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Widersprüchliches Afghanistan

Bundeswehrsoldaten aus Camp Marmal überwachen ein nahegelegenes Dorf während einer täglichen Sicherheitspatrouille, 2009. Bild: ISAF Headquarters Public Affairs Office, CC BY 2.0

Noch vor wenigen Tagen wurden Geflüchtete nach Afghanistan abgeschoben. Zugleich nimmt Deutschland Afghanen auf, die für die Bundeswehr gearbeitet haben. Wie passt das zusammen?

Nach aktuellen Zahlen sind von 2013 bis zum letzten Jahr 798 afghanische Ortskräfte sowie 2.596 ihrer Angehörigen von Deutschland aufgenommen worden [1]. Insgesamt also 3394 Menschen. Weiteren knapp vierhundert Ortskräften zuzüglich ihrer rund 1.500 Angehörigen liegen Zusagen für die Ausreise nach Deutschland vor.

Als Ortskräfte gelten Afghanen, die in ihrem Land etwa für die Bundeswehr, deutsche Entwicklungsprojekte oder die Bundespolizei gearbeitet haben. Derzeit sind diejenigen Afghanen berechtigt, eine Aufnahme in Deutschland zu beantragen, die in den vergangen zwei Jahren für eine deutsche Institution vor Ort gearbeitet haben. Sie müssen darlegen, dass sie im Zusammenhang mit dieser Beschäftigung gefährdet sind.

Möglicherweise erweitert sich der Kreis der Antragsberechtigten noch. Zumindest fordern dies Politiker, Diplomaten, Militärs und Nichtregierungsorganisationen in einem offenen Brief an die Bundesregierung [2].

Taliban fordern zum Bleiben auf

Die USA und ihre Nato-Verbündeten hatten dieses Jahr angekündigt, ihren Einsatz bis zum September dieses Jahres zu beenden und aus Afghanistan abzuziehen [3].

Die islamistischen Taliban, die immer noch oder wieder weite Teile des Landes kontrollieren, hatten kürzlich erklärt, dass die afghanischen Ortskräfte, die für die Besatzer gearbeitet hatten, Reue zeigen, aber das Land nicht verlassen, sondern es mit aufbauen sollten [4].

Die Diskussion um die Aufnahme der Ortskräfte lässt die Beurteilung der Sicherheitslage in Afghanistan durch die Bundesregierung in einem merkwürdigen Licht erscheinen. Vor allem angesichts der andauernden Abschiebungen von Geflüchteten in das zentralasiatische Land. Vor wenigen Tagen erst erfolgte eine Sammelabschiebung [5]. Es war der 39. Abschiebeflug seit Dezember 2016. Abschiebungen in unsichere Drittstaaten sind gesetzlich eigentlich nicht vorgesehen.

Zweifel an militärischem Weg

Die Bundeswehr ist seit Januar 2002 im Einsatz in Afghanistan. Also fast zwanzig Jahre. Als Reaktion auf die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 hatte die US-Regierung beschlossen, das Land, in dem sie Osama bin Laden vermutete, zu bombardieren und zu besetzen. Mit dabei war eine Koalition von Staaten der Nato.

Die Begründung für diesen Einsatz haben die Bundesregierungen seither immer wieder verändert: dass Deutschland am Hindukusch verteidigt werden müsse, hieß es zum Beispiel. Oder, dass man Brunnen bohren und Mädchen den Schulbesuch gewährleisten wollte. Ob für diese letzten beiden hehren Ziele die militärische Besetzung eines souveränen Landes, das niemanden angegriffen hat, die sinnvolle Herangehensweise war, ist seit Beginn dieses Einsatzes politisch umstritten.

Erst recht sollte stutzig machen, dass knapp zwanzig Jahre nach dem Beginn des Einsatzes die politische Lage in Afghanistan kaum anders ist als 2001. Denn sonst müsste man die Ortskräfte kaum vor den Taliban oder anderen in Sicherheit bringen. Dabei hat der Einsatz die öffentliche Hand seit Beginn mindestens 12,8 Milliarden Euro gekostet [6].


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6069396

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-06/afghanistan-taliban-ortskraefte-deutschland-bundeswehr?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F
[2] https://augengeradeaus.net/2021/05/offener-brief-initiative-zur-unterstuetzung-der-aufnahme-afghanischer-ortskraefte/
[3] https://www.dw.com/de/nato-startet-mit-dem-abzug-aus-afghanistan/a-57395501
[4] https://www.tagesspiegel.de/politik/reue-zeigen-und-dem-land-dienen-afghanische-taliban-fordern-helfer-internationaler-streitkraefte-zum-bleiben-auf/27261658.html
[5] https://www.tagesspiegel.de/politik/39-sammelabschiebung-seit-2016-deutschland-bringt-weitere-42-maenner-nach-afghanistan-zurueck/27269040.html
[6] https://www.nzz.ch/international/abzug-der-bundeswehr-aus-afghanistan-eine-kritische-bilanz-ld.1625169