Wie der Verfassungsschutz in die Meinungsfreiheit eingreift
Der deutsche Inlandsgeheimdienst wird zunehmend zum politischen Akteur. Macht sich Behördenchef Haldenwang einer strafbaren Nötigung im Amt schuldig? Und was hat das mit Orwells "1984" zu tun?
Stellen Sie sich vor, Sie werden Zeuge eines Verkehrsunfalls. Im anschließenden Strafprozess gegen einen Beteiligten, der auch für einen Laien erkennbar unschuldig ist, ist man als Zeuge verpflichtet, wahrheitsgemäß auszusagen; lügt man, droht eine Freiheitsstrafe. So weit, so einfach.
Man stelle sich nun weiter vor, der Staatsanwalt schärft dem Zeugen in der Hauptverhandlung ein, ja nur so auszusagen, dass er "keinen Beifall von der falschen Seite", also vom Angeklagten, bekommt. Wie wird sich der Zeuge verhalten?
Kommt das in Deutschland nicht vor? Doch. Das Phänomen nennt sich Zeitenwende, politisch verordnet von SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz am 27.02.2022 und erinnert in seinen Auswirkungen an Orwells Roman 1984, indem die sogenannte Zeitenwende "vom unprovozierten Krieg Russlands gegen die Ukraine" als einzig akzeptierte Wahrheit ausgeht.
In "1984" gibt es ein Wahrheitsministerium. Heute definieren das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und das ihm übergeordnete Innenministerium diese Wahrheit.
Beide haben zudem das Konzept der verfassungsschutzrelevanten Staatsdelegitimierung eingeführt, ein Begriff, der rechtsstaatlich höchst bedenklich ist und an zurückliegende, undemokratische Zeiten erinnert. "Der Verfassungsschutz aber verwechselt Kritik an der Regierung mit Kritik am Demokratie- und am Rechtsstaatsprinzip", sagt der emeritierte Professor für Öffentliches Recht Dietrich Murswiek. Doch zunächst gut 25 Jahre zurück:
Der hier als Metapher gebrauchte Verkehrsunfall spielt sich Mitte der 90er-Jahre ab und heißt Nato-Osterweiterung.
Seit mindestens 1997 gab es in den USA und in Deutschland viele prominente Stimmen, die vor diesem Schritt im Zusammenhang mit russischen Sicherheitsinteressen gewarnt haben: George F. Kennan (1997), Ted Galen Carpenter (1997), 50 namhafte US-Politiker, Militär-Angehörige, darunter der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert S. McNamara in einem Aufruf an den Präsidenten Bill Clinton (1997), William Burns, amtierender CIA-Direktor und ehemaliger Botschafter in Russland, 2008, John J. Maersheimer, 2014 und 2022, William Perry, 2015, Jack F. Matlock, 2022, Noam Chomsky, 2022, Peter-Scholl-Latour, 2014, Klaus von Dohnanyi, 2022, Günter Verheugen, 2023, Michael von der Schulenburg, 2023.
Jeffrey D. Sachs, Professor an der Columbia University, wird auf Telepolis am 29.05.2023 wie folgt zitiert:
In Wirklichkeit gab es zwei Hauptprovokationen der USA. Die Erste war die Absicht der USA, die Nato auf die Ukraine und Georgien auszudehnen, um Russland in der Schwarzmeerregion von Nato-Ländern (Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Türkei und Georgien, entgegen dem Uhrzeigersinn) einzukreisen. Die Zweite war die Rolle der USA bei der Installation eines russophoben Regimes in der Ukraine durch den gewaltsamen Sturz des prorussischen Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch, im Februar 2014. Der Krieg in der Ukraine, bei dem geschossen wurde, begann mit dem Sturz Janukowitschs vor neun Jahren, nicht im Februar 2022, wie uns die US-Regierung, die Nato und die G7-Führer glauben machen wollen.
Haldenwang und seine "Erzählungen"!
Das sind alles nachprüfbare Tatsachen, über die Beweis erhoben werden kann, durch Zeugenaussagen und Vorlage von Urkunden.
Wie ist jetzt in diesem Kontext die Aussage des Präsidenten des BfV Thomas Haldenwang am 22.05.2023 im „Morgenmagazin“ (ARD/ZDF) über die als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingeordnete AfD zu werten, die AfD verbreite die „Erzählung“, dass der Kreml den Angriffskrieg gegen die Ukraine auch deshalb führe, weil die eigenen Sicherheitsinteressen durch den Westen verletzt worden seien?
Und wieder in Bezug auf die AfD: "Indem aus Teilen dieser Partei heraus auch russische Narrative weitergegeben werden, weitergesteuert werden, trägt das dazu bei, dass Rechtsextremismus in Deutschland expandieren kann und auch in diesen Kreisen dann eben Putins Lied gesungen wird."
Dies erinnert in gewisser Weise an den Staatsanwalt in der Eingangsmetapher.
Jeffrey D. Sachs und allen anderen vorgenannten Persönlichkeiten in den USA und Deutschland singen also "Putins Lied" – und tragen demnach dazu bei, "dass Rechtsextremismus in Deutschland expandieren kann"? Das ist absurd.
Das BfV greift hier mit der beabsichtigten Meinungsunterdrückung in das Grundrecht der Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG ein. Denn die Äußerung Haldenwangs hat die Qualität einer polizeilichen Warnung, die präventiv auf die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung als Beitrag zur Ausbreitung des Rechtsextremismus in Deutschland gerichtet ist.
Dies ist dem BfV jedoch gesetzlich ausdrücklich untersagt, es greift damit unzulässig in die Polizei- und Ordnungshoheit der Länder ein.
Die Warnung ist daher bereits aus formellen Gründen rechtswidrig, wäre es aber auch aus materiellen Gründen, weil es hier an der erforderlichen Ermächtigungsgrundlage für einen derartigen Eingriff in das Grundrecht der Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG fehlt.
Zudem erweist sich die Warnung für einen verständigen Adressaten zugleich als Drohung mit einem empfindlichen Übel: Wer sich differenziert mit der Vorgeschichte des Ukraine-Krieges auseinandersetzt, riskiert eine Beobachtung durch das BfV und gerät dort in den Verdacht, der AfD und dem Rechtsextremismus nahezustehen. Das schüchtert viele ein.
Besonders relevant ist dabei, dass das BfV bei Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für rechtsextremistische Bestrebungen gesetzlich zur Beobachtung verpflichtet ist und keinen Ermessensspielraum mehr hat, unabhängig von der Frage, ob die oben genannte Meinung überhaupt etwas mit Rechtsextremismus zu tun hat.
Selbst nach der Definition von Rechtsextremismus, wie sie im Kompendium des BfV verwendet wird, lässt sich unschwer feststellen, dass dies keineswegs der Fall ist. Die Androhung eines empfindlichen Übels und die rechtswidrige Anmaßung polizeilicher Befugnisse, die dem BfV nicht zustehen, begründen zumindest den Anfangsverdacht, dass sich sein Präsident einer strafbaren Nötigung im Amt schuldig gemacht haben könnte.
Medialer Mainstream spielt das Spiel mit
Und wie reagieren die deutschen Massenmedien, der Mainstream, mehrheitlich auf diese Ungeheuerlichkeit aus demokratischer und rechtsstaatlicher Sicht? Mit Schlagzeilen wie: Verfassungsschutz: AfD verbreitet mit russische Narrative" oder "AfD verbreitet 'Putins Lied' in Deutschland".
Keine noch so leise Kritik wird hier geäußert. Es wird nur eins zu eins wiedergegeben, was Haldenwang von sich gegeben hat. Um überhaupt einmal in den Genuss zu kommen, Kritisches über Haldenwang und den Verfassungsschutz im Mainstream zu lesen, muss man schon über die Grenze in die Schweiz gehen.
So ist ein Gastkommentar in der NZZ vom 19.08.2021 überschrieben mit: „Der Bundesverfassungsschutz lässt sich politisch instrumentalisieren“.
Und am 22.06.2023 ist sogar zu lesen: „Der Verfassungsschutz hilft der AfD, indem er vorgibt, das Gegenteil zu tun. Der deutsche Inlandsgeheimdienst wird immer mehr zum politischen Akteur.“
Es gibt in der Tat viele Zeitgenossen, die behaupten, "1984" gelesen zu haben, aber keine Parallelen zur heutigen Situation erkennen können. Vielleicht liegt es an Lord Ponsonby, bzw. an den von ihm 1928 aufgestellten zehn Prinzipien der Kriegspropaganda, von denen die Zehnte lautet: "Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter".
Die Historikerin Anne Morelli zeichnet in ihrem mediensoziologischen Werk "Die Prinzipien der Kriegspropaganda" Ponsonbys "Gebote" nach und schlägt hier unter anderem einen Bogen vom Jugoslawienkrieg über den Krieg in Afghanistan bis zum Irak-Krieg. Sie schreibt:
"Schon Lord Ponsonby hatte in seinem Buch erwähnt, dass jeder Versuch, die Berichte der Propagandadienste anzuzweifeln, sofort als mangelnder Patriotismus, ja sogar als Verrat betrachtet wird. […] Viele von denen, die gegenüber der offiziellen Propaganda im Jugoslawienkrieg Vorbehalte äußerten, wurden in den Schmutz gezogen. Jedes Hinterfragen der Fakten galt als Beweis für Komplizenschaft mit dem Feind."
Viele Mainstream-Medien arbeiten nicht mehr journalistisch als sogenannte vierte Gewalt, sondern agieren politisch-propagandistisch und machen sich damit zu Komplizen der Meinungsunterdrückung. „Wenn sich der Journalismus in den Dienst der Politik für die 'richtigen' Ziele stellt, haben wir das Gegenteil von Demokratie“, so noch einmal die NZZ am 02.07.2023 in Bezug auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland.
Und was bedeutet das alles für die aktuelle Situation jetzt und hier in Deutschland, wenn durch das BfV eine politisch unliebsame faktenbasierte Mindermeinung rechtswidrig unterdrückt und unberechtigterweise völlig zusammenhanglos in eine rechte, AfD- und Rechtsextremismus-Ecke gedrängt wird? Wird hier nicht das BfV selbst zum Verdachtsfall?
Nach alledem erscheint die vom BfV im Rahmen der Zeitenwende vorgenommene Einordnung als ein bloßes staatliches, medial gestütztes Konstrukt.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass hier - worauf Morelli zu Recht hinweist - der Versuch unternommen werden soll, die von Politik und Mainstream-Medien vertretene herrschende politische Meinung jedem Bürger der Bundesrepublik Deutschland als die einzig richtige ‚überzustülpen‘, jede Kritik an dieser Meinung fernzuhalten, keine andere Meinung zuzulassen, Gegner dieser Meinung zu diskriminieren, auszugrenzen und nach Lord Ponsonby als "Verräter" zu brandmarken.
Dem hält das Bundesverfassungsgericht entgegen:
In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, […], wird die Meinungsfreiheit seit langem zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens gezählt. Sie gilt als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit und als eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt, welches für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend ist; denn sie erst ermöglicht die ständige geistige Auseinandersetzung und den Kampf der Meinungen als Lebenselement dieser Staatsform. [...]
An diese Erwägungen knüpft das spätere Urteil […] an und betont, in einer Demokratie müsse die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt verlaufen; das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der politischen Willensbildung äußere sich nicht nur in der Stimmabgabe bei Wahlen, sondern auch in der Einflußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen Meinungsbildung, die sich in einem demokratischen Staatswesen frei, offen, unreglementiert und grundsätzlich "staatsfrei" vollziehen müsse.
Ob die politisch Verantwortlichen diesen Beschluss kennen?
Peter Schindler, Rechtsanwalt und Unternehmensberater (Change- und Projekt-Management), ehemals Dezernent für Personalentwicklung und -Controlling an der Universität zu Köln sowie in leitenden Managementpositionen im Personal- und Organisationsbereich verschiedener nationaler und internationaler Konzernunternehmen. Rechtswissenschaftliches Studium in Saarbrücken und Bonn, Referendariat am Landgericht Köln. Bisherige Veröffentlichungen zu den Themen Komplexitätsmanagement und Personalentwicklung im öffentlichen Dienst.
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