Wie die Armenier in Bergkarabach die Schockwellen des Ukraine-Kriegs spüren

Krankenhaus in Bergkarabachs Hauptstadt Stepanakert. Verwundete werden während des Angriffs eingeliefert. Bild: Screenshot Nagorno Karabakh Observer
Erst Blockade, dann Großangriff, jetzt Anschluss an Aserbaidschan. Der Südkaukasus geriet zunehmend ins geopolitische Vakuum. Über russische Schwäche und westliche Widersprüche.
Es scheint so, dass die Regierung von Aserbaidschan die Gelegenheit nutzen konnte, um mit militärischer Gewalt den Streit um Bergkarabach für sich zu entscheiden.
Der Präsident Ilham Aliyev erklärte gestern den Sieg über die ethnischen Armenierinnen und Armenier in der Kaukasusregion. Man habe das Gebiet komplett unter seine Kontrolle gebracht. Die Behörden in Bergkarabach stimmten einer Waffenruhe zu, Gespräche über eine "Wiedereingliederung" der umkämpften Region in das Staatsgebiet Aserbaidschans sollen bereits begonnen haben.
Die Offensive kommt nicht ganz überraschend. Während die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Moskaus Einmarsch in der Ukraine gerichtet war, blockierte Aserbaidschan humanitäre Hilfe für rund 120.000 ethnische Armenier in der umstrittenen Enklave. Die Blockade dauerte mehr als acht Monaten und wurde in letzter Zeit noch verschärft. Eine UN-Expertengruppe forderte Baku auf, die Zugänge wieder zu öffnen, um die "humanitäre Krise" zu beenden. Doch es kam anders.
Am Dienstag startete das aserbaidschanische Militär eine "lokale Anti-Terror-Operation" gegen Bergkarabach, um die "verfassungsmäßige Ordnung der Republik Aserbaidschan wiederherzustellen". Angesichts der aserbaidschanischen Truppenbewegungen in der Nähe von Bergkarabach, der verstärkten Lufttransporte aus Israel, von wo aus Aserbaidschan mit einem Großteil seiner Waffen beliefert wird, und Vorbereitungen von Gegenmaßnahmen der armenischen Streitkräfte im Zuge der Blockade des Korridors von Latschin, der von Bergkarabach nach Armenien führt, wurde ein solcher Angriff lange erwartet.
Bei dem jüngsten Großangriff wurden Berichten zufolge mindestens 200 Menschen getötet und 400 verletzt. Die 2.000 russischen Friedenstruppen, die seit den letzten Kämpfen im Jahr 2020 dort stationiert sind, zeigten sich nicht mehr in der Lage, dem wachsenden aserbaidschanischen Druck auf die belagerte armenische Bevölkerung etwas entgegenzusetzen und das zu schützen, was nach dem erfolgreichen aserbaidschanischen Angriff von 2020 vom armenisch geprägten Bergkarabach übrig geblieben war.
Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs und dem enormen Einsatz sowie den Verlusten der russischen Streitkräfte scheint Moskau die militärische Fähigkeit, in der Region einzugreifen, weitgehend abhandengekommen zu sein. Dieses "window of opportunity" scheint Baku erkannt und genutzt zu haben. Nun wird befürchtet, dass es zu "ethnischen Säuberungen" kommen könnte, während jetzt schon Tausende Armenier aus der Region flüchten.
In Armenien wächst derweil der Druck auf den Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan, der erklärte, dass die russischen Truppen für die Sicherheit in dem Gebiet verantwortlich seien. Armenische Regierungsvertreter haben wiederholt erklärt, dass es keine armenischen Militäreinheiten in Bergkarabach gebe und Armenien nicht in den Konflikt eingreifen werde.
Paschinjan wird nun von wütenden Demonstrierenden in der Hauptstadt Eriwan vorgeworfen, den ethnischen Armenier:innen in Bergkarabach nicht zu Hilfe zu kommen. Manche nennen ihn einen "Verräter". Bei den Protesten setzte die Polizei Blendgranaten ein.
Der Konflikt um Bergkarabach hat weit zurückreichende Wurzeln. Schon vor der Sowjetzeit kam es zu Zusammenstößen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern (bzw. Aseris, eine turksprachige Ethnie in Westasien). Wie Anatol Lieven vom Quincy Institute in den USA darlegt, war es Moskau bis in die 1980er-Jahre, das den ethnischen Konflikt unter Kontrolle zu halten versuchte und einen Angriff des Nato-Mitglieds Türkei gegen Armenien, um den sogenannten "aserbaidschanischen Türken" zu helfen, abschrecken konnte.
Die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken führten Anfang der 1990er-Jahre den Ersten Bergkarabach-Krieg, nachdem die dort beheimatete armenische Mehrheit die Region als von Aserbaidschan unabhängig erklärt hatte. Der Krieg zwischen 1992 und 1994 forderte Zehntausende Tote und vertrieb Hunderttausende. Er endete mit einem Sieg Armeniens.
Unter russischer Vermittlung erhielt Armenien schließlich die Kontrolle über Bergkarabach. Die Vereinten Nationen sehen Bergkarabach jedoch weiterhin als Teil von Aserbaidschan an.
Die komplexe geopolitische Lage im Südkaukasus
Zweieinhalb Jahrzehnte wurde dann erfolglos verhandelt, unter der Schirmherrschaft der sogenannten Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), in der die USA, Frankreich und Russland gemeinsam den Vorsitz führen. Mit der militärischen Unterstützung der Türkei und Waffenlieferungen aus Israel startete Baku 2020 schließlich den Großangriff zur Rückeroberung des umstrittenen Gebiets.
Die geopolitische Lage rund um den Bergkarabach-Konflikt ist komplex. Seit Langem konkurrieren die Türkei und Russland im Südkaukasus um regionale Hegemonie. Nach dem Einmarsch in die Ukraine suchte Moskau jedoch verstärkt die diplomatische Nähe zu Istanbul, als Gegengewicht zum Westen.
Das verkleinerte den Handlungsspielraum Russlands im Konfliktgebiet. Schließlich kam man seinen Verpflichtungen im Waffenstillstand, der auf den 2020-Krieg folgte, nicht mehr nach, worauf sich die armenische Regierung zunehmend von Moskau distanzierte. Sie geht nun auf die Suche nach neuen Sicherheitspartnern. Kurz vor der militärischen Eskalation hielten armenische Truppen gemeinsame Manöver mit der US-Armee in Armenien ab.
Die USA und die EU haben den jüngsten Angriff Aserbaidschans zwar verurteilt und fordern die aserbaidschanische Regierung auf, den Schutz der Armenier in Bergkarabach zu garantieren. Aber wie Russland, bemüht, die Spannungen zwischen Armenien, der Türkei und Aserbaidschan für die eigenen Interessen auszubalancieren, ist der Westen tief verstrickt in sich widersprechenden Einstellungen.
Bergkarabachs autonomen Status können die USA und die EU-Länder international schwerlich als rechtmäßig anerkennen, was auch merkwürdig anmuten würde angesichts der Verurteilung der Loslösung der Krim von der Ukraine nach Ausbruch der Ukraine-Krise 2014. Zudem will man den Nato-Partner Türkei nicht verprellen.
Und was Aserbaidschan angeht, sind die Gas- und Öllieferungen für die EU zu wichtig, um Baku gegen sich aufzubringen (siehe auch die Aserbaidschan-Connection in der CDU und bei europäischen Politikern), während in den westlichen Öffentlichkeiten aus verschiedenen Gründen mit den Armeniern sympathisiert wird und die Aliyev-Dynastie, eine Form der Erb-Diktatur, wegen seiner politischen Repression immer wieder in den Fokus der Kritik gerät. Anatol Lieven zieht daher den Schluss:
Gefangen zwischen diesen widersprüchlichen, aber tief verwurzelten Impulsen sind die Vereinigten Staaten und Europa wahrscheinlich strukturell nicht in der Lage, eine kohärente und tragfähige Strategie für den Kaukasus zu entwickeln, geschweige denn die Ressourcen und den Willen zu mobilisieren, die für ein entschlossenes Eingreifen in der Region erforderlich sind.
Und Russland fällt als Sicherheitsgarant auf absehbare Zeit wohl aus. In dieser Hinsicht bekommen die Armenier im Südkaukasus auch die Schockwellen des Ukraine-Kriegs zu spüren.