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Wie der Viktor Orbán die EU-Spitze düpiert – und die ihn nun kaltstellen will

Wird nichts mehr: Orbán und die EU. Bild: European Union 2019

Kaffee-Diplomatie und Finanz-Fiasko: So funktioniert das Spiel des Ungarn. Warum die Krise der EU hausgemacht ist. Und Brüssel mehr Sportsgeist bräuchte. Ein Telepolis-Leitartikel.

Dass es der EU-Spitze ein einigem fehlt, vor allem aber an Sportsgeist, ahnt man nicht erst, wenn man sich in die sich in die Lage des so heldenhaft widerständigen Wolfsrüden GW950m [1] versetzt, den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Namen ihrer sieben Kinder und ihres Ponys Dolly tot sehen wollte.

Wir wissen es vor allem seit Victor Orbáns Coup beim letzten Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs.

Was GW950m jägerisch für den Von-der-Leyen-Clan bei Hannover war, ist Viktor Orbán auf politischer Ebene für die EU-Technokraten in Brüssel. In den Chefetagen der EU, schreibt die britisch-libanesische Journalistin und Chefredakteurin der britischen Financial Times [2], Roula Khalaf, herrsche Ratlosigkeit über den ungarischen Ministerpräsidenten, der mit seiner Blockade von Finanzhilfen für die Ukraine die Beziehungen zur EU belaste.

Orbán in Brüssel: Erst einlenken, dann zuschlagen

Beim EU-Gipfel in Brüssel lenkte Orbán überraschend ein, um kurz darauf ein 50 Milliarden Euro schweres Finanzpaket zu blockieren. Dieses Hin und Her habe selbst erfahrene Partner überrascht, heißt es in ihren Financial-Times-Kommentar.

Kollegin Khalaf formulierte das recht euphemistisch.

Man mag Viktor Orbán mögen oder nicht – die meisten von uns mögen ihn, behaupte ich, nicht –, aber so mancher Beobachter des Brüsseler Politikbetriebs kann sich einer klammheimlichen Freude wohl nicht erwehren, wenn er daran denkt, was sich vor wenigen Tagen abgespielt hat.

Da schickte Olaf Scholz, dieser glück- und erfolglose deutsche Bankerfreund in seiner Noch-Funktion als Bundeskanzler Viktor Orbán zum Kaffeetrinken aus dem Raum, und ließ sich dafür feiern. Ausgetrickst habe der Hanseat den Gulasch-Autokraten, hieß es.

EU-Verhandlungen für Ukraine wohl folgenlos

Doch nicht nur in den Berliner Regierungs- und Hamburger Redaktionsstuben (und umgekehrt) musste man bald merken, dass es eher das Geschehen am Kaffeetisch war, das politisches Gewicht entfaltete und seither und wohl auch künftig die Agenda bestimmt.

Viktor Orbán jedenfalls ließ, wie auch hier berichtet, über die wohl folgenlose Entscheidung abstimmen, EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen. Folgenlos unter anderem deshalb, weil selbst Frankreichs Präsident Emmanuel Macron diesen Schritt als politische Entscheidung bezeichnet und damit die Hintertüren und gleich auch alle Fenster für eine Exit-Strategie der EU flügelweit geöffnet hält.

Dann aber legte der Ungar sein Veto gegen die eigentliche, brisantere Entscheidung ein, nämlich die geplante Überweisung über 50 Milliarden Euro Finanz- und Militärhilfe für Kiew. Und das in den frühen Morgenstunden. Und es saß.

Warum die EU eine schlechte Verliererin ist

Allein: Die EU-Spitze und ihre Staats- und Regierungschefs sind schlechte Verlierer. In den Augen vieler ist Brüssel eben ein wenig wie der blöde Onkel bei den Familienfeiern der Kindheit, dem man beim Mikado-Spiel zwei der wertvollen blau-rot-blauen Stäbchen wegnehmen konnte und der dann beim bevorstehenden Siegeszug an der Tischplatte rüttelte.

Khalaf jedenfalls schreibt in der Financial Times, Orbáns rücksichtslose Haltung in einer zentralen EU-Sicherheitsfrage habe Entsetzen ausgelöst. Obwohl er seit 13 Jahren politisches Kapital aus seiner Gegnerschaft zur EU geschlagen habe, seien seine jüngsten Aktionen selbst für Kenner überraschend gewesen.

Die EU versuche nun, seine Macht zu begrenzen, doch Orbán sei vielmehr auf Geld fixiert. Seine Forderung nach den eingefrorenen Milliarden habe er erst spät enthüllt, und jetzt versuche die EU, ihn mit den "vollen Kosten" seiner Isolation zur Vernunft zu bringen. Rumms, voll gegen die Tischkante!

Brüssel laviert: erst zehn Milliarden, dann Isolation

Dabei hatte die EU-Kommission zunächst eine andere Spielstrategie verfolgt. Einen Tag bevor sich die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel trafen, stimmte die Kommission der Freigabe von zehn Milliarden Euro eingefrorener Gelder für Ungarn zu.

Sie argumentierte, Budapest habe ja schließlich Reformen umgesetzt, um die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken. Es war ein offensichtliches politisches Zugeständnis, das signalisieren sollte: Wenn du mitspielst, legen wir unsere Regeln großzügig aus. So zumindest wurde es im EU-Parlament verstanden, von wo es Proteste hagelte.

Orbán fühlte sich bestätigt, er, der noch am Nachmittag des Showdown-Tages mit einer siegessicher lächelnden Ursula von der Leyen zusammensaß, mit Pokerface, wie wir inzwischen wissen. Jetzt will er auch die restlichen 20 Milliarden eingefrorener EU-Gelder für sein Land und droht mit einer langen Ukraine-Blockade.

Was Artikel 7 bringen soll

Die EU muss entscheiden, ob sie nachgibt oder den auf Sanktionen angerichteten "Artikel 7" aktiviert. Der entsprechende EU-Rechtsstaatsmechanismus wurde 2014 eingeführt, "um die Werte der Europäischen Union zu schützen", wie es heißt.

Im Jahr 2021 trat ein neuer Mechanismus in Kraft, der Verstöße gegen die Werte der EU finanziell bestrafen kann, seit 2022 mit Absolution des Europäischen Gerichtshofs.

Das Verfahren nach Artikel 7, das 1997 mit dem Vertrag von Amsterdam eingeführt worden war, kann feststellen, ob eine Gefahr oder bereits eine schwerwiegende Verletzung dieser Werte vorliegt, wobei als schwerste Sanktion die Aussetzung der Stimmrechte des Mitgliedstaates möglich ist.

Was die EU jetzt erklären muss (und kaum kann)

Das Verfahren nach Artikel 7 wurde 2017 erstmals gegen Polen wegen Bedenken hinsichtlich der Justizreformen eingeleitet. Wenn es nun gegen Ungarn in Stellung gebracht wird, muss die EU-Kommission natürlich erklären, wie Viktor Orbáns Reich erst zu einem Drittel frei sprechen konnte, um es dann mit der vollen Wucht der EU-Verträge unter Druck zu setzen.

Nein, hier geht es nicht um Werte, sondern um Ziele. Nur ist niemand in Brüssel oder Berlin mutig genug, zuzugeben, was alle sehen, was auf der Hand liegt. Ein Demokrat und Rechtsstaatler würde sagen: Entweder Orbán verstößt gegen demokratische Regeln und wird sanktioniert, oder er tut es nicht.

Seinen Schachzug in der Ukraine aber indirekt von Hilfsgeldern abhängig zu machen, untergräbt die angeblich wertegeleitete EU.

So führt Viktor Orbán die EU-Spitze vor

Man kann sogar sagen: Viktor Orbán nutzt die zunehmende Scheinheiligkeit Brüssels, um das krisengeschüttelte europäische Modell vorzuführen. Ausgerechnet Orbán! Wobei gerade wir Deutschen mit der AfD ein solches Paradoxon auf nationaler Ebene haben.

Das eher Tragische ist, dass das alles geeignet ist, den von vielen und oft geleugneten Niedergang der EU zu beschleunigen. Und der liegt nicht nur an Orbán, sondern vor allem an der Union selbst – und ihrer ethischen und demokratischen Krise.

Mitte der Neunzigerjahre waren es Wolfgang Schäuble und die Union, die angesichts solcher Konflikte ein begrenztes Wachstum der Union forderten. Die europäische Einigung, so hieß es 1994 in einem Positionspapier, stehe an einem entscheidenden Scheideweg.

Warum ein Unions-Vorstoß 1994 falsch war – und doch visionär war

Ohne rasche Lösung der zugrundeliegenden Probleme bestehe die Gefahr, dass sich die Union entgegen den Zielen des Maastricht-Vertrages unaufhaltsam zu einem losen Verbund mit verschiedenen Untergruppierungen entwickle. Wörtlich hieß es:

Mit einer solchen "gehobenen" Freihandelszone wären die existenziellen Probleme der europäischen Gesellschaften und ihre äußeren Herausforderungen nicht zu bewältigen.

Überlegungen zur Europapolitik [3], 1994

Institutionen, die ursprünglich für sechs Mitglieder geschaffen worden seien, müssten bereits zwölf "und wahrscheinlich bald 16 Mitglieder" tragen, hieß es damals.

Die Unionsspitze, die es damals bekanntlich nicht nur mit Parteispenden, sondern auch mit der Rechtsstaatlichkeit Europas nicht genau nahm, zielte nicht auf ein größeres, offenes und demokratisches Europa ab. Aber 20 Jahre später muss man feststellen, dass die Warnungen im Kern Substanz hatten.

Scholz und Macron an der Schrottpresse

Bald könnten wir alle in einer Europäischen Union mit 30 und mehr Staaten leben, darunter zerstörte Länder wie die Ukraine und andere gescheiterte Staaten irgendwo in den Weiten gen Zentralasien.

Scholz und Macron handeln kopflos. Und sie klammern sich an Versprechen, nein, irrationale Hoffnungen. Sehen wir es mal so: Ihr in die Jahre gekommener SLK steckt mit gut 2,50 Meter des Aufbaus in der Schrottpresse. Und jetzt soll er auf Knopfdruck vollends hineingezogen werden.

Die Hoffnung und das Versprechen: Am Ende kommt ein Neuwagen heraus, mit Super-Karosserie, Hybridmotor und Platz für die ganze neue Großfamilie.

Aber in der realen Welt wird sich auf absehbare Zeit wohl nur Viktor Orbán einen Neuwagen leisten können.

Geld hat er dann ja vielleicht genug.


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https://www.heise.de/-9577923

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Totes-Pony-von-Ursula-von-der-Leyen-Wolf-zum-Abschuss-frei,wolf4694.html
[2] https://www.ft.com/content/96d15e1a-4e23-4013-a5ba-8234f993b8b4
[3] https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=5a11d9f3-da65-432c-72e7-b321ed3a4bb7&groupId=252038