Wie der Afghanistan-Irrglaube die USA beim Ukraine-Krieg verblendet

Seite 2: Nicht informierte Experten und übersteigerte Bedrohungen

Verschlimmert wird die Situation durch die Flut von "Experten", die jedes Mal, wenn die Vereinigten Staaten ein neues Projekt in Übersee in Angriff nehmen, auf die Bühne gezerrt werden. Da sie eher aufgrund ihrer Verbindungen in Washington als wegen ihrer tatsächlichen Kenntnisse über die betreffenden Gebiete ausgewählt werden, können sie die Fehler der US-Politik nicht korrigieren, selbst wenn sie den moralischen Mut dazu hätten. Außerdem sind sie aufgrund ihrer Unkenntnis der lokalen Geschichte und Kultur erschreckend empfänglich für die eigennützigen Fantasien ihrer lokalen Informanten.

So hörte ich in den frühen 2000er-Jahren amüsiert, wie "Berater" der amerikanischen (und europäischen) Regierungen erklärten, dass "Afghanistan in den 1960er-Jahren eine erfolgreiche Demokratie der Mittelschicht war". Dieses US-Phänomen könnte man durchaus als ödipal bezeichnen, da es sowohl inzestuös als auch verblendet ist.

Wenn sich beide politischen Parteien erst einmal auf eine bestimmte Strategie festgelegt haben, fällt es dem überparteilichen Washingtoner Establishment äußerst schwer, Fehler einzugestehen und den Kurs zu ändern – eine Tendenz, zu der auch das US-Militär manchmal auf katastrophale Weise beigetragen hat. Die militärische Weigerung, Niederlagen einzugestehen, hat ihre verständlichen Seiten – niemand sollte wollen, dass die US-Generäle aufgeben.

Aber gerade deshalb brauchen die USA politische Führer (auch solche mit persönlicher militärischer Erfahrung wie Truman, Eisenhower, Kennedy und Carter), die das Wissen und den Mut haben, den Generälen zu sagen, wann es Zeit ist, einen Schlussstrich zu ziehen.

Stattdessen haben sich in Afghanistan (wie vom Special Inspector General for Afghan Reconstruction und anderen dargelegt) Generäle und Regierungsbeamte abgesprochen, um optimistische Lügen zu produzieren, die dann von leichtgläubigen und unterwürfigen Medien verbreitet wurden.

Heute besteht genau diese Gefahr, indem sich die Biden-Regierung weigert zuzugeben, dass die ukrainische Gegenoffensive gescheitert ist und es daher an der Zeit ist, eine politische Strategie zu entwickeln, um die Kämpfe in der Ukraine zu beenden sowie den wirtschaftlichen und politischen Schaden zu begrenzen, den die Kämpfe bei wichtigen Verbündeten der USA in Europa anrichten.

Und schließlich braucht ein weiterer Punkt bezüglich der US-Bilanz in kaum erwähnt werden, denn er wurde seit den 1950er-Jahren immer wieder von einer ganzen Reihe großer amerikanischer Denker, darunter Reinhold Niebuhr, Hans Morgenthau, George Kennan, Richard Hofstadter und C. Vann Woodward, vorgebracht. Es ist die Tendenz des politischen Establishments in den USA, sowohl die Bösartigkeit des aktuellen Feindes als auch die Gefahr, die er für die Vereinigten Staaten darstellt, vollkommen zu übertreiben.

Statt einer kommunistisch geführten nationalistischen Bewegung zur Wiedervereinigung Vietnams wurden die vietnamesischen Kommunisten als eine Kraft dargestellt, die eine Reihe von "Dominosteinen" zum Umfallen bringen könnte, die mit dem Sieg der Kommunisten in Frankreich und Mexiko enden würden.

Statt eines regionalen Diktators wurde Saddam Hussein zu einer nuklearen Bedrohung für das US-Heimatland. Die Taliban, eine rein afghanische Kraft, mussten angeblich in Afghanistan bekämpft werden, damit wir sie nicht in den Vereinigten Staaten bekämpfen müssen.

Und heute schaffen es US-Offizielle in ihrer Rhetorik, zwei angeblich geglaubte Überzeugungen miteinander zu verbinden, dass einerseits Russland so schwach ist, dass die Ukraine die russische Armee vollständig besiegen und den russischen Staat in Schlägen untergraben kann, und dass andererseits Moskau so stark ist, dass es, wenn es in der Ukraine nicht besiegt wird, eine tödliche Bedrohung für die Nato und die Freiheit in der ganzen Welt darstellen wird.

Wie Loren Baritz 1985 über die Auslöschung der Erinnerung an Vietnam in den Vereinigten Staaten schrieb:

Unsere Macht, Selbstgefälligkeit, Starrheit und Ignoranz haben uns davon abgehalten, unsere Vietnam-Erfahrung in unser Denken über uns selbst und die Welt einfließen zu lassen ... Der Zweifel ist aber notwendig, um überhaupt mit dem Denken zu beginnen. Wenn wir vom Zweifel befreit sind, sind wir auch vom Denken befreit.

Es wäre gut, wenn das US-Establishment und die Medien am Jahrestag und angesichts der noch größeren Gefahren in der Ukraine ernsthaft darüber nachdenken würden, was in Afghanistan geschehen ist.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).