie hat aufgehört, ein politisches Problem zu sein, es ist zu einem geistig-kulturellen Problem (…) geworden.

Nikolaj Berdjajew: Fortschritt, Wandel, Wiederkehr, 1978

Nikolaj Berdjajew wird möglicherweise Recht behalten. Der Krieg im Nachbarland Ukraine stellt die Frage nach der europäischen Identität und geopolitischen Rolle des Westens in nicht gekannter Schärfe. Das grandiose Weib namens Europa, das sich des Friedens rühmt, ist unansehnlich geworden, verhaspelt sich in Kriegsrhetorik und transatlantischen Loyalitätsbekundungen.

Dabei ist eine erstaunliche Hypertrophie des Staates sichtbar geworden, seine Art, sich einzumischen, sich in die Köpfe zu klotzen, die Massen zu manipulieren; man redet laut vom Wert des Individuums, aber das geht zusammen mit frecher Kollektivierung von Moral und Bewußtsein. Werte! Werte! Als dümmste Ausrede "Staatsräson".

Mit ihrer bedingungslosen Loyalität zum geostrategischen Imperativ, unverzichtbare US-Interessen zu wahren, macht sich Europa unglaubwürdig. Brzezinski hat ganz recht, wenn er die "Möchtegern-Architekten Europas" bloßstellt.10 Deutschland seinerseits macht keinen Gebrauch von seiner geschichtlichen Erfahrung, außer in Feiertags- und Gedenkreden.

Höchster Wert ist nicht der Mensch!

Höchster Wert ist nicht der Mensch! Zur heuchlerischen Zivilisation gesellt sich Politik als Unvermögen. Immerhin, darauf können nicht nur Despoten wie Putin zählen, sondern auch Autokraten vom Schlag eines Erdogan, der im demokratischen Kittel zu Besuch kommt und die Doppelmoral seiner Berliner Kollegen staatsmännisch zu taxieren weiß.

Für Amerika nicht übel: Europa bleibt kalkulierbarer (mittel-)östlicher Vorposten, Deutschland ein williger Exkulpator – nützlicher Idiot, aber bitte nicht strategischer oder ideologischer (sollten wir sagen: denkerischer?) Konkurrent oder Buhler um wirtschaftliche, politische und technologische Hegemonie. Es kommt daher auch gelegen, wenn Europa sich selbst klein hält und Deutschland in Debatten erstickt. Das lähmt beider Rolle als ernsthafte Mitmischer.

Europa schwächelt daher passend, und Deutschland ist noch auf Jahre mit sich und seinem "Umbau" beschäftigt. Divide et impera! Die Drei im Bistro werden noch eine Weile am Welträtsel zu knacken und sich vermutlich kräftig zu ärgern haben.