Westen: Große Fehler in der China-Politik

"Regelbasierte Ordnung" - Wer bestimmt sie? Die wirtschaftlichen und politischen Gewichte haben sich verschoben. China braucht keine Belehrungen. Der Westen muss sich neu ausrichten.

Chinas neuer, im März gewählter Premierminister Li Qiang – gesprochen: "Lie Tchiang" – befindet sich derzeit auf Europatour, um die Beziehungen zur Gemeinschaft und ihren Mitgliedern zu pflegen. Zu hören bekommt er dabei recht unterschiedliche Botschaften.

Während auf seiner ersten Station am Dienstag in Berlin Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) darum bemüht war, die guten – und äußerst umfangreichen - Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Volksrepublik und Deutschland zu pflegen, scheinen in Brüssel die Zeichen eher auf Konfrontation zu stehen.

Die für Wettbewerbspolitik zuständige EU-Kommissarin Margrethe Vestager hatte in Brüssel China unlängst als "systemischen Rivalen" bezeichnet, wie die in Hongkong erscheinende South China Morning Post berichtet. Entsprechend bereitet die Kommission gerade eine Strategie der Entkoppelung von China vor.

Regelbasierte Ordnung

Allerdings ist auch in Berlin keinesfalls alles eitel Sonnenschein. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) war in letzter Zeit durch recht undiplomatische Äußerungen gegenüber Beijing aufgefallen, und die vergangene Woche von der Bundesregierung verabschiedete Nationalen Sicherheitsstrategie nennt China etwas kryptisch "Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale".

Beijing wird unterstellt, eine nicht näher definierte "regelbasierte Ordnung" verändern zu wollen, was gegen die Interessen der Bundesrepublik gerichtet sei.

Nur was ist diese "regelbasierte Ordnung" eigentlich? Wieso spricht man nicht vom Völkerrecht und den allgemein anerkannten Dokumenten und Verträgen? Nicht von der UN-Charta oder der Erklärung der Menschenrechte, die im Übrigen, neben anderen, eine sehr chinesische Handschrift trägt?

Aufstieg einer neuen Supermacht: Nicht erpressbar

Offensichtlich ist die Unbestimmtheit des Begriffs beabsichtigt, um sich selbst ins Recht und Beijing ins Unrecht zu setzen. Mit derlei lässt sich besser verbergen, dass es vor allem um den Aufstieg Chinas geht, den man nicht wirklich bereit ist, hinzunehmen; lässt sich besser verbergen, dass man nicht bereit ist, einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen und mit der vermutlich weltweit schon bald größten Volkswirtschaft einen angemessenen Platz in der internationalen Gemeinschaft zuzugestehen.

Konkret geht es um Dinge wie die Stimmengewichte in den wichtigen Washingtoner Finanzinstitutionen Weltbank und Währungsfonds, die noch immer von den G7-Staaten dominiert werden und in denen China kaum viel mehr Gewicht hat als etwa Frankreich oder Deutschland, obwohl es diese ökonomisch längst hinter sich gelassen hat.

Konkret geht es auch darum, dass man nicht bereit ist zu akzeptieren, dass China auf die gewaltige Aufrüstung der USA und ihrer Verbündeten in ähnlicher Weise antwortet, weil es nicht erpressbar sein will. Letzteres kann man natürlich als Kriegsgegner kritisieren.

Aber es ist in der militärischen Logik, in der die Menschheit seit vier Jahrtausenden oder länger gefangen ist, naheliegend, alles andere als überraschend und sicher nicht durch fromme Wünsche oder alberne Drohgebärden aus der Welt zu schaffen. Und auch nicht durch Lehrmeistereien aus einem Land, dass sich noch nicht einmal für seine Kolonialverbrechen in China entschuldigt hat.

Was man in Europa nicht versteht

Ohnehin scheint man in Europa noch nicht recht verstanden zu haben, wie sehr sich die ökonomischen Gewichte verschoben haben. Die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) haben inzwischen zusammen ein größeres Bruttoinlandsprodukt als die Gruppe der sieben alten Industriestaaten (G7: USA, Kanada, Japan, Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland).

Außerdem ist, wie bereits im August letzten Jahres beschrieben, Chinas Außenhandel mit den Ländern des Südens (einschließlich Südkorea und Taiwan) inzwischen so groß wie jener mit Europa und den USA zusammen. Während also viele deutsche Konzerne vom Chinageschäft stark abhängig sind, ist Deutschland für die Volksrepublik nur ein Handelspartner unter vielen.

Die hiesige Öffentlichkeit und ihre Politiker wären daher gut beraten, sich langsam mit den sich rasch verändernden Verhältnissen in der Welt anzufreunden und, statt Belehrungen zu verteilen und weiter allerlei Vorurteile zu pflegen, Dialog und Austausch zu suchen. Und das nicht nur, weil China inzwischen für viele Produkte der weltweit größte Markt ist.

Fortschritt in den Wissenschaften

Auch technologisch und wissenschaftlich hat es längst den Status des Entwicklungslandes hinter sich gelassen und entwickelt sich zum neuen Gravitationszentrum der Natur- und Ingenieurswissenschaften.

Wie bereits berichtet, ist es inzwischen auf zahlreichen Feldern führend. Unlängst stellte Nature, eines der international wichtigsten Fachmagazine für Naturwissenschaften, sogar fest, dass 2022 erstmals die meisten Beiträge in den 82 von Nature untersuchten weltweit führenden naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften nicht mehr aus den USA, sondern aus China kamen.

Das Zeitalter, in dem Westeuropa und die USA den Ton angaben und die Regeln machten – man frage ruhig einmal in Algerien, Namibia, Kenia, Indonesien oder Haiti nach, wie sich das so angefühlt hat –, geht nach gut 200 Jahren dem Ende entgegen.

Die Abenddämmerung des Eurozentrismus hat begonnen. Doch leider ist zu befürchten, dass die Freunde der Zeitwende dies mit aller (militärischer) Macht verhindern wollen.