Wie Russlands Krieg die Ukraine in Abhängigkeit und Armut gestürzt hat

Nach einem Jahr Krieg existiert keine substanzielle Binnenwirtschaft ohne Hilfe von außen mehr. Soziales Niveau eines Dritte-Welt-Staates. Endet der Krieg nicht bald, werden die Folgen verheerend sein. (Teil 1)

Unabhängig vom Ausgang des Krieges sieht sich die ukrainische Bevölkerung umfassenden sozialen und wirtschaftlichen Zusammenbrüchen ausgesetzt. Der folgende Artikel versucht, diese Folgen zu umreißen.

Aber wie auch im Afghanistan-Krieg (2001-2021) liegen überprüfbare Fakten fast nur für die Statistikbereiche unter Kontrolle der westlichen Verbündeten vor – entsprechend wird sich auf diese konzentriert. Die Lebensqualität in den Volksrepubliken und in den Gebieten unter russischer Besastzung muss an anderer Stelle behandelt werden. Am Ende des vorliegenden Textes steht ein thesenartiger Ausblick auf die Zukunft.

Schon vor dem Krieg war die Ukraine einer der ärmsten und unterentwickeltesten Staaten Europas. Dazu drei (Kurz-)Studien: Kai Kleinwächter – Ukraine, das hochgerüstete Armenhaus (Kleinwächter 2022a); David Noack – Fragwürdige Erfolge in der Ukraine (Noack 2022) und OECD – Rebuilding Ukraine by Reinforcing Regional and Municipal Governance (Kap. 3) (OECD 2022).

Datenlage

Seit Sommer 2022 erinnern Datenlage und öffentlicher Diskurs an den Afghanistan-Krieg. Wie damals dominieren kaum durch internationale Statistiken prüfbare Einzel-Daten. Trotzdem behauptet(e) eine unüberschaubare Kriegspropaganda Erfolg über Erfolg.

Die öffentliche Forschung konzentriert(e) sich auf die Themenfelder westlicher Tagespolitik, die Geostrategie der Großmächte sowie die Folgen für westliche Volkswirtschaften (insb. Migration und Außenhandel) und auf detaillierteste militärische Fragen. Aber empirische Studien der Ökonomie und Soziologie aus dem betreffenden Land, über die dortigen Menschen und Institutionen, fehlen fast völlig.

Screenshot vom Economic Outlook (Oktober 2022) des Internationalen Währungsfonds. Blau eigefärbte Felder sind Schätzungen. n/a steht für "not available" – nicht vorhanden. Quelle: Kai Kleinwächter – zeitgedanken.blog (29.03.2023).

Die wenigen belastbaren Informationen über die Wirtschaftslage in der Ukraine zeichnen ein düsteres Bild.

Implosion der Wirtschaft

Der oft kolportierte Rückgang der inneren Wirtschaftsleistung von "nur" 35 Prozent ist mehr Fake News als Realität. Diese Zahl wurde erstmals im April 2022 vom Internationalen Währungsfonds (IMF 2022) genannt und seitdem nicht verändert.

Damals gingen Ökonomen von einem kurzen, auf die östliche Ukraine begrenzten Krieg aus. Die seit Oktober 2022 von Russland durchgeführt systematische Zerstörung der Energie-, Wärme- und Transportsysteme war nicht Teil der Projektion.

Werden der Exportrückgang, die Einbrüche bei den privatwirtschaftlichen Löhnen und die massiv steigende Arbeitslosigkeit als Grundlage genommen, liegt der Rückgang der Wirtschaftskraft wohl eher irgendwo zwischen 50 und 70 Prozent.

Abhängigkeit vom Ausland

Das Institut für Weltwirtschaft Kiel (IfW) schätzte in ihrem "Ukraine Support Tracker" vom 21. Februar die staatlichen Zusagen westlicher Staaten zur Unterstützung der Ukraine auf bis zu 157 Mrd. € für 2022. (Ukraine Support Tracker: Aggregation by Country Group) Schon diese Versprechen übersteigen die ukrainische Wirtschaftsleistung des Jahres 2020 deutlich.

Zusagen staatliche Unterstützung der Ukraine
(Januar 2022 bis Januar 2023; Kredite, Gelder + Ausrüstung; in Mrd. €*)
Finanziel Humanitär Militärisch Gesamt
Länder
EU-Mitglieder 4 5 11 20
EU-Institutionen 30 2 3 35
USA 25 4 44 73
England 3 0 5 8
Kanada 2 0 1 4
Weitere Staaten 1 1 1 3
Int. Institutionen 13 0 0 13
Insgesamt 79 12 65 157
Zum Vergleich: Das BIP der Ukraine im Jahre 2020 betrug ca. 130 Mrd. €. (Worldbank GDP current US-$; 1,2 US-$ = 1 €) * Angaben kaufmännisch gerundet. Quelle: IfW Kiel - Ukraine Support Tracker. Übersetzung: Kai Kleinwächter (zweitgedanken.blog)

Aber diese Statistik des IfW gibt nur einen Teil der Unterstützungsleistung wieder. In ihr sind nicht enthalten: Unterstützungsgelder für Geflüchtete außerhalb des Landes (geschätzt ca. 27 Mrd. € für 2022; Fig. 7 Ukraine Support Tracker), vor dem Krieg gewährte Unterstützungen, geheime Transfers, insbesondere im militärischen Bereich, private Spenden, Aufwendungen gemeinnütziger Organisationen und private Überweisungen ukrainischer Migranten. (Antezza et al. 2022, 2f) Letzteres entsprach 2020 ca. 10 Prozent der ukrainischen Wirtschaftsleistung.

Damit beruht die wirtschaftliche Aktivität der Ukraine nahezu ausschließlich auf ausländischen Militär- und Nothilfen sowie privaten Spenden und Überweisungen. Eine nennenswerte Binnenwirtschaft jenseits politisch motivierter Stützung durch das Ausland existiert nicht mehr.

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