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Wertgesetz und warenlose Gesellschaft

Zur noch ausstehenden Debatte über eine zukünftige Gesellschaft der Bedürfnisse

Mit dem Artikel [1] von Heinrich Harbach zur Werttheorie vom 09. Dezember 2018 begann hier bei Telepolis ein bis dahin ungewöhnlicher Vorgang, bisher weitgehend nur in Fachkreisen diskutierte theoretische Problematik in breite Öffentlichkeit zu stellen. Die Diskussion im Forum war neben den üblichen Pöbeleien und die Argumentation direkt nicht berührender allgemeiner Marxkritik von Verwunderung geprägt: Warum dies hier? Das entspricht einem oft zu hörenden Vorwand, dass solche Veröffentlichungen unvereinbar mit der heiligen Dreifaltigkeit des Journalismus seien. Vorwand, weil dahinter die generelle Abneigung vieler "Linken" leicht zu erkennen ist, sein lang gehegtes Weltbild von "Sozialismus", geprägt durch den Marxismus/Leninismus, in Frage zu stellen. Da es genügend Argumente gibt, gerade deshalb die Öffentlichkeit über dieses Streitthema zu informieren, soll diese Problematik hier weiter aufgegriffen werden, um die aktuelle und prinzipielle Bedeutung dieser Frage für unsere Zukunft in viele Köpfe zu bringen.

Regelmäßig misslingen Versuche, eine breite Diskussion über die Utopie der Gesellschaft anzustreben. Das hat eigene innere Ursachen. Ab und zu blitzt ein kurzes Gefecht, aber dann ist wieder Ruhe. Da wäre der Umstand zu nennen, dass in vielen Köpfen noch Vorstellungen vorherrschend überliefert lagern, die auf dem "Marxismus/Leninismus" basieren, einer Theorie, mit der auch die Theorie von Marx in ein politisch vordeterminiertes Schema eingeschliffen und so wesentlicher, grundsätzlicher Systematik beraubt wurde (dazu auch Heinrich Harbach Die Wertform: Das Fundament der kapitalistischen Produktionsweise [2]).

Diese Verbiegungen sind häufiger als man annimmt. Sie verhindern das Verlassen eines einst als Ultimo Ratio wahrgenommenen Denkgerüsts, das sich oft im Verlaufe eines ganzen Forscherlebens mühsam entwickelt hatte. Die Propagandamaschinerie der Herrschaftskreise nutzt dies und das Scheitern des "Realsozialismus" weidlich, um jeder Veröffentlichung von Gedanken jenseits bestehender Gesellschaftsstruktur das Mäntelchen des Ruchbaren, Stalinismus, Alt-Kommunismus, Unverbesserlichen, Dogmatischen, Diktaturstrebens, Steinzeitidealismus, Ideologischen usw. überzuwerfen, in der Hoffnung, die Masse der Bevölkerung frage angesichts dieser Keulen nicht tiefer nach den Ursachen der bedrohlichen Weltentwicklung.

Die Ironie will es, dass die Gegenargumente fast vollständig ideologisch, z.B. in Neo-Liberalismus und Neo-Konservatismus, nur hauchdünn wissenschaftlich getarnt, geprägt sind. Haltet die Diebe! ist keine neue Methode. Auch in der "linken", alternativen Gesellschaftsdiskussion ist die Drohwirkung nicht zu übersehen, alte "ewige Wahrheiten", die nicht hinterfragt werden sollen, weil sonst das eigene Theoriegebäude ins Wanken geriete, und neuerdings fatale taktische Konzepte, z.B. in Wahlprogrammen, tun ein Übriges, bilden eine Erkenntniswand. Die Frage nach etwaigen systemischen Ursachen wird so verhindert, ist obsolet, anrüchig.

Gleichsam denkbremsend wirkt, dass dem Menschen im täglichen Leben zeitlebens Ware und Geld natürlich erscheinen, selbstverständlich gegenständlich ohne Sichtbarwerdung tieferer, unsichtbarer Zusammenhänge geschweige fundamentaler Widersprüche sind. Waren- bzw. Geldfetischismus kann man nicht angreifen. Kaum jemand kann sich ein Leben ohne Waren vorstellen, und doch deformieren die in ihnen versteckten Produktionsverhältnisse hintergründig und unsichtbar alle gesellschaftlichen Verhältnisse, das tägliche Leben.

Selbst wenn die abstrakte Erkenntnis darüber bei einer signifikanten Anzahl von Leuten greift, auch sie scheinen eine dauerhafte Kluft zwischen der Erkenntnis und den täglichen Beobachtungen und Beurteilungen des sichtbaren Geschehens zu haben. Diese Barrieren einschließlich gut eingelagerter, eigentlich nicht haltbarer Erkenntnisse aus früherem Leben drohen ständig unbemerkt in die Erkenntniswelt zurückzufließen und zu manipulieren, weshalb diesbezüglich immer wieder Selbstprüfungen nötig sind.

Und es ist zunächst, abseits der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, unter den kapitalismuskritischen Ökonomen erforderlich, einen Weg der offenen Diskussion über die wichtigsten Fragen einer menschenwürdigen Gesellschaftsordnung, die das Leben an sich erst ermöglicht, zu finden und gemeinsam in sachlichem Gedankenaustausch Lösungen zu finden. Es sind nicht wenige, die diese Fragen stellen, mehr, als allgemein angenommen wird. Man kann das beobachten, wenn öffentliche Foren zu diesem Thema abgehalten werden. Tiefgründige Fragen und Ansichten überraschend vieler kommen da zutage, die es ohne schon recht tiefes Eindringen in die Materie nicht gäbe. Apolitismus oder Überforderung sind selten zu spüren.

Auch der kapitalismuskritischen Fachdiskussionen scheint es immer mehr zu geben, jedoch steigt offensichtlich damit auch der Grad der Zerrissenheit zwischen den Parteien. Die Palette der Kapitalismuskritiker ist breit gefächert, von revoluzzerischen Aktionsprogrammen über Protestbewegungen gegen die Hauptauswirkungen der Globalisierung bis zur Reform der staatlichen Gestaltung der Gesellschaft reichen die Rezepte.

Sehr verbreitet ist darin die Kritik der Verteilungsverhältnisse, deren Neugestaltung den Kapitalismus humanisieren will, also gerechte Verteilung durch Gestaltung dieser. Diese Kritik bzw. die wunschgesteuerten Forderungen sind nicht falsch, haben berechtigten Anspruch gehört, beachtet und angegangen zu werden. Es ist nur die Frage, ob sie in ihrer Bedeutung den berechtigen Platz einfordern, bzw. - und das scheint auch die Ursache der Gräben zwischen den Lagern zu sein - ob sie weitgehend durchdacht sind und auf einer fundierten theoretischen Basis stehen.

Zum Teil wird die Frage nach Theorie von einigen Akteuren a priori generell abgelehnt, sie für sie Zeitverschwendung angesichts in ihren Augen drängender praktisch zu lösender Probleme. Der Weg ist das Ziel? Früher oder später wird dann die Einsicht, wie in der Geschichte oft geschehen, man habe sich vergaloppiert und zum Schluss untereinander heftig zerstritten, sodass an eine Fortsetzung der Aktionen nicht mehr zu denken ist, greifen und man wird wieder vor dem Aus stehen. Keine politisch wirksame Bewegung kann ohne dauerhafte und anhaltende Grundsatzdiskussion überleben.

Analog sind Eingriffsversuche ins Räderwerk des Kapitalismus mit bloßen Reformen zum Scheitern verurteilt, mögen sie auch temporär allgemeine Anerkennung, ja sogar Wohlwollen der Herrschenden, was zu denken geben sollte, hervorrufen. Die Reformvorschläge werden vom klügeren Teil der Bourgeoisie, auch den Monopollenkern, sogar dringend erwartet, die Perspektive z.B. des "Bedingungslosen Grundeinkommens" in deren Händen spricht Bände. So wird diese durchaus vernünftige Konzeption ganz andere Ergebnisse zeitigen als ursprünglich gedacht, sich ins Gegenteil verkehren.

All diese oben genannten Forderungen nach Reformen sind legitim, werden im Gesamtkonzept linken gesellschaftsverändernden Vorgehens gebraucht, um günstige Voraussetzungen für tiefgreifenden Wandel zu schaffen. Allein bringen sie jede für sich wenig Ergebnis, konzertiert schon. Wenn es sein muss, heißt es, müsse man getrennt marschieren und vereint schlagen. Dazu bedarf es neben der operativen Abstimmung auch einer gemeinsamen Schaffung der theoretischen Basis. Denn es ist nicht zu übersehen, dass allen Konzepten schon unterschiedliche Definitionen der Grundkategorien Ware, Geld, Kapital oder deren Derivate zugrunde liegen, die einer gemeinsamen Theoriearbeit entgegenstehen. Die Diskussion sollte deshalb auch z. B. darüber geführt werden, was die Charakteristik des kapitalistischen Reproduktionsprozesses als adaptives, autoregulatives, auto-repetitives und eigendynamisches System bedeutet.

Zur Definition einer Nichtwarengesellschaft

Ausgangspunkt des Diskurses über eine zukunftsträchtige Gesellschaftsstruktur kann nicht die vorgefasste Annahme einer Nichtwarengesellschaft sein, die auf der Produktion von bedürfnisgerechten Gütern in absoluter Freiwilligkeit basiert, sonst erübrigte sich ein solches Projekt. Dies wäre auch nicht logisch, da zuvor oder zumindest parallel die Diskussion zu den grundlegenden ökonomischen Kategorien die Standpunkte zumindest auf ein erträgliches Niveau annähern müsste. Nur daraus ergäbe sich die Möglichkeit eines Bildes der Zukunftsgesellschaft.

Die bisherige Auseinandersetzung ist vorrangig vom akademischen Stil geprägt, überfrachtet von Marxzitaten und dessen angeblichen Vorstellungen, die damit belegt werden. Kurios ist dabei: Auch gegensätzliche, teilweise unvereinbare Thesen berufen sich auf Marx. Dass da etwas nicht stimmen kann, ist unübersehbar.

Neben dem weiterhin notwendigen akademischen Streit, der viele Argumentationen verkürzt und so übersichtlich werden lässt, ist vielleicht eine damit verbundene, nicht explizit geführte Diskussion ertragsträchtig, die die nüchterne Betrachtung mit einfachen Worten pflegt, Einstein gleich, der sich der Fama nach dieser Methode als Prüfung des Selbstverstehens seiner eigenen Theorien bediente. Der Gebrauch seines Bonmots zum Pfeifenrauchen, nach dem dies zu einigermaßen objektivem und gelassenem Urteil über menschliche Angelegenheiten beitragen würde, brachte mich zwar seinem Genie keinen Quant näher. Das Zitat hängt immer noch leblos über meinem Tisch und mag ich noch so viel qualmen. Die angedachte Methodik jedoch verspricht die Realität ins Boot zu holen und die Bodenhaftung zu sichern. Wie so oft kommt es auf einen Versuch an.

Zumindest unter alternativen Ökonomen und anderen Gesellschaftstheoretikern dürfte unbestritten sein, dass die Dynamik des kapitalistischen Grundwiderspruchs, der immer fester alle gesellschaftlichen Bereiche dominiert, zu einer ebenso dynamischen Dysfunktionalisierung des autonomen Regulierungsmechanismus über den Markt und dem drohenden gesellschaftlichen Supergau führt. Die Dimension des abstrakten gesellschaftlichen Reichtums, dem eigentlichen Ziel der kapitalistischen Warenproduktion, hat Größenordnungen erreicht, die ein einfaches Ausgleichen der Diskrepanz zwischen blind für den Markt vorhaltig geschaffener Überproduktion und absetzbarer Menge, die eigentliche Funktion von Krisen, nicht mehr wirken lässt, zumal die diversen Regulierungseingriffe die Krisenzyklen deformieren und damit deren Wirksamkeit weiter einschränken.

Dieser Zustand würde auch eintreten, wenn keine private, sondern z.B. gesamtgesellschaftliche Aneignung des Mehrwertes erfolgen würde. Das allerdings ist rein spekulativ, da in Realität nicht denkbar. Es sei daran erinnert, dass z.B. im New-Deal der Spitzensteuersatz bei 90% lag, die Millionäre aber trotzdem wie Pilze aus dem Boden schossen und die Frage der Wiederanlage des Reichtums immer dringender wurde mit allen Folgen, die wir heute noch ärger erfahren. Das Kapitalverhältnis erweist sich als eigene Fallgrube.

Dieser Umstand verweist ziemlich eindeutig darauf, dass Zukunftsmodelle auf der Basis von Warenproduktion wohl nicht das Gelbe vom Ei sein können. Der Grundwiderspruch kapitalistischer Warenproduktion besteht zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der privaten Aneignung des objektiv entstehenden Mehrwertes. Das ist, so auch Marx, kein moralischer Mangel, dessen Kritik dann im Weiteren zur Kritik der Verteilungsverhältnisse und Vorstellungen zur Heilung des System durch deren gerechte Gestaltung führt, sondern ein rationales Muss zur Funktionalität des kapitalistischen Warenproduktionssystems. Und eben diese hat sichtbar ihre Grenzen erreicht.

Quo vadis? Diese Frage stellt sich von selbst. Von hier ab scheiden sich offensichtlich die Geister. Obwohl die Varianten zahlreich, wie etwa die Kontraverse um die Neue Marx-Lektüre zeigt, lässt sich alles auf zwei Grundvarianten einkochen. Die einen wollen ein Gesellschaftssystem, das wertbasiert ist, sowie einer gesellschaftlichen Gesamtplanung unterliegt, ökonomisch wäre das eine bedürfnisorientierte Planwirtschaft mit notwendiger Hierarchie. Diese bedürfte logisch auch des Geldes in irgendeiner Form, denn es würden wiederum Waren produziert werden, die bei aller möglichen Vorplanung nachträglich auf einem wie immer gestalteten Markt getauscht werden, natürlich mit einem allgemeinen Äquivalent.

Selbst wenn man dabei z.B. Stundenkonten zur Verrechnung einsetzen würde, ein in dieser Situation ökonomisch nicht unbedingt notwendiger und deshalb voluntaristischer Akt analog dem bekannten "Volkseigentums", übernähme diese Institution automatisch die Geldfunktionen, ohne einen qualitativ neuen Ersatz dafür zu schaffen. Auch wenn, diese Tendenz ist unter heutigen technischen Möglichkeiten ohne Systemveränderung schon sichtbar, time-to-market gegen Null strebt, so bleibt in jeder Warenproduktion die Nachträglichkeit des Marktes generell erhalten.

Den anderen schwebt eine Gesellschaft vor, die von unten her die Bedürfnisse ermittelt, den Ressourcen entsprechend örtlich, dann regional und schließlich landes- und kontinentweit gemeinsam die Produktion der Güter organisiert und realisiert, ohne einen Markt zu benötigen. Die konkrete Arbeit erweist sich dabei von vorneherein als gesellschaftlich notwendige Arbeit, der Widerspruch zwischen diesen Kategorien, aus dem Warenfetischismus geboren, tritt nicht in Erscheinung. Produzent und Konsument bilden eine Einheit, eine sachliche Vermittlung ist nicht notwendig, sie stehen in direkten Beziehungen.

Wachstum wie in der Warenproduktion ist nicht Voraussetzung des Funktionieren des Systems, die Voraussetzungen zum schonenden Gebrauch der Naturressourcen sind gegeben, da auch die Möglichkeit greift, dass die Bedürfnisse von allen Gesellschaftsmitgliedern auf das Wesentliche, gereinigt vom Marketingmüll, zurück geführt werden können. Erst so, allen lächerlichen aktuellen Versuchen zum Trotz, kann Nachhaltigkeit ins gesellschaftliche Leben einziehen, denn Nachträglichkeit des Marktes und Nachhaltigkeit schließen sich aus. Die Plausibilität, wie früher bereits erwähnt, wurde überzeugend z. B. von Christian Sieffkes geprüft (Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen [3]).

Das sind zwei sehr unterschiedliche, diametral gelagerte Varianten einer Zukunftsgesellschaft. Woher kommen denn diese divergierenden Denkrichtungen? Die einen sind nicht schlauer als die anderen, in beiden Lagern sind kluge Leute angesiedelt, die nehmen sich nichts. Warum aber und weshalb, das wäre schon wieder ein eigenes Thema, das nicht, hier aber doch, ausgespart werden soll. Es käme garantiert in einem Diskurs, sollte er gelingen, zur Sprache. Der Knackpunkt des Dissenses wäre nach aller Erfahrung garantiert in der unterschiedlichen Definition des Wertes und den darauf aufbauenden Interpretationen gesellschaftlicher Vorgänge zu finden. Wetten?

Demnächst: Nichtwarenproduktion in der Gegenwart?


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[2] https://www.heise.de/tp/features/Die-Wertform-Das-Fundament-der-kapitalistischen-Produktionsweise-4237120.html
[3] http://peerconomy.org/text/peer-oekonomie.pdf