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Wie der Ukraine-Krieg die Politik in Deutschland verändert hat

Themen des Tages: Der Globale Süden bereitet deutschen Diplomaten Kummer. Die Union möchte das 49-Euro-Ticket teurer machen. Und zum Jahrestag des Ukraine-Krieges gibt es in Berlin einen Protestmarathon.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. Die Reaktionen des Globalen Südens auf den Krieg helfen deutschen Diplomaten, die Welt zu verstehen.

2. Die Energiekrise hat die EU-Staaten bislang wohl rund 800 Milliarden Euro gekostet.

3. Und auf Seite 2 lesen Sie: Wie der Begriff "Querfront" den bequemen Vorwurf der "Schwurbelei" aus Pandemiezeiten ersetzt.

Doch der Reihe nach.

Krieg und Globaler Süden

Der Munich Security Report 2023 ist am Montag auf Englisch erschienen – mehrfach findet sich darin aber das deutsche Wort "Zeitenwende" [1], berichtet Telepolis-Redakteurin Claudia Wangerin. Schon im Vorwort von Christoph Heusgen, dem Leiter der bevorstehenden Münchner Sicherheitskonferenz (MSC), taucht es dreimal kursiv hervorgehoben auf.

In der aktuellen Ausgabe zeigt sich Heusgen enttäuscht über das Desinteresse im Globalen Südens an Sanktionen gegen Russland und Waffenhilfe für die Ukraine. Er spricht von "Ressentiments" in Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens "gegenüber der internationalen Ordnung", die – wie er zugibt – "ihren Interessen nicht immer gedient" habe.

Claudia Wangerin

49-Euro-Ticket und Union

Telepolis-Autor Wolfgang Pomrehn sieht das bundeseinheitliche 49-Euro-Ticket für Regionalbahnen und Öffentlichen Personennahverkehr in greifbarer Nähe [2]. Zwar seien noch immer nicht alle Einzelheiten geklärt, aber der Bundestag habe sich vergangene Woche in erster Lesung mit dem Neunten Gesetz zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes befasst, das die Grundlage für das Ticket legen soll. Die Einführung soll zum 1. Mai erfolgen.

Erwartungsgemäß sprach sich die Union gegen das Ticket aus, auch wenn es "prinzipiell eine gute Idee" sei. Die Umsetzung sei allerdings schlecht, so Michael Donth, der für seine Fraktion in der Plenardebatte am Donnerstag das Wort ergriff. Unter anderem findet er es zu günstig.

Wolfgang Pomrehn

Energie-Hilfen und ihre Kosten

Deutschland, die Europäische Union und andere Länder in Europa kämpfen mit hohen Energiepreisen, so Telepolis-Autor Bernd Müller. Um Haushalte und Unternehmen vor steigenden Energiepreisen zu schützen, hätten die Länder verschiedene Hilfsprogramme aufgelegt. Inzwischen summierten sich die Kosten dafür auf fast 800 Milliarden Euro. Müller weiter:

Das geht aus einer Analyse der Denkfabrik Bruegel hervor, die am Montag vorgestellt wurde. Demnach haben die EU-Länder seit September 2021 rund 681 Milliarden Euro bereitgestellt, damit die Energiekrise überstanden werden kann. Großbritannien gab weitere 103 Milliarden Euro aus und Norwegen 8,1 Milliarden Euro.

Debatte um Ukraine-Krieg: Mit Schwurblern und Querfront

In gut einer Woche jährt sich der russische Angriff auf die Ukraine zum ersten Mal. In Berlin - wie auch in anderen deutschen Städten - sind zum Jahrestag dieses andauernden Krieges zahlreiche Protestaktionen angemeldet.

Eine Veranstaltung dürfte besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen: Unter dem Motto "Für Verhandlungen statt Panzer" rufen die Publizistin Alice Schwarzer, die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und der Brigadegeneral a. D. Erich Vad zu einer Kundgebung am Brandenburger Tor auf.

Es wird ein Wettstreit der Proteste. Für den 24. Februar sind bei der Berliner Polizei neun Kundgebungen zum Thema Ukraine angemeldet. Die von Schwarzer, Wagenknecht und Vad für den Tag danach.

Unterstützung und Kritik sind groß. Während am Dienstagabend mehr als 430.000 Menschen ein "Manifest für Frieden [3]" der drei unterzeichneten, mit dem zur Kundgebung mobilisiert wird, hagelt es Kritik von politischen Gegnern.

An Pauschalisierungen mangelt es nicht. So spricht das von der SPD gegründete Infoportal Endstation Rechts im Kontext des Aufrufs, der sich gegen weitere Waffenlieferungen wendet, von "Querfront-Träumen" [4]. Eine Lokalzeitung formuliert es als Frage: "Wagenknecht-Schwarzer-Petition: Ist das wirklich schon die Querfront? [5]"

Von diesen Medien und vor allem in sozialen Netzwerken wird kritisch angemerkt, der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla habe den Aufruf unterzeichnet. Was vielen nicht aufzufallen scheint: Das Argument funktioniert auch umgekehrt. Der bekannteste Vertreter des ultrarechten Flügels der AfD, Björn Höcke, den man auf Basis einer gerichtlichen Entscheidung als Faschist bezeichnen darf [6], hat den Aufruf kritisiert - ebenso wie Außenministerin Annalena Baerbock und Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (beide Grüne) sowie der SPD-Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth.

Der Vorwurf der Querfront wird zunehmend inhaltslos und diffamierend verwendet. Er ersetzt in gewisser Weise die bequeme Anklage der "Schwurbelei" aus Pandemiezeiten. Obwohl: "Hinter dem Ruf nach Frieden verschanzen sich die Schwurbler", heißt es in der Anmeldung zu einer Kundgebung am kommenden Wochenende in der Bundeshauptstadt. Und aus der Antifa wurde angemeldet: "Gegen die Querfront aus Terfs, Friedensschwurbel, Nazis und Sonneborn #Lieber TransAlsTransatlantisch - #SektionInterGegenFrontQuer #echsen #AbstandFuerFrieden". Noch Fragen?

Spannender ist ein Twitter-Kommentar des Soziologen Oliver Nachtwey [7]. Er sieht in dem Bündnis Schwarz-Wagenknecht-Vad ein Indiz für die "Neuordnung des politischen Feldes". Doch wer ist hier Bock und wer Gärtner?

Stark veränderte Positionen von Parteien sind nichts Neues. Nachtwey und andere Kritiker des "Friedensmanifests" bleiben eine Antwort auf die Frage schuldig, in welchem Kontext diese neuen Allianzen – hier zum Ukraine-Krieg – entstehen. Nachtwey sieht "Renegaten" am Werk, die sich gegen alles wenden, "was sie neu als ‚linksliberalen Mainstream‘ wahrnehmen".

Nun wäre zu fragen, ob sich die Unterzeichner des Manifests als Teil dieses Linksliberalismus verstanden haben; das wäre eine zwingende Voraussetzung für Renegatentum. Zum anderen und fast noch drängender stellt sich die Frage, ob fast eine halbe Million Unterschriften und kritische Umfragewerte zur Ukraine-Politik nicht doch darauf hindeuten, dass sich der Mainstream selbst verändert hat und wir eine Krise der politischen Repräsentanz erleben.

Die Führung der Grünen hat mit ihrer Politik im Ukraine-Krieg die Verbindung zur westdeutschen Friedensbewegung völlig gekappt. Konkreter noch: Im Wahlkampf 2021 plakatierte die Partei: "Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete [8]".

Und die SPD? Ihr begegnen Betroffenen seit der Agenda 2010 mit Argwohn, wenn es darum geht, die Bedürftigen im Land zu schützen. Doch gerade die Verlierer der Schröder’schen Arbeitsmarktreformen leiden nun – ebenso wie die Mittelschicht – unter der kriegs- und sanktionsbedingten Wirtschaftskrise. Das ist ein Hauptgrund für die zunehmende Kriegsmüdigkeit.

Die Unterstützer der ukrainischen Regierung mögen das als unmoralisch abtun, aber die Menschen hierzulande entscheiden auf Basis ihrer Situation, Erfahrungen und Ängste.

Und womöglich sind die erfolgreichsten Renegaten gerade jene, die das Renegatentum nicht für sich beanspruchen. Und vielleicht ist das Wagenknecht-Schwarzer-Manifest mehr eine Reaktion auf die Veränderungen von Staat und etablierten Parteien.

Artikel zum Thema:

Christian Kliver: "Manifest für Frieden": Demonstration findet trotz Kritik statt [9]
Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht: "Manifest für Frieden" [10]
Claudia Wangerin: "Manifest für Frieden": Alles "Querfront", oder was? [11]


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7495964

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.telepolis.de/features/Nukleare-Zeitenwende-mit-Zaungaesten-aus-dem-Sueden-7495729.html
[2] https://www.telepolis.de/features/49-Euro-Ticket-Halbherzig-und-zu-teuer-7495100.html
[3] https://www.change.org/p/manifestfuerfrieden-aufstandfuerfrieden
[4] https://www.endstation-rechts.de/news/querfront-traeume-das-manifest-von-wagenknecht-und-schwarzer
[5] https://www.on-online.de/artikel/1338990/Wagenknecht-Schwarzer-Petition-Ist-das-wirklich-schon-die-Querfront
[6] https://www.rnd.de/politik/warum-bjorn-hocke-als-faschist-bezeichnet-werden-darf-T3X3A4NZFZHYPHUSFWNEPO6FPQ.html
[7] https://twitter.com/onachtwey/status/1624508793420759043
[8] https://twitter.com/Die_Gruenen/status/1440316635126980623
[9] https://www.telepolis.de/features/Manifest-fuer-Frieden-Demonstration-findet-trotz-Kritik-statt-7495811.html
[10] https://www.telepolis.de/features/Manifest-fuer-Frieden-7492523.html
[11] https://www.telepolis.de/features/Manifest-fuer-Frieden-Alles-Querfront-oder-was-7493473.html