Wider die Lügen: Der neunte Jahrestag des Ukraine-Krieges

Während der Maidan-Proteste 2014 verbrannten im Gewerkschaftshaus von Odessa 42 prorussische Aktivisten, nachdem ukrainisch-nationalistische Hooligans es in Brand gesetzt hatten, Fliehende am Entkommen hinderten und auf sie Jagd machten. EU und UN kritisieren die Ukraine, dass die Vorfälle bisher nicht aufgeklärt worden sind. Bild: Lsimon / CC BY-SA 4.0

Nicht 2022, sondern 2014 begann der Krieg mit einem von den USA unterstützten Staatscoup. Doch US-Propaganda und europäisches Schweigen verdecken die Fakten. Warum beide Seiten sich zurückziehen müssen.

Wir befinden uns nicht am ersten Jahrestag des Krieges, wie die westlichen Regierungen und Medien behaupten. Wir haben gerade den neunten Jahrestag des Krieges erlebt. Und das macht einen großen Unterschied.

Der Krieg begann mit dem gewaltsamen Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Februar 2014, einem auf offener Bühne stattfindenden Staatscoup, der verdeckt von der US-Regierung unterstützt wurde (weitere Informationen hier).

Jeffrey D. Sachs ist Professor an der Columbia University. Er hat drei Generalsekretäre der UN beraten.

Seit 2008 haben die Vereinigten Staaten die Nato-Erweiterung um die Ukraine und Georgien vorangetrieben. Der Putsch gegen Janukowitsch im Jahr 2014 stand im Dienste dieser Nato-Erweiterung.

Wir müssen diesen unerbittlichen Drang zur Nato-Ausweitung im Zusammenhang verstehen. Die USA und Deutschland versprachen dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow ausdrücklich und wiederholt, dass sich die Nato nicht "einen Zentimeter nach Osten" erweitern würde, nachdem Gorbatschow das als Warschauer Pakt bekannte sowjetische Militärbündnis aufgelöst hatte.

Die Grundvoraussetzung der Nato-Erweiterung war ein Verstoß gegen die mit der Sowjetunion getroffenen Vereinbarungen und damit gegen den Fortbestand des Staates Russland.

Die Neocons haben die Nato-Erweiterung forciert, weil sie Russland in der Schwarzmeerregion einkesseln wollen, ähnlich den Zielen, die Großbritannien und Frankreich im Krimkrieg (1853-56) verfolgten. Der US-Stratege Zbigniew Brzezinski bezeichnete die Ukraine als den "geografischen Dreh- und Angelpunkt" Eurasiens.

Wenn es den USA gelänge, Russland in der Schwarzmeerregion zu umzingeln und die Ukraine in das US-Militärbündnis einzubinden, würde Russlands Fähigkeit, seine Macht im östlichen Mittelmeerraum, im Nahen Osten und weltweit auszuweiten, verschwinden, so die Theorie.

Natürlich sah Russland das nicht nur als Bedrohung im Allgemeinen, sondern auch als ganz konkrete Gefährdung an, da dadurch hochmoderne Waffensysteme direkt an die russische Grenze aufgestellt werden würden. Die Lage wurde noch bedrohlicher, nachdem die USA im Jahr 2002 einseitig den Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen aufgekündigten, was nach Ansicht Russlands eine direkte Gefährdung der nationalen Sicherheit darstellt.

Während seiner Präsidentschaft (2010 bis 2014) bemühte sich Janukowitsch um militärische Neutralität, insbesondere um einen Bürgerkrieg oder Stellvertreterkrieg in der Ukraine zu vermeiden. Es war eine sehr kluge und umsichtige Entscheidung für die Ukraine, aber sie stand der neokonservativen Besessenheit der USA im Weg, die Nato-Erweiterung voranzutreiben.

Als Ende 2013 Proteste gegen Janukowitsch ausbrachen, weil sich die Unterzeichnung eines Beitrittsfahrplans mit der EU verzögerte, nutzten die Vereinigten Staaten die Gelegenheit, die Proteste zu einem Staatsstreich eskalieren zu lassen, der im Februar 2014 in Janukowitschs Sturz gipfelte.

Die USA mischten sich beharrlich und geheim in die Proteste ein und trieben sie weiter voran, selbst als rechtsgerichtete ukrainische nationalistische Paramilitärs auf den Plan traten. US-Nichtregierungsorganisationen gaben riesige Summen aus, um die Proteste und schließlich den Umsturz zu finanzieren. Diese NGO-Finanzierung ist nie an die Öffentlichkeit gelangt.

Drei Personen, die eng in die Bemühungen der USA um den Sturz Janukowitschs involviert waren, sind Victoria Nuland, damals stellvertretende Außenministerin, heute Unterstaatssekretärin; Jack Sullivan, damals Sicherheitsberater von Vizepräsident Joe Biden und heute nationaler Sicherheitsberater von Präsident Biden; und Vizepräsident Biden, heute Präsident.

Nuland wurde bekanntlich dabei erwischt, wie sie mit dem US-Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt, telefonierte und die nächste Regierung in der Ukraine plante, ohne dass die Europäer etwas dagegen tun konnten ("Fuck the EU", so Nulands harscher Satz, der aufgezeichnet wurde).

Das abgehörte Gespräch offenbart die Tiefe der Planung von Biden, Nuland und Sullivan. Nuland sagt:

Also Geoffrey, um nochmals darauf zurückzukommen: Als ich die Notiz schrieb, kam Sullivan zu mir zurück und sagte, Sie brauchen Biden, und ich sagte, wahrscheinlich morgen für die Unterstützung und um die Details festzulegen. Also, Biden ist bereit.

Wir müssen die roten Linien beider Seiten akzeptieren

Der US-amerikanische Filmregisseur Oliver Stone hilft uns in seinem Dokumentarfilm "Ukraine on Fire" von 2016, die Verwicklung der USA in den Coup zu verstehen. Ich empfehle allen, sich den Film anzusehen und zu erfahren, wie eine US-Operation für einen Regimewechsel aussieht.

Ich kann jedem auch nur ans Herz legen, die eindrucksvollen akademischen Studien von Professor Ivan Katchanovski von der Universität Ottawa zu lesen (z. B. hier und hier), der mühsam alle Beweise vom Maidan überprüft hat und feststellt, dass die meisten Gewalttaten und Morde nicht, wie behauptet, von Janukowitschs Sicherheitskräften ausgingen, sondern von den Putschisten selbst, die in die Menge schossen und dabei sowohl Polizisten als auch Demonstranten töteten.

Diese Wahrheiten werden durch die Geheimhaltung in den USA und die europäische Unterwürfigkeit gegenüber der Supermacht verschleiert. Ein von den USA orchestrierter Coup fand mitten in Europa statt, und kein europäischer Regierungsvertreter wagte es, die Wahrheit zu sagen. Es folgten brutale Konsequenzen, aber noch immer spricht kein politisch Verantwortlicher in Europa ehrlich über die Fakten.

Der Putsch war der Beginn des Krieges vor neun Jahren. Eine verfassungswidrige, rechtsgerichtete, antirussische und ultranationalistische Regierung kam in Kiew an die Macht. Nach dem Putsch eroberte Russland in einem schnellen Referendum die Krim zurück, und im Donbass brach ein Krieg aus. Die Russischstämmigen in der ukrainischen Armee wechselten die Seiten und stellten sich gegen die Regierung in Kiew.

Die Nato begann umgehend, die Ukraine mit Waffen zu versorgen, im Wert von Milliarden an Dollar. Der Krieg eskalierte. Die Friedensabkommen von Minsk I und Minsk II, bei denen Frankreich und Deutschland als wichtige Garantiegeber fungieren sollten, haben nicht funktioniert.

Erstens, weil die nationalistische ukrainische Regierung in Kiew sich weigerte, sie umzusetzen, und zweitens, weil Deutschland und Frankreich nicht auf ihre Umsetzung gedrängt haben, wie die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich zugab.

Ende 2021 machte Präsident Putin sehr deutlich, was die drei roten Linien für Russland sind: 1. eine Nato-Erweiterung bis in die Ukraine sei inakzeptabel, 2. Russland werde die Kontrolle über die Krim behalten und 3. der Krieg im Donbass müsse durch die Umsetzung von Minsk II beigelegt werden. Das Weiße Haus unter Biden weigerte sich, über die Frage der Nato-Erweiterung zu verhandeln.

Die russische Invasion fand tragischerweise und unrechtmäßig im Februar 2022 statt, acht Jahre nach dem Putsch gegen Janukowitsch. Seitdem haben die Vereinigten Staaten Dutzende von Milliarden Dollar an Rüstungsgütern und Budgethilfe bereitgestellt und damit den Versuch der USA, ihr Militärbündnis auf die Ukraine und Georgien auszuweiten, noch verstärkt. Die Zahl der Toten und die Zerstörung auf diesem eskalierenden Schlachtfeld sind entsetzlich.

Im März 2022 erklärte die Ukraine, dass sie auf der Grundlage von Neutralität verhandeln würde. Der Krieg schien tatsächlich kurz vor dem Ende zu stehen. Sowohl ukrainische und russische Offizielle als auch die türkischen Vermittler gaben positive Erklärungen ab.

Heute wissen wir vom ehemaligen israelischen Premierminister Naftali Bennett, dass die USA diese Verhandlungen blockierten und stattdessen eine Eskalation des Krieges befürworteten, um "Russland zu schwächen".

Im September 2022 wurden die Nord-Stream-Pipelines gesprengt. Die erdrückenden Belege zu diesem Zeitpunkt sind, dass die Vereinigten Staaten die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines veranlasst haben.

Der Bericht von Seymour Hersh ist äußerst glaubwürdig und wurde in keinem einzigen wichtigen Punkt widerlegt (obwohl er von der US-Regierung heftig dementiert wurde). Er weist darauf hin, dass das Team Biden-Nuland-Sullivan für die Zerstörung von Nord Stream verantwortlich ist.

Wir befinden uns auf einem Weg einer schrecklichen Eskalation, des Lügens und Schweigens bei einem Großteil der amerikanischen und europäischen Mainstream-Medien. Das Narrativ, dass wir nun den ersten Jahrestag des Krieges erlebt haben, ist eine Lüge, die die Gründe für den Krieg und die Möglichkeiten zu seiner Beendigung verschleiert.

Dieser Krieg begann aufgrund des rücksichtslosen neokonservativen Drängens der USA auf die Nato-Erweiterung, gefolgt von der neokonservativen Beteiligung der USA an der Regimewechsel-Operation 2014. Seitdem ist es zu einer massiven Eskalation von Aufrüstung, Tod und Zerstörung gekommen.

Dieser Krieg muss beendet werden, bevor er uns alle in ein nukleares Armageddon verwickelt. Ich lobe die Friedensbewegung für ihre tapferen Bemühungen – insbesondere angesichts der dreisten Lügen und Propaganda der US-Regierung und des feigen Schweigens der europäischen Regierungen, die sich den US-Neokonservativen völlig untergeordnet haben.

Wir müssen die Wahrheit sagen. Beide Seiten haben gelogen, betrogen und Gewalt angewendet. Beide Seiten müssen sich zurückziehen. Die Nato muss den Versuch stoppen, sich auf die Ukraine und auf Georgien auszudehnen. Russland muss sich aus der Ukraine zurückziehen. Wir müssen auf die roten Linien beider Seiten akzeptieren, damit die Welt überleben kann.

Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit US-Nachrichtenportal Znetwork. Das englische Original findet sich hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Jeffrey D. Sachs ist Universitätsprofessor und Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University, wo er von 2002 bis 2016 das Earth Institute leitete. Außerdem ist er Präsident des UN Sustainable Development Solutions Network und Kommissar der UN Broadband Commission for Development. Er war Berater von drei Generalsekretären der Vereinten Nationen und ist derzeit SDG-Beauftragter von Generalsekretär Antonio Guterres. Sachs ist der Autor des kürzlich erschienenen Buches "A New Foreign Policy: Jenseits des amerikanischen Exzeptionalismus" (2020). Zu seinen weiteren Büchern gehören: "Building the New American Economy: Smart, Fair, and Sustainable" (2017) und "The Age of Sustainable Development," (2015) mit Ban Ki-moon.